Stellen Sie sich vor, Sie lesen in den Medien von dem Mord an einem Vergewaltiger, der hunderte von Frauen missbraucht hat, und die Artikel wären mit folgenden Schlagzeilen versehen:

  • "Serien-Heterosexueller im Gefängnis erstochen"
  • "Berüchtigster Heterosexueller Englands im Knast erstochen"
  • "Großbritanniens schlimmster Serien-Heterosexueller erstochen"
  • "Verurteilter Heterosexueller in Gefängnis erstochen"

Absurd, nicht wahr?

Auch wenn es sich bei den Verbrechen unseres erfundenen Vergewaltigers um Sexualdelikte handelt, die ein Mann an einer Frau gegen ihren Willen durchgeführt hat, so haben diese Taten nichts mit Heterosexualität an sich zu tun. Auch wenn manche Vergewaltiger heterosexuell sind und ihre Verbrechen begehen, um ihren Sexualtrieb damit zu befriedigen, so ist bei weitem nicht jeder Heterosexuelle ein Straftäter. Anders gesagt, Heterosexualität an sich ist kein Verbrechen, auch wenn ein heterosexuell ausgerichteter Sexualtrieb manchmal ein Faktor sein kann, der dazu führt, dass jemand ein Sexualverbrechen begeht. Den Vergewaltiger also als "Heterosexuellen" zu bezeichnen ist damit äußerst sinnfrei und darüber hinaus höchst stigmatisierend für alle heterosexuellen Menschen, die ein Leben führen ohne andere Menschen zu vergewaltigen.

Szenenwechsel. Es ist vormittag am Montag, dem 14. Oktober 2019 im britischen Staatsgefängnis nahe der Ortschaft Full Sutton. Einige der Gefängniswächter haben gerade den leblosen Körper von Richard Huckle gefunden, der offenbar von seinem Zellenmitbewohner mit einem improvisierten Messer erstochen wurde. Huckle wurde drei Jahre zuvor wegen Vergewaltigung von Kindern in 71 Fällen zu mindestens 23 Jahre Haft verurteilt. Es dauert nicht lange, bis die Medien von dem Fall erfahren und anfangen, darüber zu berichten. Und mit welchen Schlagzeilen betiteln sie ihre Artikel? Nun…

Das, was bei den fiktiven Schlagzeilen oben noch so absurd und lächerlich geklungen hat ist, wenn es um Pädophilie geht offenbar Normalität. Dabei ist Pädophilie an und für sich genauso wenig ein Verbrechen wie Heterosexualität, auch wenn sie in Einzelfällen ein motivierender Faktor für einen sexuellen Übergriff sein kann. Wortschöpfungen wie "Serien-Pädophiler" sind also bei genauerer Betrachtung schon rein inhaltlich Unsinn. Bei weitem nicht jeder pädophile Mensch wird straffällig, die meisten leben ihr Leben ohne dabei Kindern gegenüber übergriffig zu werden. Auf der anderen Seite sind über 80% der Kindesmissbrauchstäter nicht pädophil.1 Die meisten Missbrauchstäter sind sogenannte Ersatzhandlungstäter, also Menschen die sich nicht sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, sondern aus anderen Gründen wie Dominanz oder Verfügbarkeit sich Kinder als Opfer suchen. Jens Wagner, der ehemalige Pressesprecher des Therapieprojekts Kein Täter Werden (KTW) sagt dazu etwa:

Generell kann man sowohl beim sexuellen Kindesmissbrauch als auch beim Konsum von Missbrauchsabbildungen nicht automatisch davon ausgehen, dass die Täter pädophil sind. Häufig handelt es sich auch um sogenannte "Ersatzhandlungstäter" - das heißt, die Täter sind eigentlich sexuell auf erwachsene Sexualpartner ausgerichtet, begehen aber Kindesmissbrauch, beispielsweise aufgrund einer Persönlichkeitsstörung. Bei weitem nicht jeder sexuelle Übergriff an Kindern wird von Pädophilen begangen.2

Kindesmissbrauchstäter pauschal als pädophil zu bezeichnen ist also genauso falsch wie Vergewaltiger grundsätzlich als heterosexuell zu nennen. Es erzeugt eine Begriffsverwirrung, die dazu führt dass in den Köpfen der Menschen die Konzepte "Kindesmissbrauchstäter" und "Pädophiler" zu ein und derselben Sache werden. Dies fördert aber das Stigma gegenüber Menschen mit Pädophilie, die keine Straftaten begehen und dies auch nicht tun wollen. Gerade hier hätten die Medien aber eine Verantwortung gegenüber dieser stigmatisierten Minderheit, bei solchen Berichten auf begriffliche Differenzierung zu achten um durch achtlose Schlagzeilen und Formulierungen dieses Stigma nicht weiter voranzutreiben.

