Stellen wir uns einmal eine Welt vor, in der es keine vertraulichen Gespräche mehr gibt. In dieser Welt wird jede private Kommunikation zwischen zwei oder mehr Personen von staatlichen Agenten mitgelesen und auf Unbedenklichkeit geprüft. Automatisierte Verfahren erfassen jede versendete Nachricht, und schauen sich jedes einzelne verschickte Bild an – Milliarden und Abermilliarden von Dateien und Wörtern, jeden Tag. Wird dabei etwas gefunden, was als kritisch eingestuft wird, werden die örtlichen Behörden – ebenfalls vollautomatisch – benachrichtigt, und stehen kurz darauf mit einem Durchsuchungsbeschluss vor deiner Tür.

Was nach einem dystopischen Albtraum klingt, ist eine Welt, die von der Europäischen Kommission tatsächlich gewünscht ist. Im Mai dieses Jahres hat die Kommission eine Verordnung zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern vorgelegt, welche Anbieter von sozialen Netzwerken und Messengerdiensten dazu verpflichtet, die Kommunikation ihrer Nutzer:innen anlasslos zu überwachen und gegebenenfalls automatisiert zu melden, wenn bestimmte Straftaten erkannt werden. Das vorgeschlagene Verfahren nennt sich Client-Side Scanning, umgangssprachlich hat sich dafür auch der Begriff Chatkontrolle eingebürgert. Im Wesentlichen geht es darum, dass der Staat Einblick in derzeit noch verschlüsselte und damit uneinsehbare Kommunikation bekommt, um über KI-Algorithmen automatisiert Straftaten gegen Kinder und Jugendliche, genauer gesagt die Verbreitung von Kinderpornografie und Cyber-Grooming zu erkennen.

Das vorgeschlagene Verfahren wird – völlig zurecht – von vielen Parteien scharf kritisiert. Zu den Kritikern gehören unter anderem Bürgerrechtsorganisationen, der Deutsche Anwaltsverein, IT-Sicherheitsforscher:innen und digitale Aktivist:innen. Eine gute Zusammenfassung der zahlreichen Gründe, welche die Chatkontrolle so problematisch macht, findet sich auf der Kampagnenwebseite Chatkontrolle stoppen! Trotz dieser Kritik und obwohl eine überwältigende Mehrheit der EU-Bürger gegen die Pläne der EU-Kommission sind, findet das Vorhaben breite politische Unterstützung – nicht zuletzt auch in Deutschland, wo sich zuletzt Innenministerin Nancy Faeser öffentlich für eine Umsetzung der Pläne einsetzte.

Die Chatkontrolle trägt wenig zum Schutz von Kindern bei und bedroht dafür viele Gruppen, nicht zuletzt auch gerade diejenigen, die dadurch eigentlich geschützt werden sollen. Es gibt eine Gruppe, die in der Debatte um die Chatkontrolle bisher gar nicht berücksichtigt wird, nämlich die Gruppe der pädophilen Menschen. Dass Pädophile, wenn es um die negativen und gefährlichen Folgen einer Chatkontrolle geht, bisher keine Erwähnung fanden, ist dabei wenig verwunderlich. Allzu häufig werden Pädophile als die natürlichen Feinde von Kindern und Jugendlichen gesehen, und damit jede Maßnahme, die „gegen Pädophile“ gerichtet ist automatisch als eine wirksame Maßnahme für den Kinderschutz gesehen. Dies folgt aus dem weit verbreiteten Vorurteil, dass Pädophilie und Missbrauch quasi synonym sind.

Tatsächlich treffen die vorgeschlagenen Maßnahmen aber gerade diejenigen am härtesten, die eigentlich Unterstützung und Hilfe verdient hätten: nämlich Menschen, die sich gesetzeskonform verhalten. Im Folgenden möchte ich daher einige der Implikationen erläutern, die sich aus der Chatkontrolle insbesondere für pädophile Menschen ergeben.

