Liebe Leser,

so langsam scheint sich die Situation mit Corona wieder ein wenig zu normalisieren, und das zeigt sich auch an der Berichterstattung zum Thema Pädophilie. Während zur Anfangszeit der Krise es kaum neue Medienberichte zum Thema gab, werden jetzt wieder häufiger Artikel veröffentlicht, in denen es direkt oder indirekt um das Thema geht. Daher werde ich auch meine Sonntagskiste von nun an wieder im wöchentlichen Turnus veröffentlichen. Diese Woche habe ich einige besonders interessante Fundstücke mitgebracht, die ich etwas ausführlicher diskutieren möchte. Zunächst einmal habe ich schlechte Nachrichten für alle, die von dem Film "Kopfplatzen" inzwischen mehr als genug gehört haben, denn einen Artikel über den Film habe ich auch diesmal mitgebracht, den ich doch noch eines Kommentars würdig halte. Davon abgesehen habe ich Artikel über einen Mordfall in Pforzheim, Inhalts-Prüfer bei facebook und einen besonders verstörenden Missbrauchsfall in Österreich dabei.

1. Pädophile sind nicht gesellschaftsfähig?

Auf dem Online-Angebot der Rheinischen Post ist ein Artikel über den Film "Kopfplatzen" veröffentlicht worden. Wie die meisten anderen Kritiken gibt auch dieser Artikel dem Film eine sehr positive Beschreibung und lobt ihn dafür, wie "mutig" er sich "mit einem Tabu-Thema unserer Gesellschaft" beschäftigt. Auf Kinder im Herzen haben wir uns sehr ausführlich mit dem Film beschäftigt und sind alle zu der Einschätzung gekommen, dass der Film im Prinzip nur altbekannte Klischees nacherzählt und damit kaum als mutig zu bezeichnen ist, und darüber hinaus kein realistisches Porträt davon zeichnet, wie es ist pädophil zu sein (siehe auch unsere Themenseite zu dem Film). Aber na ja, warum sollte man uns als pädophile Menschen mal dazu befragen, wenn man stattdessen einfach selbst gemachten Fantasiegebilde als Realität deklarieren kann?

Wie dem auch sei, eigentlich möchte ich auf folgenden Satz des Artikels heraus, den ich für besonders erwähnenswert (im negativen Sinne) halte:

Regisseur Savaş Ceviz zeigt, dass Pädophilie keine Frage von Schuld ist, sondern eine tragische sexuelle Orientierung, die nicht gesellschaftsfähig ist und im schlimmsten Fall Kinder zu Opfern macht.

Pädophilie ist also nicht gesellschaftsfähig? Pädophile sind also nichts anderes als eine permanente Gefahr, die "im schlimmsten Fall Kinder zu Opfern" machen und deswegen keinen Platz in der Gesellschaft haben? 

Was ist mit den hundert tausenden pädophilen Menschen, die alleine in Deutschland leben – mitten in der Gesellschaft? 

Ceviz hat ja bereits unter fadenscheinigen Begründungen abgelehnt, mit uns zu reden. Was schade ist, denn ich hätte eigentlich nur noch eine konkrete Frage: was sollen wir, wenn wir ja nicht gesellschaftsfähig und gefährlich sind, denn nun tun? Der Film zeigt nur, was nicht funktioniert: Sich anderen anzuvertrauen geht nicht, weil diese dann einen verlassen werden; Therapeuten können, selbst wenn sie einen nicht direkt wegschicken, auch keine echten Perspektiven und Hilfen anbieten; und Medikamente bringen auch nicht so wirklich was. Was sollen wir also tun? Was kann helfen? Sollen wir als nicht gesellschaftsfähige Menschen außerhalb der Gesellschaft leben wie es einst Aussätzige mussten, oder in abgelegenen Ortschaften, wie es diese in den USA schon für Sexualstraftäter gibt? Oder sollen wir doch besser direkt Suizid begehen?

2. Mord und Pädophilie

In der Verhandlung um einen ermordeten Schmuckhändler aus Pforzheim ist auch das Thema Pädophilie zu sprechen gekommen. Konkret wurde von einer Sachverständigen eine pädophile Neigung bei dem Angeklagten vermutet. Diese Vermutung begründet sich vor allem darauf, dass der Angeklagte in den USA, wo er früher gelebt hatte, zu 15 Jahren Haft wegen Besitz von Kinderpornographie verurteilt wurde, und bei der Festnahme in dem aktuellen Mordfall wieder kinderpornographische Schriften auf seinem Rechner sichergestellt wurden. Der Angeklagte selber verneint, pädophile Interessen zu haben.

Ich will gar nicht groß diskutieren, ob der Angeklagte jetzt pädophil ist oder nicht, denn aus der Ferne wird man das eh nicht beurteilen können. Stutzig gemacht hat mich beim Durchlesen eines Artikels der Pforzheimer Zeitung zu dem Prozess allerdings eine Aussage der psychiatrischen Sachverständigen:

Zu dieser [pädophilen] Störung passe auch, dass der Angeklagte mehrfach auf Plattformen unterwegs gewesen sei und dort Beherrschungs- und Unterwerfungsbeziehungen suchte.

