Anfang Juni veröffentlichte das Stanford Internet Observatory, eine Forschungseinrichtung der Stanford University, einen Bericht über Strukturen des Vertriebs von Kinder- und Jugendpornografie auf sozialen Medien. Die Forschergruppe stellte fest, dass es auf Online-Plattformen wie Twitter oder TikTok eine große Anzahl Accounts von anscheinend Minderjährigen gibt, die pornografisches Material, das sie selber von sich angefertigt haben, gegen Entgelt anbieten und verkaufen. Den Forschern gelang es, über das Nachverfolgen von Followern ein Netzwerk von Accounts, die damit in Verbindung stehen, zu identifizieren.

Dieses Netzwerk lässt sich in zwei Gruppen aufteilen. Auf der einen Seite stehen Verkäufer-Accounts, die meistens von Minderjährigen selber betrieben werden. Diese bieten über sogenannte „Menüs“ meist Videos und Bilder mit unterschiedlichen Inhalten, zum Teil aber auch sexuelle Treffen zu verschiedenen Preisen an. Der Großteil der Accountbetreiber gab an, zwischen 13 und 17 Jahre alt zu sein. Auch wenn die Forscher darauf hinweisen, dass einige der „Menüs“, die sie gefunden haben auch Material von sich, als sie jünger waren, angeboten haben, reden wir hier also wohl eher von Jugend- statt von Kinderpornografie. Die Autor:innen selber benutzen aber durchgängig den nicht ganz unproblematischen Begriff SG-CSAM (self-generated child sexual abuse material, zu Deutsch etwa selbst erstellte Kindesmissbrauchsabbildungen).

Auf der anderen Seite stehen die vermutlichen Käufer-Accounts, die unter den Followern der Verkäufer-Accounts gefunden wurden. Zahlenmäßig machten diese einen deutlich kleineren Anteil aus, bei Instagram wurden beispielsweise 405 Verkäufer- und 58 potenzielle Käufer-Accounts identifiziert. Dabei bleibt allerdings unklar, ob diese Accounts tatsächlich in illegale Aktivitäten verwickelt sind. Laut Aussage der Forscher wurden die Käufer-Accounts an das amerikanische NCMEC gemeldet, dessen Aufgabe unter anderem die Entfernung krimineller Inhalte ist. Nach einem Monat waren 28 Käufer-Accounts weiterhin aktiv, was insbesondere, da viele dieser Accounts sogar unter Realnamen betrieben wurden die Vermutung nahe liegt, dass diese schlicht nichts Kriminelles getan haben.

Unter den Plattformen, welche die Forschergruppe untersucht hatten, stach Instagram besonders negativ hervor. Nicht nur wurden dort die meisten Accounts gefunden, Instagrams Algorithmen halfen sogar aktiv bei der Bewerbung dieser Inhalte. Schon das Folgen eines Verkäufer-Accounts führte zu Empfehlungen weiterer ähnlicher Accounts.

Wer mehr wissen möchte, findet den frei zugänglichen Bericht in der digitalen Bibliothek der Stanford University. Wichtig sind hier zusammenfassend vor allem zwei Punkte:

  1. Die Netzwerke bestehen überwiegend aus Accounts, die von 13-17-jährigen Jugendlichen selber betrieben werden und vor allem Jugendpornografie sowie extreme und riskante Handlungen von sich anbieten.
  2. Das Wort „Pädophilie“ wird weder von der Forschergruppe, noch im zugehörigen Blogbeitrag des Internet Observatorys auch nur einmal erwähnt.

Letzteres ist besonders wichtig. Natürlich machen sich die Käufer strafbar, wenn sie gegen Entgelt sexuelle Videos mit Minderjährigen erwerben oder sich gar auf sexuelle Treffen einlassen. Es handelt sich dann um Sexualstraftäter. Es ist aber einerseits falsch, und andererseits stigmatisierend Sexualstraftaten pauschal auf eine sexuelle Identität zurückzuführen. Und wenn man in diesen Fall diesen Fehlschluss dennoch machen wollte, müsste man – da es eben vor allem um Jugendliche, und nicht um Kinder geht – von Hebe- oder Ephebophilie reden, und nicht von Pädophilie.

Kurz gesagt: diese Netzwerke, die vor allem auf Instagram gefunden wurden, haben schlicht nichts mit Pädophilie zu tun. Pädophilie ist die sexuelle Ansprechbarkeit auf vorpubertäre Kinder, die in der Regel jünger als zwölf sind, während es hier um sexuelle Grenzverletzungen gegen Jugendliche geht.

Pädophile als Sündenbock der Gesellschaft

In den deutschsprachigen Medien wurden derart unwichtige Details schnell unter dem Tisch fallen gelassen. Stattdessen wurde aus diesen Ergebnissen in den medialen Narrativen schnell ein „Pädophilen-Netzwerk“, das ungestraft auf Instagram agieren könne.