Wie eine Chatkontrolle funktionieren müsste

Zur Erinnerung: die Chatkontrolle soll ein Instrument sein, um strafrechtlich relevantes Verhalten automatisch zu erkennen und zur Anzeige zu bringen. Geplant ist unter anderem, dass automatisch erkannt werden soll, wenn Dateien mit kinderpornografischen Inhalt per Messenger verschickt werden. Dies geht prinzipiell noch, ohne dass dabei der Inhalt der Kommunikation detailliert analysiert erforderlich ist, indem digitale Fingerabdrücke der verschickten Dateien mit einem Verzeichnis bekannter illegaler Dateien abgeglichen werden.

Der Vorschlag der EU geht allerdings noch weiter. So soll nicht nur das Verschicken bereits bekannter kinderpornografischer Inhalte erkannt werden, sondern auch neue, noch nirgendwo registrierte Inhalte erkannt werden. Zudem ist geplant, dass auch Grooming, also das Annähern an Minderjährige mit sexuellen Absichten in Textnachrichten automatisch erkannt und gemeldet werden soll. Spätestens hierfür muss auch Inhalt und Kontext der Gespräche analysiert und zu einem gewissen Grad inhaltlich verstanden werden.

Das heißt konkret, jede Nachricht, die über eine soziale Plattform verschickt wird, muss von einem Algorithmus geprüft werden, der entscheidet, ob die Nachricht unbedenklich ist oder möglicherweise strafrechtlich relevante Inhalte enthält. Damit dies funktioniert, muss dieser Algorithmus eine Form von künstlicher Intelligenz enthalten, die Nachrichten inhaltlich verstehen und bewerten kann.

Die meisten KI-Algorithmen funktionieren so, dass im ersten Schritt anhand von händisch kategorisierten Trainingsdaten gelernt wird, bedenkliche von unbedenklichen Nachrichten zu unterscheiden. Dabei analysiert der Algorithmus komplexe Muster in den Trainingsdaten, und versetzt sich damit in der Lage, diese Muster auch bei neuen, unbekannten Daten anzuwenden. Dies bedeutet, dass die Entscheidungen, die der Algorithmus später trifft im Wesentlichen von den Trainingsdaten abhängt, mit denen der Algorithmus im ersten Schritt gefüttert wurde. Und genau an dieser Stelle gibt es ein riesiges Problem, das schwer bis gar nicht gelöst werden kann.

Maschinelle Reproduktion von Vorurteilen

Eine KI erlernt Muster in ihren Trainingsdaten und versetzt sich damit in der Lage, diese später auch bei unbekannten Daten wiederzuerkennen. Was ist aber, wenn die Trainingsdaten bereits implizit oder explizit Vorurteile enthalten? Richtig – dann wird eine KI, die damit trainiert wurde, am Ende diese Vorurteile reproduzieren.

Das ist jetzt schon ein gewaltiges Problem in Bereichen, in denen KIs zum Einsatz kommen. Ein reales Beispiel dafür: im Jahr 2015 fand Amazon heraus, dass eine intern entwickelte KI zur Vorsortierung der Lebensläufe von Bewerber:innen überwiegend weibliche Bewerberinnen ablehnte. Der Grund dafür: die Stellen sind in der Vergangenheit meistens durch Männer besetzt worden. So waren die „erfolgreichen“ Lebensläufe, anhand denen die KI trainiert wurde, entsprechend hauptsächlich von Männern. Die KI hat dieses Muster erkannt und daraus gelernt, Lebensläufe von Frauen früher abzulehnen, als die von Männern.

Ein weiteres, in Bezug auf das Thema Chatkontrolle noch relevanteres Beispiel: in den USA wird ein KI-System eingesetzt, um das Rückfallrisiko von Straftätern zu beurteilen. Wie sich herausstellt, hat auch dieses System Diskriminierung quasi eingebaut und schätzt das Rückfallrisiko bei dunkelhäutigen Menschen konsequent höher ein als bei weißen Menschen.

Es ist ein rassistisches Vorurteil, dass schwarze Menschen eher kriminell sind, welches die KI gelernt und reproduziert hat. Ein weiteres Vorurteil, das noch einmal wesentlich stärker gesellschaftlich verankert ist: dass pädophile Menschen allesamt Missbrauchstäter:innen sind.

