Ich habe als Betroffener hier und anderswo schon viel über das Stigma gegen pädophile Menschen geschrieben. Meist schreibe ich darüber, welche Auswirkungen das Stigma auf Betroffene hat, etwa über alltägliche Formen digitaler Gewalt und Hasskommentare, gesellschaftliche Marginalisierung und Auslöschung, staatliche Eingriffe in die Grundrechte pädophiler Menschen als auch psychische und körperliche Belastungen, die sich aus der Stigmatisierung ergeben.

Neben der Frage, was für Auswirkungen das Stigma gegen pädophile Menschen für Betroffene hat, stellt sich auch die Frage, was die Auswirkungen für diejenigen sind, die das sind, was pädophilen Menschen gerne pauschal unterstellt wird zu sein: Missbrauchstäter:innen. Man könnte vielleicht meinen, dass das starke Stigma gegen Pädophile zumindest dazu führt, dass wirkliche Täter:innen umso stärker verurteilt werden. Doch noch nicht einmal das ist der Fall. Eher im Gegenteil: das Stigma hilft Täter:innen sogar noch ihre Taten zu rechtfertigen, für geringere Strafen zu plädieren und tatsächlich milder bestraft zu werden.

Ein Beispiel dafür spielte sich in Krefeld im vergangenen August ab. Dort wurde ein 31-jähriger Mann wegen Besitzes von vier kinderpornografischen Bildern zu einer Geldstrafe von 2400 € verurteilt – und das, obwohl die gesetzliche Mindeststrafe eigentlich bei einem Jahr Haft liegt. Der Täter gehört zu einer Gruppe sogenannter „Pädojäger“ – also Gruppen, die versuchen Menschen in die Falle zu locken, die sexuelle Kontakte mit Minderjährigen eingehen wollen, um sie der Polizei zu übergeben1 (manchmal aber auch um sie zu misshandeln, zu erpressen und auszurauben). Obwohl der Mann sich selber des Besitzes von Kinderpornografie strafbar gemacht hatte, bezeichnete sogar der Staatsanwalt das Verhalten des Täters als „moralisch vertretbar“. Der Richter scheint dieser Auffassung gefolgt zu sein und deshalb diese außergewöhnlich niedrige Strafe ausgesprochen zu haben. Nicht nur wird damit das „Jagen“ von vermeintlichen Pädophilen legitimiert, sondern auch ein Stück weit die Begehung von Straftaten für diesen Zweck relativiert.

Und das ist nicht der einzige Fall, in dem mit Täter:innen überraschend mild umgegangen wird, wenn sie überzeugend darstellen können, dass sie nicht pädophil sind. Ein Bericht über eine Frau, die unter anderem wegen schweren Kindesmissbrauchs ihrer eigenen Kinder verurteilt wurde, malt ein Porträt der Täterin, das sympathisierender und mitfühlender ist als die meisten Mediendarstellungen nicht-übergriffiger Pädophiler. Für sie spreche – auch laut ihres Verteidigers – dass sie keine sexuellen Neigungen zu Kindern habe. Auch in anderen Fällen werden Gutachten, die keine Pädophilie bei den Angeklagten feststellen können als etwas aufgeführt, was für sie sprechen würde, und dementsprechend das Urteil mildern. Oft bleiben nicht-pädophilen Täter:innen Therapieauflagen erspart, die pädophile Täter:innen fast immer bekommen.

Im Zuge einiger solcher Fälle haben Staatsanwälte sogar offen zugegeben, dass die Gesetze eigentlich Pädophile hart bestrafen sollen. Laut Oberstaatsanwalt Florien Kienle etwa darf es nicht sein, dass wegen Ermittlungen in weniger gravierenden Fällen (von nicht-pädophilen Täter:innen) die Verfolgung „echter Pädophiler“ leide. Dies offenbart eine Haltung, nach der Sexualstraftaten gegen Kinder nur dann wirklich schlimm sind, wenn sie von Pädophilen begangen werden. Diese Idee beruht nicht zuletzt auch auf dem Stigma, nachdem Pädophile besonders gefährlich und abartig seien und deshalb, wenn es zu Taten komme, entsprechend auch besonders schwer verurteilt gehören. Nur: für die Opfer solcher Taten dürfte es erst einmal egal sein, welche Sexualität der:die Täter:in hat. Es ist grundsätzlich unverständlich, warum pädophile Täter:innen nur aufgrund ihrer Sexualität härter bestraft werden sollten, und im Umkehrschluss führt dies dazu, dass nicht-pädophile Täter:innen, die immerhin die Mehrheit ausmachen mit deutlich milderen Strafen rechnen und sich hinter ihrer „gesunden“ Sexualität verstecken können.