Die Schlagzeilen lauteten zum Beispiel: Instagram half Pädophilen, Kinderpornografie über Hashtags zu finden und schlug sogar Bilder vor (Business Insider), Instagram-Algorithmen empfehlen Pädophilen-Netzwerke (futurezone), So fördern Instagram-Algorithmen die Vernetzung pädophiler Netzwerke (t3n), Algorithmen von Instagram fördern Vernetzung Pädophiler (der Kurier), Pädophiles Netzwerk auf Instagram sofort abstellen (Heise), Pädophile vernetzen sich auf Instagram (Hallo : Eltern) oder Instagrams Algorithmus befördert Reichweite von Pädophilen-Netzwerken (Der Standard).

Formulierungen wie „Pädophilen-Netzwerke“ oder „Pädophilenringe“ waren in der Berichterstattung um das Thema allgegenwärtig. Pauschal wird allen Menschen, die für sexuelle Handlungen und Darstellungen von Jugendlichen bezahlen somit eine pädophile Sexualität unterstellt. Die angebotenen Darstellungen werden zudem gerne als „Pädophilen-Inhalte“ bezeichnet. Dadurch wird eine maximale Distanz zwischen der nicht-Pädophilen Mehrheit und diesem kriminellen Verhalten geschaffen. Anstatt sich selbstkritisch schwierige Fragen stellen zu müssen, die vielleicht auch das eigene Umfeld betreffen könnten, können alle nicht-pädophilen erleichtert aufatmen. Denn es ist angenehmer, sich zu sagen, dass solche Vorfälle "pädophile Netzwerke" sind, die "pädophile Inhalte" unter "Pädophilen" verbreiten, als anzuerkennen, dass hinter den Käufer-Accounts auch ganz „normale“ Menschen stecken, die sich nicht durch ein leicht festzulegendes Merkmal von den Durchschnittsbürgern unterscheiden. Das ist aber ein gefährlicher Trugschluss – die meisten Täter:innen sind schon bei Sexualstraftaten gegen Kinder nicht pädophil, bei Sexualstraftaten gegen Jugendliche werden es wohl eher noch weniger sein. Die Narrativen um die „Pädophilen-Netzwerke“ sind eine Wohlfühl-Lüge, die den Blick auf die tatsächlichen Täter:innen verschleiert.

Auf der anderen Seite erreichen diese Narrativen die pauschale Kriminalisierung pädophiler Menschen, indem jedem Netzwerk pädophiler Menschen kriminelle Machenschaften unterstellt wird. Gleichzeitig befördert dies weiter die gesellschaftliche Ausgrenzung Pädophiler. Wenn etwa beklagt wird, dass es „viele Pädophile auf der Plattform Instagram“ gibt (hr-iNFO), wird nicht sexuell ausbeuterisches Verhalten problematisiert, sondern die Präsenz Pädophiler auf sozialen Medien. Nicht nur, dass dadurch die wirklichen Täter:innen nicht angeprangert werden, so fordert dies den grundsätzlichen Ausschluss pädophiler Menschen aus derartigen Online-Plattformen völlig unabhängig davon, ob sie mit diesen Taten überhaupt in Zusammenhang stehen oder nicht. Somit wird nicht sexuelle Gewalt, sondern Pädophilie zur Gefahr, die bekämpft werden muss. Dies führt immer mehr dazu, dass Pädophile aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen werden und Unschuldige für die Taten von Menschen in Mitleidenschaft gezogen werden, die höchstwahrscheinlich noch nicht einmal pädophil sind. Am Ende fördert diese Art der Berichterstattung die Stigmatisierung pädophiler Menschen und kann im schlimmsten Fall als scheinbare Legitimation Diskriminierung, Hasskriminalität und Gewalt gegen Pädophile fördern.

Unwillen oder Unwissen?

„Geh nicht von Böswilligkeit aus, wenn Dummheit genügt“, besagt ein als Hanlons Rasiermesser bekanntes Sprichwort. Vielleicht steckt hinter den diskriminierenden und verharmlosenden Formulierungen also gar keine bewusste Strategie, sondern einfach nur Unwissen und die Übernahme des weit verbreiteten Vorurteils, nach dem Pädophilie und sexuelle Grenzüberschreitungen gegenüber Minderjährigen quasi Synonyme sind?

Um dies zu testen, habe ich insgesamt neun Redaktionen, die stigmatisierende Artikel zu dem Thema veröffentlicht haben per Mail angeschrieben und auf die Problematik hingewiesen. Die Mail gibt es am Ende des Beitrags im Original zu lesen. Verschickt habe ich die Mails am 13.06.