Während Diskriminierung durch voreingenommene KIs ein grundsätzliches Problem ist, das allen Minderheiten und gesellschaftlich benachteiligte Gruppen betrifft, ist dies beim Thema Pädophilie besonders brisant. Keine andere Minderheit wird derart stark mit Straftaten gegen Minderjährige assoziiert. Für nicht wenige Menschen sind Pädophilie und Kindesmissbrauch gar synonym zueinander. Als pädophiler Mensch steht man permanent unter Generalverdacht, schlimmste Straftaten gegenüber Kindern und Jugendlichen zu begehen und eine konstante Gefahr zu sein.

Diese Vorurteile sind auf jeder Ebene des gesellschaftlichen Diskurses präsent: in Stammtischgesprächen, Internetdebatten, politischen Diskursen, in Medienbeiträgen und sogar bei Therapieprogrammen und Aufklärungsprojekten, deren Ziel eigentlich die Unterstützung pädophiler Menschen ist. Es ist anzunehmen, dass auch KIs, die zum Schutz von Kindern vor sexuellen Übergriffen entwickelt wird, diese Assoziation bald lernt und damit Pädophile grundsätzlich als Gefahr klassifiziert werden.

Automatisierten Klassifizierungsverfahren sind übrigens grundsätzlich nie perfekt, sondern haben immer eine gewisse Fehlerquote. Einem geleaktem Dokument nach erwartet die EU-Kommission einen Anteil von bis zu 10 % Falschmeldungen. Das würde bedeuten, dass Milliarden Meldungen an ohnehin schon überforderte Behörden gehen und bearbeitet werden müssen, und dabei unzählige unschuldige Menschen ins Visier von Polizei und Staatsanwaltschaft geraten. Aufgrund der präsenten Vorverurteilung pädophiler Menschen ist es sehr gut möglich, dass diese Fehlerquote bei pädophilen Menschen noch einmal signifikant höher ausfallen wird.

Maschinen sind in dieser Hinsicht also nicht neutral, sondern reproduzieren die Diskriminierung, die in der Gesellschaft bereits existiert. Häufig werden sie aber als neutral wahrgenommen, und ihre Entscheidungen daher eher als sachlich und objektiv richtig gesehen. Zudem sind die Entscheidungen von KI-Algorithmen meist intransparent und für einen Menschen nicht mehr nachzuvollziehen, und damit schwer zu kritisieren. Das birgt die Gefahr, dass Vorurteile und Stigmatisierungen nicht nur reproduziert, sondern durch die Reproduktion auch scheinbar legitimiert werden und sich somit noch tiefer gesellschaftlich verankern.

Wenn Hilfe suchen gefährlich wird

Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass eine Chatkontrolle massiv gegen pädophile Menschen stigmatisieren würde, indem der gleiche Chatverlauf zwischen einem Erwachsenen und zum Beispiel einem minderjährigen Verwandten viel schneller als problematisch eingestuft wird, wenn der Erwachsene als pädophil erkannt wurde. Die Frage ist, wie ein Algorithmus zur Chatkontrolle überhaupt feststellen kann, ob ein Erwachsener pädophil ist. Eine Möglichkeit: der Erwachsene erzählt es selber.

Stellen wir uns einmal vor, dass ein pädophiler Mensch outet sich bei einer Vertrauensperson, zum Beispiel dem besten Freund. Daraufhin folgen weitere Fragen oder Gespräche über das Thema. Im Moment noch ist es halbwegs sicher möglich, diese Gespräche über einen Messenger laufen zu lassen, da die meisten Messenger heutzutage Ende-zu-Ende-verschlüsselt sind und damit niemand außer den Gesprächspartnern den Chatverlauf mitlesen kann: keine Ermittlungsbehörden, keine staatlichen Agenten, noch nicht einmal der Betreiber des Messengerdienstes.

Daraus folgt also: solange es möglich ist, sicher verschlüsselt zu kommunizieren, ist es auch nicht möglich den Inhalt von Gesprächen zu analysieren und auf potenzielle Straftaten hin zu scannen. Die „Lösung“ für diese Barriere zur Umsetzung einer umfassenden Chatkontrolle sieht hier so aus, dass sichere Ende-zu-Ende-Verschlüsselung abgeschafft werden soll. Die Betreiber von Kommunikationsplattformen müssen dafür Hintertüren einbauen, um noch auf den Endgeräten der Nutzer:innen die Nachrichten auf kriminelle Inhalte zu prüfen.