Aber auch für Täter:innen, die tatsächlich pädophil sind, bietet das Stigma eine Chance, wie ein kürzlich ein Gerichtsverfahren vor dem Landgericht Koblenz gezeigt hat. Der 62-jährige Angeklagte wurde beschuldigt, erst seine Stieftochter, und später seinen eigenen Sohn über Jahre hinweg zum Teil schwer sexuell missbraucht zu haben. Zusammen mit seinem Anwalt plädierte er für eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus statt einer Haftanstalt. Als Begründung – und Erklärung für seine Taten – führte der Täter an, dass seine pädophile Neigung ihn zu den Taten getrieben habe.

Der Angeklagte nutzte hier das Stigma gegen Pädophile sehr geschickt aus, um ein für ihn angenehmeres Urteil zu erreichen2. Der Kern des Stigmas ist es, Pädophile als grundsätzlich gefährlich zu sehen, als „tickende Zeitbomben“ und als Menschen, die entweder schon oder noch nicht zum Täter geworden sind, wobei es bei letzteren angeblich nur eine Frage der Zeit sei. Dahinter steckt der Gedanke, dass eine pädophile Sexualität schwer zu kontrollieren sei, und höchstens mit unmenschlicher Willenskraft (und viel Therapie, natürlich) „unter Kontrolle gebracht“ werden kann.

Genau diese Vorurteile instrumentalisiert der Angeklagte. Seine „Verteidigung“ ist im Wesentlichen: Ich bin pädophil, natürlich habe ich Kinder vergewaltigt – was hätte ich denn machen sollen? Ich kann doch nichts dafür, meine Pädophilie hat mich dazu getrieben. Die Medien machen sich allzu häufig zum Spielball solcher verharmlosenden Narrativen, in einem anderen Fall etwa schrieb eine Lokalzeitung über einen pädophilen Täter, dass dieser „Täter und gleichzeitig Opfer einer Neigung [ist], gegen die er nur schwer ankämpfen kann“.

Das ist natürlich, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, kompletter und gefährlicher Unsinn. Pädophil zu sein, treibt niemanden dazu, seine eigenen Kinder über Jahre hinweg schwer zu missbrauchen. Missbrauch zu begehen, ist eine aktive Entscheidung, und die Verantwortung dafür liegt lediglich bei den Tätern. Die Aussage des Angeklagten kann eigentlich nur als schwacher Versuch gewertet werden, sich selbst auf Kosten aller gesetzestreu lebenden pädophilen Menschen besser darzustellen. Es ist ein maximaler Affront für die zahlreichen pädophilen Menschen, die ihr Leben leben, ohne je auch nur auf den Gedanken zu kommen, das zu tun, was der Angeklagte über Jahre hinweg getan hat.

Es ist kaum zu glauben, aber dennoch folgte selbst der psychiatrische Gutachter der Nette-Gut-Klinik dieser Selbstdarstellung und bescheinigte dem Täter eine verminderte Schuldfähigkeit, da er sich aufgrund seiner pädophilen Neigung teils nicht unter Kontrolle gehabt hätte. Immerhin sind das Gericht und die Staatsanwaltschaft diesem Gutachten letztendlich nicht gefolgt. Beide waren der Auffassung, dass der Angeklagte den Gutachter manipuliert habe, um ihn zu dieser Einschätzung zu bringen. Unter dem Gesichtspunkt könnte man durchaus auch anzweifeln, ob der Angeklagte überhaupt pädophil war, oder ob diese Selbsteinschätzung teil seiner Strategie war. So oder so illustriert dieser Fall, wie brandgefährlich das Stigma auch für den Kinderschutz sein kann.

Die Narrative „wer pädophil ist, missbraucht zwangsläufig“ kann Täter:innen dabei helfen, ihre Taten vor sich selbst zu rechtfertigen, und im Anschluss vor Gericht für mildere Strafen zu plädieren, indem sie argumentieren, dass sie nicht anders hätten handeln können. Deswegen ist es wichtig, Kindesmissbrauch nicht als zwangsläufige Folge von Pädophilie darzustellen. Dies negiert die Verantwortung, die jede:r Täter:in, egal ob pädophil oder nicht, hat.


  1. Obwohl sie sich selber als Pädophilen-Jäger bezeichnen, handelt es sich bei den Menschen, die sie ins Visier nehmen meistens wohl eher nicht um Pädophile

  2. Ob eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus tatsächlich ein angenehmeres Urteil gewesen wäre, sei mal dahingestellt.