Im vergangenen Sommer bin ich Zeuge eines Verbrechens geworden.
Der Tatort: ein Meeresstrand an einem warmen Sommertag. Das Opfer war ein Junge im Alter von vielleicht acht oder neun Jahren, der mit seiner Familie dort völlig unbedarft am Strand spielte. Die Täterin war die Großmutter des Jungen. Plötzlich zückte sie ohne jegliches Schuldbewusstsein ihr Handy und nahm mehrere Bilder und Videos von ihrer Familie auf – darunter auch von ihrem Enkel, der im Übrigen völlig nackt am Strand herumtobte und für die Kamera von sich aus diverse Posen einnahm.
Eine an und für sich harmlose Urlaubssituation, möchte man meinen. Ebenso ist es sicherlich auch nicht ungewöhnlich Bilder von schönen Momenten aus den Familienurlauben zu machen. Tatsächlich hat der Gesetzgeber aber 2021 solche Bilder, wie die Großmutter sie aufgenommen hatte, unter Strafe gestellt. Dabei meine ich nicht die Strafverschärfung, die am 01. Juli 2021 in Kraft getreten ist und nicht nur die Strafmaße für Kindesmissbrauch und Kinderpornografie massiv erhöht, sondern auch Sexpuppen mit kindlichem Aussehen unter Strafe gestellt hat. Bereits ein halbes Jahr früher ist eine Gesetzesänderung in Kraft getreten, welche die Strafbarkeit von Kinderpornografie signifikant erweitert hat, aber selbst bei Expert:innen wenig Beachtung gefunden hat.
Kleine Änderung mit großen Folgen
Ein Grund dafür, dass die Strafverschärfung vom 01.01.2021 ziemlich unter dem Radar geflogen ist, dürfte wohl sein, dass es sich bei dem erlassenen Gesetz eigentlich gar nicht um eine Strafverschärfung gehalten hat. Das 60. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches war überwiegend eine rein formale Modernisierung des Strafgesetzbuches, das veraltete Begriffe durch moderne Äquivalente ersetzt hat, ohne dass dadurch die Bedeutung der Paragrafen geändert werden sollte. So ersetzt das Gesetz etwa den alten Begriff der „pornographischen Schriften“ durch die passendere Formulierung „pornographische Inhalte“. Ebenso wurden die fragwürdigen und nicht mehr zeitgemäßen Begriffe „Schwachsinn“ und „Abartigkeit“ durch „Intelligenzminderung“ und „Störung“ ersetzt.
Inhaltlich hat sich durch diese Anpassungen also nichts Wesentliches geändert. Neben all diesen harmlosen Änderungen findet man allerdings, versteckt in Abschnitt 25 b) aa) bbb), folgenden Satz:
§ 184b [Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Inhalte] wird wie folgt geändert: […] In Buchstabe b wird das Wort „unnatürlich“ durch das Wort „aufreizend“ ersetzt.
Der erwähnte Buchstabe b beschreibt eine von drei Varianten, ab wann ein Inhalt als Kinderpornografie zählt (Variante a bezieht sich auf Aufnahmen sexueller Handlungen, und Variante c auf Nacktbilder). In seiner alten Fassung stellte Variante B die „die Wiedergabe eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“ unter Strafe. Eingeführt wurde die Strafbarkeit solcher Abbildungen im Jahr 2015 nach der Affäre um den ehemaligen SPD-Politiker Sebastian Edathy, bei dem sogenannte Posing-Bilder gefunden wurden, die bis dahin noch legal waren.
Die Änderung von „unnatürlich“ in „aufreizend“ hatte schon 2017 die Reformkommission des Strafrechts gefordert. Dies begründete die Kommission damit, dass die Strafbarkeit von Posing-Bildern sich aus der abgebildeten (sexuell anzüglichen) Körperhaltung ergeben solle, und nicht daraus, wie diese zustande kommt. Die vormals geltende Beschränkung auf „unnatürlich“ geschlechtsbetonte Körperhaltungen schloss allerdings keine Bilder von Kindern ein, die anzügliche Haltungen unwillkürlich einnehmen oder rein zufällig in einer Körperhaltung fotografiert werden, die als anzüglich interpretiert werden kann. Dies sollte aber laut Argumentation der Reformkommission, der sich der Gesetzgeber weitestgehend angeschlossen hat, ebenfalls kriminalisiert werden.