Das macht es aber praktisch unmöglich, über digitale Kommunikation als Pädophiler über die eigenen Gefühle zu reden, Unterstützung zu suchen oder Hilfe einzufordern. Gespräche mit dem besten Freund, bei dem man sich geoutet hat, werden damit zu einem Sicherheitsrisiko. Denn über allen steht das nicht einzuschätzende Risiko, dass eine voreingenommene KI, die nicht hinreichend zwischen Pädophilie und Straftaten differenziert alleine in dem Gespräch über die eigenen Gefühle einen bedenklichen Inhalt erkennt, und vorsorglich automatisch die Polizei verständigt. Das Klügste, was man als pädophiler Mensch dann also machen kann: schweigen. Auf diese Art werden nicht-straffällige pädophile Menschen, die jetzt schon eine fast unsichtbare Randgruppe bilden, weiter in einen Schatten gedrängt und ausgegrenzt, bis sie mit niemandem in einem vertraulichen und sicheren Umfeld reden können.

Eliminierung von Schutzräumen

Doch es sind nicht nur private 1:1-Chats und persönliche Unterhaltungen mit nahe stehenden Freunden und Familienmitgliedern über das Thema Pädophilie, die durch die Idee der Chatkontrolle gefährdet wird. Auch die Arbeit von Hilfsangeboten und Selbsthilfegruppen, die bereits jetzt aufgrund des starken Stigmas fast ausschließlich online und anonym stattfindet, ist de facto unmöglich, sollten die Pläne der EU-Kommission wie geplant umgesetzt werden.

Denn damit das Erkennen und Melden von Grooming so funktioniert, wie die EU-Kommission es sich vorstellt, muss außerdem das Alter der Nutzer:innen einer Kommunikationsplattform von dem Anbieter zwingend überprüft werden. In der Praxis bedeutet dies, dass die Betreiber:innen von Selbsthilfeplattformen verpflichtet würden, die Identität ihrer Nutzer:innen festzustellen, etwa durch eine Ausweisprüfung. Dadurch wird durch die Hintertür die Anonymität auf sozialen Plattformen und Kommunikationskanälen abgeschafft. Das Verschleiern der eigenen realen Identität ist aber oft der einzige wirksame Schutz, den pädophile Menschen vor Stigmatisierung, Diskriminierung und Übergriffen haben.

Das heißt ganz konkret: jede Selbsthilfeplattform, die sich an Pädophile richtet, könnte nach Inkrafttreten einer Chatkontrolle den Betrieb einstellen. Insbesondere schließt dies Plattformen ein, deren Mitglieder sich einander darin unterstützen wollen, keine Straftaten zu begehen: Foren wie Gemeinsam statt allein und VirPed, oder Chats wie Die P-Punkte und der Map Support Club. Sich identifizierbar auf einer Plattform für Pädophile anzumelden, kann in dem heutigen gesellschaftlichen Klima und dem massiven und omnipräsenten Hass, der pädophilen Menschen entgegenschlägt, nur als lebensmüde bezeichnet werden. Damit wird Pädophilen effektiv die letzten Schutzräume genommen, in denen sie vertraulich und ohne Angst vor Ablehnung über das reden können, was sie bewegt. Für viele bedeutet dies, überhaupt keine Möglichkeit mehr zu haben, Unterstützung, Verständnis und Sympathie zu erfahren oder sich über Probleme auszutauschen.

Und das gilt nebenbei bemerkt natürlich nur für legitime Selbsthilfegruppen, deren Mitglieder sich gesetzestreu verhalten. Kriminelle Vereinigungen, die sich zum Zweck des Austauschs illegaler Dateien oder der Planung von Straftaten im Internet organisieren, werden sich von den geplanten EU-Richtlinien sicherlich nicht beeindrucken lassen und weiterhin anonym und verschlüsselt kommunizieren. Damit trifft die geplante Richtlinie legale Vereinigungen und legitime Hilfsangebote, während kriminelle Gruppierungen weiter unbeeindruckt fortbestehen. Schon alleine dies sollte kritische Fragen an der Effektivität der Richtlinie aufwerfen.

