„In einem eindringlichen Dialog stellt sich Prof. Dr. Dr. Klaus Michael Beier den Fragen von Jerome Braun“, so wird die neuste Folge des Kinderschutzpodcasts „Unter4Augen“ mit Klaus Beier als Gast bei Kein Täter Werden angeteasert. In Wahrheit handelt es sich eher eine um einseitige Lobeshymne. Unwidersprochen darf er selbst extrem fragwürdige Ansichten verbreiten, die schon als grund- und menschenrechtswidrig bezeichnet werden müssen. In den ganzen etwa 30 Minuten des Podcasts wird nicht eine einzige kritische Frage gestellt und keine Aussage Beiers auch nur vorsichtig hinterfragt, obwohl es dazu mehr als genug Anlass gegeben hätte, denn die von Beier propagierten Ansichten sind unwissenschaftlich und gefährlich, nicht nur für Pädophile, sondern eigentlich für alle Menschen.
Pädophile als Krankheitserreger?
Das fängt schon beim Titel des Podcasts an: „Die unterschätzte Pandemie“. Dies übernimmt ein Narrativ, das Beier zu den Hochzeiten der COVID-19-Pandemie entwickelt hat. Publiziert hat er diese Idee unter anderem in einem pietätlosen Fachartikel von 2021, in dem er die in dem Jahr fast fünf Millionen Corona-Tote instrumentalisierte, um für mehr Geld für sich und sein Präventionsprojekt zu werben. In dem Artikel argumentiert er, dass Kindesmissbrauch wie eine globale Pandemie zu sehen sei, mit Folgen, die noch viel schlimmer seien als die Folgen von Corona selbst zur Hochzeit der Pandemie. Diese Narrative hält er „auch weiterhin für richtig“, wie er im Podcast erzählt. Nur ist das Bild damals wie heute ziemlich schief. Wenn Kindesmissbrauch wie eine ansteckende Krankheit ist, sind von Kindesmissbrauch Betroffene dann die Infizierten, die vom Rest der Gesellschaft isoliert werden müssen, damit sich die Pandemie nicht weiter verbreitet?
Tatsächlich denkt Beier eher an eine andere Gruppe, die isoliert werden müsste, und es sollte nicht überraschen, dass es sich dabei um pädophile (und hebephile) Menschen handelt. Schon in dem Aufsatz von 2021 verglich Beier Pädophilie mit einem Virus, mit dem die Gesellschaft notgedrungen irgendwie zu leben lernen müsse. Dass derartige entmenschlichende Vergleiche so brandgefährlich sind, dass sie nach Gregory Stanton ein wesentliches Element der vierten Phase eines Genozids sind, mit denen „die normale menschliche Abscheu vor dem Morden überwunden“ werden soll (und es gibt nicht so viele Phasen, die danach noch kommen), lässt Beier unbeeindruckt. Auch im Podcast spricht er von „menschlichen Verursacher“ der Kindesmissbrauchs-Pandemie und meint damit „eben Menschen, die eine sexuelle Ansprechbarkeit für das kindliche Körperschema aufweisen“ – sprich: Pädophile. Dass viele Täter:innen gar nicht pädophil sind, lässt Beier unerwähnt, obwohl er sich dieser Tatsache sicherlich bewusst ist und sie in der Vergangenheit selber betont hat. Pädophilie wird damit in Beiers Bild zum Hauptverursacher einer der schlimmsten „Krankheiten“ gemacht, von der die Menschheit geplagt wird. Von diesem Standpunkt aus ist es kein großer Schritt mehr, die Auslöschung pädophiler Menschen als erstrebenswertes Ziel zu sehen, das die Gesellschaft in eine bessere Zukunft führt.
Vorbei scheinen die Zeiten zu sein (falls es sie je wirklich gegeben hat), in der Beier (und Kein Täter Werden im Allgemeinen) als Revolutionäre zwar nicht immer optimale, aber insgesamt doch teils bahnbrechende Aufklärungsarbeit gegen die Stigmatisierung pädophiler Menschen geleistet hat. Einst betonte Beier selber, dass die Verbindung von Pädophilie und Verbrechen nicht gerechtfertigt sei und er hielt es sogar für grundsätzlich nicht problematisch, wenn ein exklusiv Pädophiler als Grundschullehrer arbeitet. In der aktuellen Podcast-Folge gibt es für Beier nur noch zwei Arten von Pädophilen: „potenzielle“ und „reale“ Täter. Fälschlicherweise erzählt er zudem, dass Pädophilie eine von der Weltgesundheitsorganisation anerkannte Störung sei. Auch hier beweisen alte Interviews, dass er es eigentlich besser weiß und Pädophilie einst sogar als natürlichen Teil der menschlichen Vielfalt verstanden hat.