Durch die Änderung dieses einen Wortes sind also auf einen Schlag eine ganze Reihe von Aufnahmen kriminalisiert worden, die vorher legal waren. Aufnahmen, die sich vermutlich gar nicht so selten in Familienalben finden, wie zum Beispiel die Aufnahme eines Kindes, das mit gespreizten Beinen in seinem Bett liegt und schläft. Hier kann nicht von einer „unnatürlich“ eingenommenen Körperhaltung gesprochen werden, da eine im Schlaf eingenommene Haltung natürlicher kaum sein könnte, aber durchaus von einer „aufreizenden“ (laut Gesetzgeber). Oder auch das Bild vom Urlaub am Meer, auf dem der nackt am Strand spielende Enkel gerade eine breitbeinige Heldenpose einnimmt. Und selbst wenn der Junge dabei eine Badehose getragen hätte, wäre es möglicherweise immer noch strafrechtlich relevant, da Variante b auch Bilder eines „teilweise unbekleideten Kindes“ unter Strafe stellt.¹
Diese Ersetzung eines einzigen Wortes im Rahmen eines Gesetzes, das überwiegend aus der inhaltsgleichen Modernisierung von Begrifflichkeiten besteht, wirkt auf den ersten Blick unscheinbar und nicht der Rede wert. Im Bundestag ist während des Gesetzgebungsverfahrens diese Änderung noch nicht einmal diskutiert worden. In der Realität führte dies aber dazu, dass zahlreiche Fälle plötzlich strafrechtlich relevant wurden, die vorher noch legal waren. Wenige Monate später, im Juni 2021, sollte zudem die Strafverschärfung in Kraft treten, seit der jeder einzelne Fall von Kinderpornografie ungeachtet der individuellen Umstände als Verbrechen verfolgt werden muss. Das Ergebnis zeigt sich in der Kriminalstatistik, nach der sich die Anzahl der polizeilich erfassten Fälle von Kinderpornografie im Jahr 2021 mehr als verdoppelt hat.
Die Auswirkungen werden auch in einer aktuellen Folge des NDR-Magazins „Hamburg Journal“ deutlich. In der Sendung hält Oberstaatsanwalt Michael Abel ein (zensiertes) Meme vor die Kamera, auf dem im Vordergrund ein Mann am Strand zu sehen ist, und im Hintergrund zwei Kinder, die zufällig wie in einer Missionarsstellung übereinanderliegen. Eine sexualisierte Interpretation wird durch die Bildunterschrift begünstigt („Vorne mein Onkel Karl-Heinz, im Hintergrund sieht man mich spielen“). Das Bild selber sieht aber wie ein normales Urlaubsfoto aus, das im Hintergrund zufällig zwei Kinder in einer Körperhaltung ablichtet, die man mit hinreichend schmutziger Geisteshaltung als Sexualstellung interpretieren könnte. Aufgrund der Zensur ist nicht festzustellen, ob die Kinder überhaupt unbekleidet sind. Laut Beschreibung des Vorsitzenden Richters am Landgericht Hof, Dr. Matthias Goers, der ein Urteil zu dem Bild kommentiert hat, sind die Kinder zwar unbekleidet, aber „Genitalien und Geschlecht der Abgebildeten sind nicht erkennbar“.
Dem NDR-Bericht zufolge sorgt alleine dieses Bild in Hamburg für aktuell rund 400 Strafverfahren. Im gleichen Bericht sieht man wenig später, dass es in Hamburg im gesamten Jahr 2023 ungefähr 1000 Fälle von Kinderpornografie gegeben hat. Dieses Bild alleine macht also schon einen signifikanten Anteil aller Fälle in dem Deliktbereich aus.
Was ist eigentlich aufreizend?