Behinderung von Therapien

Nicht nur die Selbsthilfe, sondern auch die professionelle Hilfe wird durch die Chatkontrolle stark behindert. Das betrifft zum Beispiel Therapieangebote. Die erste Kontaktaufnahme mit Anlaufstellen wie Kein Täter Werden läuft zum Beispiel häufig per Mail ab. Diese Kontaktaufnahmen werden maßgeblich erschwert, wenn davon auszugehen ist, dass auch jede Mail gescannt und potenziell an Behörden gemeldet wird. Auch das Anlegen anonymer Mail-Postfächer, die viele Pädophile für die Mail-Kommunikation mit Therapeuten nutzen, würde durch die Identifizierungspflicht unmöglich werden. Eine wirklich anonyme und vertrauliche Kontaktaufnahme ist damit nicht mehr möglich. Dies erhöht signifikant die Hemmschwelle für die Inanspruchnahme von Hilfsangeboten.

Selbst wenn die initiale Kontaktaufnahme noch zustande kommt, schwebt die permanente und anlasslose Kontrolle aller Nachrichten wie ein Damoklesschwert über jeden Kommunikationsablauf im Rahmen einer Therapie. Kritisch können zum Beispiel Situationen werden, wenn ein:e Patient:in in einer psychischen Notsituation Kontakt zu den behandelnden Therapeuten aufnehmen möchte, und im Zuge dessen erklärt, in der Krisensituation Kinderpornografie als Bewältigungsstrategie konsumiert zu haben. Auch hier ist zu befürchten, dass das Zugeben von Straftaten für eine automatisierte Meldung an Polizeibehörden schon ausreicht. Dabei kann die zeitnahe und barrierefreie Kontaktaufnahme für den weiteren Therapieverlauf sich als sehr wichtig erweisen und eine Eskalation des Konsumverhaltens verhindern.

Und selbst trivialere Fälle könnten schon bedenklich werden. Wenn zum Beispiel aufgrund von Krankheitsfällen mehrere Therapiesitzungen ausfallen und dies über Mails kommuniziert wird, die automatisch gescannt werden. Gefährlich wird dies bei einer KI, die derartige kontextuelle Informationen in die Entscheidungsfindung einbezieht und dabei das gesellschaftliche Vorurteil internalisiert hat, nach dem Pädophile, die nicht in Therapie sind noch einmal eine besonders hohe Gefahr darstellen. Denkbar ist, dass so eine KI entweder direkt Alarm schlägt, oder in anderen Situationen bei harmlosen Vorfällen einen falschen Alarm auslöst.

All dies wird die Kommunikation zwischen pädophilen Klienten und behandelnden Therapeuten wesentlich erschweren. Es ist davon auszugehen, dass Patient:innen zum Selbstschutz vieles gegenüber ihren Therapeuten gar nicht mehr ansprechen werden, zumindest nicht in der elektronischen Kommunikation. Das Ausweichen auf alternative Kommunikationswege (Telefon, Briefpost) ist auch keine Option, da die meisten Patient:innen von Kein Täter Werden dort völlig anonym behandelt werden, und damit Realname, Postanschrift oder Telefonnummer gar nicht bekannt sind. Somit bleibt die dann staatlich überwachte elektronische Kommunikation als einziges Medium für den Kontakt zwischen Therapeut:in und Patient:in übrig.

Dies betrifft natürlich nicht nur pädophile Menschen. Auch sonstige Patient:innen und insbesondere auch Menschen, die aufgrund von erlebten Missbrauchserfahrungen in Behandlung sind, sind von den Auswirkungen betroffen. Grundsätzlich macht die Chatkontrolle die Wahrung des Ärztegeheimnisses in der elektronischen Kommunikation praktisch unmöglich. Pädophile Menschen sind hier allerdings besonders stark betroffen, da Vertraulichkeit und Anonymität unveräußerliche Voraussetzungen sind, um überhaupt therapeutische Behandlung anzunehmen, und alternative analoge Kommunikationsmöglichkeiten keine Option sind.