Gegen Ende des Podcasts behauptet er darüber hinaus, es gäbe „einfach Phasen im Leben eines Menschen mit einer solchen Ansprechbarkeit“, in denen Medikamente notwendig seien damit es „nicht zu Nutzung von Missbrauchsabbildungen oder zu Übergriffen kommt“ und unterstellt damit, dass alle Pädophile triebdämpfende Medikamente brauchen, um keine Straftaten zu begehen. Dies ist eine völlig verzerrte Darstellung. Beier würde es gut tun sich daran zu erinnern, dass sich an Kein Täter Werden nur eine Minderheit der pädophilen Menschen je wenden. Er kann nur über die Klienten, die zu ihm kommen, etwas sagen, und es ist fragwürdig, dass diese einen repräsentativen Querschnitt der pädophilen Menschen bilden. Selbst bei Kein Täter Werden wird bei weitem nicht jedem Klienten Medikamente gegeben. Kurz gesagt: die allermeisten Pädophile nehmen keine triebdämpfenden Medikamente und begehen trotzdem keine Straftaten. Warum er anderes behauptet, darüber lässt sich nur spekulieren – möglicherweise versucht er, die Notwendigkeit und Bedeutung von Kein Täter Werden im Zuge der zum 31.12.2025 auslaufenden Finanzierung zu überhöhen, indem er allen Tätern unterstellt, pädophil zu sein, und allen Pädophilen, ohne therapeutische bzw. medikamentöse Behandlung zum Täter zu werden.
Die Beiersche Dystopie
Darüber hinaus entpuppt sich Beier in dem Gespräch mit Jerome Braun, der alles lächelnd abnickt, was Beier von sich gibt, als Vertreter einer Denkrichtung, die ich als autoritär gedachten Kinderschutz bezeichnen möchte. Dieser versucht, Kinder durch Maßnahmen zu schützen, die einem autoritären Staat angelehnt sind: drakonische Strafen, umfassende Polizeibefugnisse und staatliche Überwachung in allen Lebensbereichen, welche die Grenzen der Grund- und Menschenrechte oft überschreitet. Für höhere Strafen und mehr Repressionen setzt sich Beier ein, wenn es um Täter:innen geht, die „sich nicht helfen lassen wollen“. Wer die Frechheit besitzt, nicht zu ihm in Therapie gehen zu wollen, soll also umso mehr die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Dabei bleibt er vage, wie genau diese höheren Strafen aussehen sollen und redet nur unbestimmt von „rechtspolitische Maßnahmen“ und dass die „Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden“ erhöht werden sollen. In der Realität wurden die Strafmaße gerade im Bereich der Kinderpornografie in den letzten Jahren immer wieder drastisch erhöht – zuletzt so sehr, dass sie zum Teil wieder herabgesetzt werden mussten, weil sich das Strafmaß als nicht praktikabel erwiesen hat.
Die zweite Säule des autoritär gedachten Kinderschutzes sind invasive Überwachungsmaßnahmen, die nach der naiven Annahme funktionieren: wenn Bürger:innen keine Privatsphäre mehr haben, gibt es auch keine Möglichkeit für sie, unentdeckt Straftaten zu begehen. Dank Automation und KI ist denkbar geworden, was lange Zeit nur ein feuchter Traum autoritärer Regierungen war, nämlich alle Menschen rund um die Uhr zu überwachen, „abweichendes“ Verhalten in Echtzeit zu erkennen und darauf zu reagieren. In diesen Bereich gehören Maßnahmen wie die Vorratsdatenspeicherung, die demnächst wieder eingeführt werden soll, obwohl sie mehrfach von Gerichten als grundrechtswidrig eingestuft wurde, aber auch die Chatkontrolle, die insbesondere auch für Pädophile zahlreiche Risiken und Gefahren birgt, über die ich an anderer Stelle ausführlich geschrieben habe.
Was sich Beier wünscht, ist gleich noch eine Stufe schlimmer und invasiver, als selbst die bereits extreme Chatkontrolle. Anstatt „nur“ Anbieter von Messenger-Diensten zur Überwachung der Kommunikation ihrer Nutzer:innen zu verpflichten, möchte Beier Smartphone-Hersteller gleich dazu bringen, eine KI in allen Endgeräten einzubauen, die sämtliche Nutzeraktivität überwacht und bei Verdacht auf Grooming oder Kinderpornografie automatisch interveniert. Weil einige (wenige) Menschen mit ihrem Smartphone Kinderpornografie verschicken oder Jugendliche groomen, soll es also allen Menschen unmöglich gemacht werden, private Nachrichten und Bilder auszutauschen, ohne dass der Staat mit wachsamem Blick mitliest, und jeder unter Generalverdacht gestellt wird. Straftaten wären dadurch dann „gar nicht mehr möglich“. In der Realität würden Kriminelle ihre Straftaten wohl einfach vom Smartphone auf andere, nicht überwachte Kanäle verlagern, während vor allem sich gesetzestreu verhaltene Menschen von solchen Maßnahmen betroffen und dem permanenten Risiko einer falsch positiven Erkennung ausgesetzt wären. Vergleichbar ist das etwa damit, in allen deutschen Schlafzimmern staatlich überwachte Kameras aufzustellen, um Kindesmissbrauch zu verhindern, der dort ja theoretisch stattfinden könnte.