Das Ergebnis: nach gut einem Monat hat von den neun Redaktionen keine einzige geantwortet (von automatisierten Antworten abgesehen). Acht haben ihre Artikel weiterhin unverändert Online.

Die Neue Züricher Zeitung (NZZ) hat zwar nicht geantwortet, aber zumindest als einzige ihren Artikel marginal angepasst. Statt „Wie Pädophilie-Netzwerke vom Algorithmus profitieren“ heißt es jetzt: „Der Instagram-Algorithmus begünstigt die Verbreitung von pädokriminellen Inhalten.“ Damit nutzt die Redaktion ein ähnliches Vokabular wie Der Spiegel und T-Online, die als einzige Medien von Anfang an von Pädokriminalität statt Pädophilie gesprochen haben. Leider ist dies nur eine leichte Verbesserung, da auch der Begriff Pädokriminalität eine Verbindung zu Pädophilie nahe liegt, die in den meisten Fällen wie gesagt einfach nicht gegeben ist, und die Verknüpfung zwischen Pädophilie und Straftaten weiter aufrechterhält.

Ach ja, und im Artikel der NZZ ist später im Text trotzdem weiterhin noch von „Pädophilie-Netzwerke“ die Rede.

Wie konnte es so weit kommen?

Um zu sehen, wie das Narrativ der Pädophilie-Netzwerke, die strafbare pädophile Inhalte austauschen in der Berichterstattung so dominant geworden ist, lohnt sich ein Blick darin, wie die Geschichte überhaupt viral gegangen ist.

Begleitend zu der Veröffentlichung des Forschungsberichts erschien ein Artikel im englischsprachigen Wall Street Journal (WSJ). Hierzu muss erwähnt werden, dass in der englischsprachigen Medienwelt die Gleichstellung von Pädophilie und Sexualstraftaten noch einmal deutlich stärker ist, und selbst übelste hetzerische Artikel dort an der Tagesordnung sind. Einen Eindruck vermittelt dieser Beitrag (auch wenn er inzwischen schon über drei Jahre alt ist, geändert hat sich in der Zeit nicht viel). Nicht zuletzt dürfte dies mit ein Grund dafür sein, dass eine wachsende Zahl pädophiler Menschen sich lieber als Minor Attracted Person (MAP) identifizieren, statt als Pedophile.

So ist es nicht verwunderlich, dass der WSJ als Erstes von Pädophilie in dem Kontext spricht. Instagram verbindet ein gewaltiges Pädophilen-Netzwerk lautet der Titel des Artikels, welcher die Ergebnisse des Forschungsberichts erstmals an die breite Öffentlichkeit getragen hat. Zur Erinnerung: dieses „gewaltige“ Netzwerk bestand vermutlich aus so etwa 30 Accounts, die sich möglicherweise illegal verhalten haben. Damit wird bereits in der Überschrift die Narrative festgelegt: Das Hauptproblem ist demnach nicht, dass Instagram kriminelle Inhalte nicht sorgfältig genug filtert und sogar noch bewirbt, oder welche Umstände dazu führen, dass Jugendliche scheinbar ohne Wissen ihrer Erziehungsberechtigten sich selber derart verkaufen; sondern, dass Pädophile sich frei im Internet bewegen können.

Auch der Artikel selber erfüllt alle Punkte für die Stigmatisierung Pädophiler: Die Käufer werden pauschal als Pädophile bezeichnet, Pädophile im Internet werden als zu bekämpfende Bedrohung dargestellt, eine positive Einstellung zu Pädophilie wird als ernstzunehmende Gefahr porträtiert, es wird von Pädophilen an Stellen geredet, wo eigentlich Straftäter:innen gemeint sind, und so weiter.

Von dort aus haben zahlreiche Medien die Geschichte übernommen, und dabei die wesentlichen Formulierungen einfach übernommen. Am Ende ist die Geschichte auch in den deutschsprachigen Bereich angekommen, und auch hier haben die Medien die Darstellungen einfach unkritisch kopiert und ins Deutsche übersetzt, offenbar ohne zu hinterfragen, ob das Thema überhaupt was mit Pädophilie zu tun hat.

Doch warum hat der WSJ-Artikel überhaupt angefangen von Pädophilie zu reden, wenn weder im Forschungsbericht noch in der zugehörigen Pressemitteilung das Wort überhaupt erwähnt wurde? Ich habe an den WSJ auch eine englischsprachige Version meiner Mail verschickt, und tatsächlich eine Antwort von Jeff Horwitz, einem der beiden Autoren des Artikels, bekommen.