Hintertüren für böswillige Akteure

Alles bisher Gesagte gilt unter der Annahme, dass die Chatkontrolle so funktioniert, wie sie soll. Sprich, dass auf die Daten nur die meldepflichtigen Anbieter und die zuständigen staatlichen Behörden Zugriff haben. Diese Vorstellung ist, um es behutsam auszudrücken, naiv und weltfremd. Tatsächlich sind in der Welt des Internets aber jede Menge illegitime Akteure mit bösartigen Absichten unterwegs. Die Chatkontrolle hebelt effektiv den Schutz vor diesen Akteuren durch das Aufweichen von Verschlüsselungstechnologien auf.

Wie bereits erläutert, kann es keine sichere Verschlüsslung in der digitalen Kommunikation mehr geben, wenn die Chatkontrolle Realität werden soll, da ansonsten das automatisierte Scannen von Nachrichten nicht möglich ist. Verschlüsselung aber ist eine der wenigen Sachen im Leben, die es nur ganz oder gar nicht gibt. Entweder niemand (außer den Beteiligten) kann in einen Chatverlauf reingucken, oder jeder kann (potenziell) reingucken. Es gibt hier keine Kompromisse. Eine Aufweichung von Verschlüsselung, sodass Dritte mitlesen können erfordert immer das Einbauen von Hintertüren, die auch von Unbefugten und Kriminellen gefunden und ausgenutzt werden können.

Sobald aber potenziell lesbare Daten irgendwo gespeichert oder übertragen werden, besteht die Gefahr, dass auch unbefugte Personen darauf Zugriff erlangen können. Und gerade bei Pädophilen gibt es ein großes Interesse von Seiten von Hackergruppen, ihre realen Identitäten ausfinden zu machen, um sie öffentlich zu outen und an den Pranger zu stellen. Das Hacker-Kollektiv Anonymous hat sich beispielsweise bereits mehrfach damit gerühmt, Jagd auf Pädophile zu machen. Es ist eine reale Gefahr, dass solche Gruppen die gleichen Hintertüren ausnutzen, die staatlich legitimierte Akteure für das clientseitige Scannen benutzen sollen, um vertrauliche Konversationen zu entschlüsseln und daraus Listen mit pädophilen Personen zusammenstellen und veröffentlichen. Präzedenzfälle, in denen unschuldige Personen zwangsweise öffentlich geoutet wurden, gibt es bereits. Die Folgen solcher Outings können existenz- und lebensbedrohlich sein und schließen den Verlust von Arbeitsplatz, sozialen Beziehungen bis hin zu körperlichen Übergriffen ein. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich Gruppen organisieren, um vermeintlich pädophile Personen zu überfallen und lebensbedrohlich zu verletzen.

Chatkontrolle als Zensurwerkzeug

Eine weitere ernstzunehmende Gefahr bei der Chatkontrolle besteht in den Möglichkeiten zur Zensur, die diese bietet. Die vorgeschlagenen Richtlinien wird den staatlichen Institutionen die Möglichkeit geben, zentralisierte Blocklisten von Inhalt (Dateien sowie textuelle Gedanken) zu verwalten und deren Verbreitung über eine bisher noch nie dagewesene technische Infrastruktur EU-weit zu unterdrücken.

Der Vorwand, Kinder schützen zu wollen wird bereits heute gerne zur Unterdrückung und Zensur von ungewollten gesellschaftlichen Gruppierungen, insbesondere LGBT-Vereinigungen genutzt. In Polen wurden etwa unter dem Vorwand, „Pädophilie“ stoppen zu wollen mehrere Landkreise zu LGBT-freien Zonen erklärt. Ungarn wiederum hat ein sogenanntes „Anti-Pädophilie Gesetz“ erlassen, das in Wahrheit die Rechte von Homosexuellen einschränkt.

Auch in Deutschland gibt es Präzedenzfälle. Im Jahr 2009 konnte die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen für kurze Zeit die Installation von Netzsperren durchsetzen, mit denen über Sperrlisten der Zugang zu Webseiten blockiert wurde. Dies sollte für Webseiten angewendet werden, auf denen kinderpornografisches Material verbreitet werden. Veröffentlichungen der eigentlich geheimen Sperrlisten anderer Länder auf Wikileaks hatte aber bereits gezeigt, dass solche Listen sehr schnell auch für die Sperrung von weiteren unliebsamen Webseiten genutzt werden. Dieser sehr kontroverse Fall hatte von der Leyen damals den Spitznamen „Zensursula“ gegeben. Heute, gut eine Dekade später, ist sie als Präsidentin der Europäischen Kommission eine der Hauptverantwortlichen für den Vorschlag der Chatkontrolle.