Nun kann es gut sein, dass der Satz aus dem Kontext gerissen ist oder falsch wieder gegeben wurde (man beachte, dass es sich nur um ein indirektes Zitat handelt). Dennoch scheint dieser Aussage eine grundlegend falsche, wenn auch weit verbreitete Vorstellung von Pädophilie zu Grunde zu liegen: nämlich dass es bei Pädophilie um Dominanz, Kontrolle und Beherrschung geht. 

Auf den ersten Blick ergibt das ja durchaus Sinn: Kinder sind schwächer und Erwachsenen in der Regel körperlich sowie kognitiv unterlegen, daher ist es nicht allzu weit hergeholt zu vermuten, dass mit einer Neigung zu Kindern auch eine Neigung zu dieser Machtdifferenz einhergeht. Das gibt es natürlich auch, macht in der Regel aber eine Pädophilie gerade nicht aus. Meistens wünschen sich pädophile Menschen genauso eine Beziehung auf Augenhöhe, wie nicht-pädophile Menschen auch. Diejenigen, die Straftaten an Kinder verüben, weil sie dieses Dominanzverhältnis ausnutzen wollen, sind meistens gerade keine pädophilen Täter, sondern Ersatzhandlungstäter. 

Kurz gesagt: wenn der Angeklagte auf der Suche nach Beherrschungs- und Unterwerfungsbeziehungen war, ist das gerade kein Indiz für eine pädophile Neigung. Sollte die psychiatrische Sachverständige dies aber tatsächlich als Hinweis für eine vorliegende Pädophilie genommen haben, ist das wie ich finde ziemlich bedenklich, da es auf einige wesentliche Wissenslücken bei denjenigen hindeuten würde, deren Urteil wesentlich das Schicksal anderer Menschen bestimmt. 

3. Von denen, die Kinderpornographie sehen müssen

Dass die Erstellung und Verbreitung von Kinderpornographie massive psychische Folgen für die dargestellten Opfer haben kann, ist unmittelbar ersichtlich. Abgesehen von den Folgen des Missbrauchs, der stattfinden musste, damit die Materialien überhaupt erst existieren können, beschreiben viele Opfer, dass sie zusätzlich unter dem Wissen leiden, dass die Aufnahmen ihres Missbrauchs weiterhin die Runde macht und angesehen wird und dies für sie den Missbrauch auch nach Jahren immer weiter am Leben erhält. 

Aber die Existenz von Kinderpornographie hat auch noch weiter reichende negative psychische Auswirkungen, an die man zunächst vielleicht gar nicht denkt. Kinderpornographie wird überall dort online ausgetauscht, wo hinreichend viele Menschen zusammen kommen. Wenn dies auf den großen sozialen Plattformen wie etwa facebook geschieht, dann ist facebook in der Verantwortung, diese Inhalte von ihrer Plattform zu entfernen. Und auch wenn Algorithmen, die solche Inhalte automatisch erkennen können, immer besser und zuverlässiger werden, so bieten sie doch keine 100%-ige Treffsicherheit. Kurz gesagt: Es braucht immer noch Menschen, die manuell Inhalte sichten und herausfiltern, was gegen die Inhaltsrichtlinien verstößt oder schlicht gesetzeswidrig ist. 

Diese Content-Prüfer sind massenhaft extremen Inhalten ausgeliefert. Neben Kinderpornographie schließt das auch Gewalt, Folter, Terrorakte, Tierquälerei und ähnliches ein. Das wiederum hat massive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Prüfer, die teilweise von starken Einschränkungen in ihrem Alltag dadurch berichten. Problematisch ist das vor allem, da die Anbieter dieses Problem bisher kaum ernst genommen haben, und ihre Mitarbeiter ohne große Vorbereitung oder Begleitung unter häufig kritisierten Arbeitsbedingungen vor diese Inhalte gesetzt haben. Das findet auch ein Zusammenschluss von mehreren facebook-Moderatoren, die gegen ihren Arbeitgeber vor Gericht gezogen sind und dort jetzt eine Entschädigungszahlung von insgesamt 52 Millionen Dollar erreicht haben. 

4. Sexualität und Schuld

In den nächsten Tagen beginnt in Österreich ein Prozess gegen einen Urologen, der angeklagt wird über Jahre hinweg 109 Jungen missbrauch zu haben. Dem Angeklagten wurde von einem Sachverständigen eine pädophile Störung diagnostiziert, 40 der missbrauchten Jungs waren jünger als 14.