In der (sehr knappen) Antwort erklärt Horwitz, dass er sich über den Begriff Pädophilie tatsächlich Gedanken gemacht habe und sich der Differenz zwischen der „alltäglichen“ (sprich: falschen) Gebrauch als Begriff für Sexualstraftäter und dem „medizinischen“ (sprich: richtigen) Gebrauch als Begriff für Menschen, die sich zu Kindern hingezogen fühlen, bewusst gewesen sei. Die Mail schließt mit dem vagen Versprechen, in der Zukunft mehr auf die Unterscheidung zu achten, ohne zu erklären, warum er sich trotz besseren Wissens für die falsche und stigmatisierende Terminologie entschieden hat.

Ich glaube, wenn es um Pädophilie geht, müssen wir Hanlons Rasiermesser einmal überdenken.

Fazit

Forscher aus Stanford finden auf sozialen Medien und insbesondere auf Instagram Accounts von Jugendlichen, die sexuelle Treffen mit und Darstellungen von sich verkaufen. Obwohl dies mit Pädophilie reichlich wenig zu tun hat, veröffentlicht das Wall Street Journal dies unter der Überschrift, dass auf Instagram ein gewaltiges Pädophilen-Netzwerk existieren würde. Deutschsprachige Medien übernehmen diese Narrative unkritisch, befördern damit die Stigmatisierung Pädophiler und versäumen es gleichzeitig, die wahren Ursachen und Täter:innen sexualisierter Gewalt zu beleuchten. Kritische Hinweise werden von den Redaktionen ignoriert, lediglich ein Artikel wurde marginal angepasst, ohne die grundlegenden Probleme zu beheben.

Anhang: Mail an die Redaktionen

Sehr geehrte Redaktion,

Ich schreibe Ihnen anlässlich Ihres Artikels „[Titel]“ vom Datum, der sich mit den Missständen bei Meta in Bezug auf die Verbreitung unangemessener Inhalte befasst. Während ich Ihre Bemühungen schätze, auf dieses wichtige Thema aufmerksam zu machen, möchte ich meine Bedenken hinsichtlich der verwendeten Terminologie, insbesondere des Begriffs „Pädophilie“ in Formulierungen wie „[Beispiel]“, zum Ausdruck bringen.

Pädophilie ist definiert als die sexuelle Präferenz zu vorpubertären Kindern, und ist damit an sich ist keine Straftat, sondern ein Teil der Sexualität, die bei einigen Menschen vorhanden ist, ohne dass diese sich das ausgesucht haben. Strafbar ist der sexuelle Missbrauch von Kindern, unabhängig von der sexuellen Orientierung der Täter:innen. In Studien wurde wiederholt festgestellt, dass die Mehrheit der Kindesmissbrauchstäter:innen nicht pädophil ist. Zudem passt der Begriff Pädophilie auch darüber hinaus grundsätzlich nicht, da es in den Recherchen des Stanford Internet Observatories vorwiegend um 13-17-jährige Jugendliche, und nicht um vorpubertäre Kinder ging.

Pauschal von „Pädophilen“ zu reden, wenn damit eigentlich Täter (in diesen Fall Konsument:innen von Kinder- und Jugendpornografie) gemeint sind, hat somit zwei Folgen. Einerseits führt die Verwendung des Begriffs ohne klare Abgrenzung dazu, dass unschuldige Menschen fälschlicherweise mit Täter:innen gleichgesetzt werden. Straffrei lebende pädophile Menschen werden dadurch ungerechtfertigterweise kriminalisiert und stigmatisiert.

Andererseits kann die Beschränkung dieser Missstände auf das Thema „Pädophilie“ verharmlosend wirken und von den nicht-pädophilen Täter:innen ablenken, die ebenfalls in solchen Netzwerken unangemessene Inhalte verbreiten. Indem der Fokus auf die Pädophilie gelegt wird, wird eine unsachgemäße Gleichstellung zwischen Sexualstraftaten gegen Kinder und Pädophilie hergestellt, die dazu führen kann, dass andere Tätergruppen und ihre kriminellen Handlungen unbeachtet bleiben oder als weniger schlimm empfunden werden.

Ich möchte daher darum bitten, den Artikel zugunsten einer präziseren Terminologie zu überarbeiten, welche die Probleme angemessen beschreibt, und zum Beispiel anstelle von „Pädophilen“ klar von „Täter:innen“ oder „Kriminellen“ zu sprechen. Die Fokussierung auf die sexualisierte Ausbeutung von Jugendlichen und Kindern statt auf vermeintliche sexuelle Neigungen fördert eine gerechtere und differenziertere Diskussion, die nicht zur weiteren Stigmatisierung einer Minderheit beiträgt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, dass Sie meine Anregung in Betracht ziehen werden.

Mit freundlichen Grüßen
Sirius (Pseudonym)
Ein straffrei lebender pädophiler Mensch