Bereits heute setzen viele Online-Plattformen von sich aus Zensurmaßnahmen gegen pädophile Menschen um. Der zugrunde liegende Gedanke ist, dass die freie Meinungsäußerung pädophiler Menschen bereits Kinder gefährden würde. Wenn alle Betreiber von sozialen Plattformen gezwungen werden, nach staatlichen Vorgaben Kommunikation zu filtern und zu melden, besteht die Gefahr, dass es bald überhaupt keine Plattform mehr gibt, auf der pädophile Menschen ihre Meinung äußern können. Auch dieser Blog hier könnte als „gefährlich“ und „verharmlosend“ eingestuft werden, und folglich aus dem Internet verschwinden müssen.

Darüber hinaus wird die Meinungsfreiheit auch über subtilere Methoden eingeschränkt. Es ist wahrscheinlich, dass Menschen sehr vorsichtig sein werden, was sie in Bezug auf Pädophilie äußern, wenn sie wissen, dass alles, was sie sagen gescannt wird und dazu führen könnte, dass sie als potenzielle Sexualstraftäter eingestuft werden. Menschen mit eigentlich differenzierten Haltungen werden im Zweifelsfall eher schweigen oder sich drastischen Gewaltfantasien gegen pädophilen Menschen anschließen, um nicht aufzufallen oder sich verdächtig zu machen.

Die Gesellschaft für Freiheitsrechte bezeichnet dies als einen Chilling Effects der Chatkontrolle: Menschen werden in der Ausübung ihrer Kommunikationsgrundrechte gehemmt, wenn sie auf die Integrität und Vertraulichkeit des Kommunikationsprozesses nicht mehr vertrauen können. Das Resultat ist, dass bestimmte Meinungen und Haltungen, vor allem jene, die bereits jetzt im öffentlichen Diskus kaum sichtbar sind noch weiter in den Untergrund gedrängt und faktisch ausgelöscht werden.

Schlussworte

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht bereits 2008 ein Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme eingeführt. Dieses auch als IT-Grundrecht bezeichnete Recht leitete das Gericht von dem im Grundgesetz festgelegten allgemeinen Persönlichkeitsrecht ab, und ergänzt unter anderem das Telekommunikationsgeheimnis. Beides gewährt Grundrechte auf eine private und vertrauliche Kommunikation.

Am Beispiel Pädophilie zeigen sich die Schwächen von Sätzen wie „wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten“, mit denen Maßnahmen zur anlasslosen Massenüberwachung gerne gerechtfertigt werden. Als pädophiler Mensch hat man nämlich eine ganze Menge zu befürchten, und zwar auch dann, wenn man sich rechtlich und moralisch einwandfrei verhält. Privat- und Intimsphäre sind auch im digitalen Raum Teil der Grund- und Menschenrechte. Niemand sollte sich dafür rechtfertigen müssen, seine Grundrechte in Anspruch zu nehmen.

Pädophile Menschen sind eine besonders vulnerable Gruppe und mehr als jede andere Minderheit in Europa vor Ausgrenzung, Diskriminierung und gewaltsamen Übergriffen bedroht. Und das vollkommen unabhängig davon, ob Straftaten begangen werden oder nicht. Die Chatkontrolle ist damit für alle pädophilen Menschen, die in der EU leben die wahrscheinlich bedrohlichste und gefährlichste Maßnahme, die seit langem auf politischer Ebene disktuiert wird. Wird diese so beschlossen, wie sie aktuell vorgestellt wird, droht die Abschaffung der letzten Schutzräume für pädophile Menschen im digitalen Raum, die Einschränkung von Hilfs- und Therapieangeboten sowie eine noch viel tiefgreifendere Diskriminierung und Kriminalisierung, als wir sie jetzt schon erfahren.

Wer selber gegen die Chatkontrolle aktiv werden will, findet hier abschließend einige Anlaufstellen: - Informationen und Beiträge zum Thema Chatkontrolle - Termine für Demonstrationen und Protestaktionen - Petition gegen die Chatkontrolle auf campact - Petition gegen die Chatkontrolle auf change.org