Diese diagnostizierte Pädophilie wird in so ziemlich jeden Bericht über den Fall erwähnt. Stellenweise wird der angeklagte Arzt einfach als "der Pädophile" bezeichnet. Durch derartige Formulierungen wird aber impliziert, dass die Pädophilie ein Faktor ist, der zu den Taten geführt hat – und damit indirekt allen pädophilen Menschen eine Art Mitschuld an derartigen Verbrechen gegeben. 

Ich will mich dem ganzen einmal etwas mathematisch nähern. Da das im Angesicht eines derartig umfangreichen Missbrauchsfalls etwas kühl und distanziert wirken kann, möchte ich im Vorfeld einmal betonen, dass ich damit nicht die Taten oder die Folgen für die Opfer klein reden möchte. Die Taten, wenn sie so stattgefunden haben, wie es dem Urologen vorgeworfen wird, sind an Hinterhältigkeit und Grausamkeit kaum zu überbieten, und das Ausmaß der Missbrauchsfälle ist Übelkeit erregend. Es ist vollkommen egal, wie alt die Opfer waren, oder ob der Urologe diese Taten begangen hat, um seine pädophilen Anteile zu befriedigen oder aus anderen Gründen. Aber genau darum geht es: weil diese Taten natürlich auch für mich als pädophilen Menschen so erschreckend sind, ist es äußerst niederschmetternd, indirekt dafür mit verantwortlich gemacht zu werden. Jedes Mal, wenn der Angeklagte als "der Pädophile" bezeichnet wird, so als würde damit schon die Taten vollständig erklärt werden, lese ich daraus Botschaften wie "schau, was jemand wie du mal wieder gemacht hat", oder "guck dir an was das, was du bist, mit anderen machen kann" – oder sogar "das würdest du bei passender Gelegenheit bestimmt auch gerne machen wollen, nicht wahr?"

Um wieder auf den vorliegenden Fall zurückzukommen: wir wissen, dass 40 der 109 Opfer, die bekannt sind, unter 14 sind. Pädophilie, um es noch einmal zu wiederholen, ist die Neigung zu Kindern vor Erreichen der Pubertät. Mit 14 sind die meisten schon in der Pubertät. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass alle der 40 Opfer unter 14 zum Zeitpunkt der Taten noch nicht in der Pubertät waren, dann heißt das, dass nur bei knapp über einem Drittel der Straftaten die pädophile Neigung des Angeklagten überhaupt eine Rolle gespielt haben könnte. Der Großteil der Taten, die dem Urologen vorgeworfen werden, hat also alleine des Alters der Opfer wegen nichts mit Pädophilie zu tun!

Vielleicht wird das Problem deutlicher, wenn wir es ein wenig umformulieren. Wir wissen, das nur ungefähr ein Drittel der bekannten Opfer vorpubertäre Kinder waren. Wir wissen aber auch, dass jedes einzelne bekannte Opfer ein Junge war. Das heißt, wenn wir schon die sexuellen Präferenzen des Angeklagten als Erklärungsmodell heran ziehen, dann wäre es viel akkurater eine homosexuelle Neigung als Erklärung zu nehmen – denn hinter 100 % der vorgeworfenen Taten kann zumindest prinzipiell eine homosexuelle Motivation stecken, während hinter nur ca. 33 % eine pädophile Motivation stehen kann. 

Wenn man den Angeklagten jetzt aber als "den Homosexuellen" bezeichnen würden, dann würde es – nicht unberechtigterweise – vermutlich einen großen Aufschrei geben. Gleichzeitig ist es absolut akzeptiert und normal, in solchen Fällen von "dem Pädophilen" zu reden. Frage: wodurch rechtfertigt sich dieser Unterschied in der Darstellung von (vermuteten) Sexualstraftätern?

5. Kriminalisierung pädophiler Menschen in den Medien

Nicht jeder pädophile Mensch wird zum Straftäter, und die meisten Kindesmissbrauchstäter und Konsumenten von Kinderpornographie sind nicht pädophil. 

Leider wird diese wichtige Unterscheidung in den Medien oft nicht gemacht, und Pädophilie mit Straftaten oft in einen Topf geworfen. Gerade das trägt aber massiv zur Stigmatisierung pädophiler Menschen bei, da die meisten Menschen so den Eindruck gewinnen, dass Pädophilie und Kindesmissbrauch ein und dieselbe Sache ist. Um auf dieses Problem aufmerksam zu machen, möchte ich hier jede Woche Beispiele für diese Behandlung des Themas Pädophilie in den Medien sammeln.

6. Du musst deine Liebe verstecken

Abschließen möchte ich diese Woche mit einem unbeschwerten Lied der wahrscheinlich populärsten Band, welche die britischen Inseln je hervorgebracht haben. In You've Got to Hide Your Love Away von den Beatles geben die "Fab Four" uns augenzwinkernd den Rat, unser Herz nicht allzu sehr auf der Zunge zu tragen, und unsere Liebe zu verstecken, ehe wir anderen damit vor den Kopf stoßen.

Bis nächste Woche,
 Sirius