Diese dystopische Zukunftsvision ist nicht nur ein theoretischer Wunsch Beiers, sondern etwas, an deren Realisierung er aktiv arbeitet, und wo er laut eigener Aussage hofft „dazu beitragen zu können, dass das in absehbarer Zeit geschieht“. Vermutlich spielt er auf ein zweijähriges EU-finanziertes Projekt an, das er geleitet hat, und dessen Ziel die Entwicklung einer App war, die Kinderpornografie in Echtzeit erkennen und blockieren soll. Das daraus entstandene Endprodukt soll derzeit zwar nur auf freiwilliger Basis installiert werden, Beiers Aussagen in dem Podcast zeigen aber, dass sein Wunsch weitaus ambitionierter und eine verpflichtende Installation solcher Technologie für alle Bürger:innen sein Endziel ist.
Hohe Fehlerraten, grundrechtliche Abwägungen, Gefahren für Kinderrechte, intrinsische Risiken solcher Systeme gegenüber marginalisierten Gruppen, die Gefahr, dass solche Systeme zur Umsetzung einer staatlichen Zensurmaschine missbraucht werden oder auch nur die einfache Frage, was eine Partei wie die AfD mit so einem System machen könnte, wenn sie die Macht ergreifen sollte, werden von Beier nicht diskutiert und auch nicht von Jerome Braun hinterfragt, der den Vorschlag für „spannend“ und „visionär“ hält. Dabei dürfte die Idee vor allem Beier selber und seinem Therapieprogramm schaden. Beier betont nur kurz vorher, wie wichtig Anonymität und die Schweigepflicht für Kein Täter Werden ist, und postuliert sogar, dass das Projekt vermutlich gar nicht erfolgreich gewesen wäre, hätte den Klienten keine Anonymität gewährt werden können. Gleichzeitig fordert er effektiv das Ende des Rechts auf private Kommunikation. Wie viele Pädophile werden sich wohl noch trauen, bei Kein Täter Werden anzurufen, wenn sie wissen, dass ihr Gespräch von einer KI mitgehört wird, die ganz genau auf Hinweise nach sexuellen Kindesmissbrauch lauscht?
Anstatt sich solche fundamentale Fragen zu stellen, begibt sich Beier auf das Niveau eines Schlangenölverkäufers, der technische Lösungen für komplexe gesellschaftliche Probleme anpreist und Fehler und fundamentale Mängel damit beiseite wischt, dass die Technologie in der Zukunft ja viel besser werden wird und irgendwann ganz bestimmt alle Probleme wird lösen können. So würde die „schnelle technische Entwicklung“ ganz sicher dazu führen, dass die Vision eines fehlerfreien Echtzeit-Scanners irgendwann Realität werden kann. Nur sorgen schnellere Prozessoren und bessere Algorithmen nicht dafür, dass die Aufgabe, harmlose von kritischen Unterhaltungen zu unterscheiden, die selbst für menschliche Beobachter oft schwer und ambivalent ist (insbesondere, wenn kulturelle Unterschiede und global unterschiedliche Gesetzeslagen dazukommen) einfacher wird, und es gibt keine Garantie dafür, dass Maschinen dies irgendwann perfekt gelingen wird. Und fast perfekt ist hier nicht genug: die Größenordnung, in der Beier sich die Umsetzung seines Zensur-Systems vorstellt (die zwanghafte Installation auf allen Smartphones weltweit) bedeutet, dass selbst eine Fehlerquote von nur einem Bruchteil eines Bruchteils eines Prozents dazu führen wird, dass sämtliche Strafverfolgungsbehörden von Millionen an Falschmeldungen überflutet werden.
Ebenfalls im besten Stil eines KI-Schlangenölverkäufers wirbt Beier außerdem damit, eine internationale Anlaufstelle zu schaffen, die „über künstliche Intelligenz ausgerollt werden kann“. Anstatt eklatante Versorgungslücken für pädophile Menschen ernsthaft anzugehen, soll also auch hier die KI zur Lösung tiefliegender Probleme herangezogen werden. Um den Soziotechnologen tante zu paraphrasieren: Menschen statt Zugang zu Psychotherapie einen Chatbot zu geben, ist nicht das gleiche, es sieht nur aus dem Weltraum betrachtet so aus.
Vielleicht reicht aber auch einfach ein sehr hoher Elfenbeinturm.