Erzählt man Leuten, dass auch solche Strand- und Familienfotos Kinderpornografie sein können und es sich schon beim Besitz um schwere Verbrechen handelt, erntet man oft totalen Unglauben oder empörte Ausrufe, dass „man ja pädophil sein müsse“, um in harmlose Situationen etwas Sexuelles zu sehen. Und ja, gewissermaßen geht es genau darum.
Die übliche juristische Definition dafür, was „aufreizend“ ist lautet in etwa, dass es für den „durchschnittlichen Betrachter“ einen aufreizenden Charakter aufweisen muss. Wie Prof. Dr. Jörg Eisele und Rainer Franosch in einen Aufsatz für die Aufarbeitungskommission allerdings richtigerweise hinweisen, ist für den durchschnittlichen (nicht-pädophilen) Menschen der Anblick nackter Kinder grundsätzlich nicht sexuell aufreizend, sodass wohl der „durchschnittliche pädophile Betrachter gemeint ist“.
Anders gesagt: Das Bild eines ganz oder teilweise unbekleideten Kindes gilt dann als strafwürdig, wenn der durchschnittliche nicht-pädophile Betrachter meint, dass der durchschnittliche pädophile Betrachter dies sexuell anregend finden könnte. Der Satz „man muss pädophil sein, um da etwas Anrüchiges zu sehen“ ist unbeabsichtigterweise also vielleicht gar keine schlechte Orientierung um einzuschätzen, ob ein Inhalt kinderpornografisch sein könnte.
Und das ist vielleicht das Grundproblem mit der aktuellen Gesetzgebung, das aktuell dazu führt, dass in Hamburg in 400 Fällen gegen Menschen ermittelt wird, die ein aus einem Urlaubsfoto erstelltes Meme geteilt haben. Die hauptsächliche Intention des Gesetzgebers scheint es nicht zu sein, Kinder vor Schaden zu bewahren und ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen, sondern zu bestrafen, was Pädophile erregen könnte. Dies führt nun zu der absurden Situation, dass da draußen Richter und Staatsanwälte versuchen, sich in den Kopf eines Pädophilen zu versetzen und abzuschätzen, ob wir etwas erregend finden könnten oder nicht, um daran dann festzumachen, ob eine Abbildung strafrechtlich relevant ist.
Der Versuch, alle potenzielle Masturbationsvorlagen für Pädophile zu kriminalisieren, sorgt somit auch für die Kriminalisierung etwa von Eltern, weil nun einmal auch an sich harmlose Alltagsbilder von Kindern erregend für Pädophile (sprich: anzüglich) sein können. Der Gesetzgeber versucht dies aktuell zu „korrigieren“, indem er den Strafrahmen so umdefiniert, dass mildere Strafen oder eine Einstellung des Verfahrens wieder möglich wird, zumindest, solange es um nicht-pädophile Täter:innen geht. Dabei krankt die aktuelle Rechtslage ganz fundamental an einem falschen Paradigma. Nicht alles, was eine:n Pädophile erregen könnte, ist automatisch nur deshalb schädlich für Kinder. Und andersherum sind auch nicht alle Aufnahmen von Kindern unbedenklich und unschädlich, wenn sie nur nicht für Pädophile aufreizend sind. Als Beispiel sei hier der Social-Media-Trend genannt, die eigenen Kinder als „Bestrafung“ öffentlich bloßzustellen und vor hunderttausenden Zuschauern zu erniedrigen. Videos davon sind in Besitz und Verbreitung übrigens völlig legal, obwohl es sich dabei um psychische Gewalt gegen Kinder handelt, die auch traumatische Folgen haben kann.
Desinformation und trügerische Sicherheit
Im Rahmen von inzwischen zur Regel gewordenen Razzien gegen Kinderpornografie zeigen sich die Beschuldigten häufig ehrlich überrascht, überhaupt etwas Verbotenes getan zu haben.
Das ist nicht verwunderlich, wenn man sich die üblichen Narrativen anschaut, die im Kontext von Kinderpornografie immer wiederholt werden. Um nur einmal ein paar Beispiele zu nennen:
„Hinter jedem Bild steckt ein schlimmes Schicksal.“
„Der in Presse und Justiz gängige Begriff Kinderpornografie ist nicht geeignet, um das zu kennzeichnen, was wir als Nutzung von Missbrauchsabbildungen bezeichnen. Somit ergibt sich für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine lebenslange Konfrontation mit dem durchlebten Missbrauch.“
„Kinderpornografie ist die dokumentierte sexuelle Ausbeutung von Kindern (Jungen und Mädchen). In Ton, Bild und/oder Schrift wird festgehalten, wie Kindern Leid zugefügt wird, das sie lebenslang nachhaltig schädigt.“
„Hinter Darstellungen von Kinderpornografie stehen echte menschliche Schicksale, Missbrauchstaten und menschliches Leid.“
In der Realität umfassen Inhalte, die rechtlich als Kinderpornografie gewertet werden, ein breites Spektrum, wobei Abbildungen realer sexueller Traumatisierungen von Kindern lediglich eine Teilmenge davon bilden. Das im NDR gezeigte kinderpornografische Meme mag man für geschmacklos halten, aber es zeigt sicherlich kein „schlimmes Schicksal“, lebenslanges „menschliches Leid“ oder die „sexuelle Ausbeutung von Kindern“.
Die Darstellung, Kinderpornografie sei immer Missbrauchsdokumentation und Abbildungen schlimmsten Leids ist eine Form von Desinformation, die unterschlägt, dass die Definition des Gesetzgebers weitaus umfassender ist und deutlich mehr Inhalte unter Strafe stellt. In einem früheren Beitrag zu dem Thema habe ich argumentiert, dass die sprachliche Gleichstellung von Strandbildern spielender Kinder mit Abbildungen schwerster sexueller Gewalt gerade eine Verharmlosung von letzterem ist und eine differenzierte und lösungsorientierte Debatte unmöglich macht. Hier sehen wir eine andere Facette des Problems: Die größtmögliche sprachliche Eskalation führt viele Täter:innen zu der Überzeugung, dass sie sich gar nicht strafbar machen, da ihre Taten offensichtlich nicht zu den extremen Beschreibungen passen.
Wer regelmäßig vermittelt bekommt, Kinderpornografie beinhalte nur Abbildungen lebenslanger Traumatisierungen von Kindern, wird bei einem Bild wie dem obigen Meme nicht darauf kommen, dass es sich dabei auch rechtlich um Kinderpornografie handeln könnte, sich deshalb in trügerischer Sicherheit wiegen und dies eher unbedarft weiter verbreiten. Die böse Überraschung folgt dann, wenn die Polizei vor der Tür steht. Es ist scheint daher gar nich mal so unplausibel, dass die desinformativen Beschreibungen zu dem starken Anstieg an Verfahren in den letzten Jahren beigetragen haben. Da schon alleine der Vorwurf kinderpornografischer Delikte existenzbedrohend sein kann und bei Verurteilung zu mindestens einem Jahr Haft und langen Berufsverboten führt, ist dies ein ernstes Problem.
Das mindeste, um dem zu begegnen wäre es, öffentlich mehr darauf hinzuweisen, dass eben viel mehr als Dokumentationen sexualisierter Gewalt nach § 184b StGB strafbar ist. Möglicherweise machen sich dann weniger Großeltern aus Versehen strafbar, weil sie ihre Enkel beim Sandburg bauen fotografieren.
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¹ Bei meinen Recherchen hat es mich ein wenig überrascht, dass es keinen wirklich klaren Konsens zu geben scheint, ab wann ein Kind als „teilweise unbekleidet“ gilt. Es gibt auch die Ansicht, das Tragen einer Badehose am Strand stellt eine anlassbezogene vollständige Bekleidung dar. In dem Falle dürften zumindest alle Strandfotos im Familienalbum vor Strafverfolgung ausgenommen sein, solange alle Kinder vollständige Badebekleidung tragen. Interessant ist dann allerdings die Frage, ob bei Mädchen die Badehose auch reichen würde, oder der Oberkörper ebenfalls bedeckt sein muss.