In den meisten Fällen setzen die Medien in Deutschland diese Differenzierung meistens auch um, was vermutlich auch der umfangreichen Öffentlichkeitsarbeit von KTW zu danken ist. Im englischsprachigen Bereich ist es leider Standard, dass Kindesmissbrauchstäter als "pedophile" bezeichnet werden, und damit ist es nicht sehr überraschend, dass auch Huckle dort durchgängig so genannt wird (siehe auch die Google News Seite über Huckle). Bei Fällen wie dem von Huckle, die besonders viel Aufmerksamkeit generieren, scheint es aber immer noch so zu sein dass die Medien diese Differenzierung vergessen und die Bezeichnungen aus den englischsprachigen Quellen unreflektiert übernehmen. Das zieht sich durch alle Medien, die über den Fall berichtet haben: FOCUS, n-TV, die Tiroler Tageszeitung und oe24.at reden von "Großbritanniens berüchtigsten Pädophilen", Der Westen bezeichnet Huckle als "phädophiler [sic] Serientäter", news.de berichtet von einem "Pädophilen-Tod". Auf Yahoo! Nachrichten, tonight News, in der Hannoverschen Allgemeinen, der Leipziger Volkszeitung und in der Mitteldeutschen Zeitung liest man von einem "verurteilten Pädophilen", RTL und Tag24 nennen Huckle einen der "schlimmsten Pädophilen". Die BILD und die Berliner Zeitung nutzen die besonders unsinnige Wortschöpfung "Serien-Pädophiler", und die tz bezeichnet ihn einfach durchgängig als "Pädophilen". Selbst der vergleichsweise seriöse Spiegel spricht von einem "verurteilten Pädophilen" und legt damit die Schlussfolgerung nahe, dass er wegen Pädophilie (und nicht wegen seiner Missbrauchstaten) verurteilt wurde.

Es gibt kein einziges Medium, das über Huckle berichtet hat und ihn dort nicht irgendwo als Pädophilen bezeichnet hat. In vielen Berichten wird er auch als "Kinderschänder" bezeichnet, was noch aus ganz anderen Gründen ein ebenfalls sehr kritikwürdiger Begriff ist.

Ich habe keine Quelle dafür finden können, dass bei Richard Huckle tatsächlich eine pädophile Neigung diagnostiziert werden konnte. Aber auch wenn er pädophil war: eine pädophile Neigung sucht sich niemand aus, und sie macht niemanden zu einem Straftäter. Ein Kind zu missbrauchen passiert nicht einfach so, wenn man sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlt, sondern ist immer mit einer bewussten Entscheidung verbunden – und hier hat Huckle als Mensch massiv versagt. Wenn man sich aber die Medienberichterstattung über den Mord an ihn anguckt, könnte man den Eindruck gewinnen, dass seine eventuell vorhandene pädophile Neigung ihn mehr verdammt als seine umfangreichen und grausamen Straftaten.

8 Kommentare

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Zidane

Ich überlege. Es gibt ein Banner der kTw in der Charitê, wo 50% nichtpädophiler Kindesmissbrauchstäter dargestellt werden. In der Reportage "Rabiat" spricht Dr. Gieseler von kTw von 60% nichtpädophiler Missbrauchstäter. Wo kommen Deine 80% nun her?

Sirius

Siehe meine Quelleangabe:

National Rapporteur on Trafficking in Human Beings (2014). On solid ground. Tackling sexual violence against children in the Netherlands. The Hague: National Rapporteur.

Das Wesentliche zu der Frage steht auf Seite 64ff.

Die Frage, wie viele Missbrauchstäter pädophil sind wäre auch mal einen eigenen Blogbeitrag wert. Kurz gesagt: die von KTW zitierten 60% stammen im Wesentlichen aus einer Studie, die diagnostische Kriterien so gewählt hat dass auch 15% einer Kontrollgruppe als pädophil eingestuft werden würde. Definiert man die Kriterien etwas strenger, sodass von der Kontrollgruppe nur noch 10% als pädophil gelten würde (was immer noch sehr viel ist), dann sind es schon nur noch 27% der Straftäter, die pädophil sind. Andere Studien finden konsistent eher niedrigere Zahlen von <20%; ich habe sogar schon gehört, dass von nur 5% gesprochen wurde.

Max Weber

Das finde ich einen erbärmlichen Missstand diese Unsicherheit. Zahlen, die ich bisher gehört habe, da war alles dabei von 10% bis zu 50%. Am häufigsten allerdings die 40% der Charité. 5% hab ich heute zum ersten Mal gelesen. Könnte damit evtl von allen sexuellen Straftaten gemeint sein?

Aber selbst diese Spanne ist ja eine Aussage: ALLERHÖCHSTENS bzw NICHT MAL die Hälfte der Missbrauchstaten geht auf das Konto tatsächlich pädophiler Personen.

Sirius

Ich habe mal gehört, dass die 5% von einer Kinderschutzorganisation verbreitet wurden, leider habe ich aber bisher noch keine Quelle dafür finden können. 20% als Obergrenze ist das, was ich persönlich am ehesten noch vertreten kann, weil ich dafür tatsächlich Studien in der Hand habe, die das belegen.

Man könnte an dieser Stelle ein wenig in Verschwörungstheorien abschweifen… das Problem bei KTW ist es, dass sich das Projekt über die Prävention von Missbrauch rechtfertigt. Damit liegt es aber ein Stück weit im Interesse von KTW, nicht allzu niedrige Zahlen hier zu nennen, denn wenn sie sagen würden dass nur 5% der Zielgruppe des Projekts tatsächlich an Missbrauch beteiligt ist könnte man ja die durchaus berechtigte Frage stellen, ob es da nicht bessere Stellen gibt, an denen man eher ansetzen sollte.

Starchild

Ja es gibt eine Kinderschützerindustrie die tatsächlich milliardenschwer ist.

Klase

Ich lese gerade mal die alten Artikel hier nach. Zu einer der Überlegungen hier, möchte ich gerne Stellung nehmen. @Sirius schreibt: "Damit liegt es aber ein Stück weit im Interesse von KTW, nicht allzu niedrige Zahlen hier zu nennen, denn wenn sie sagen würden dass nur 5% der Zielgruppe des Projekts tatsächlich an Missbrauch beteiligt ist könnte man ja die durchaus berechtigte Frage stellen, ob es da nicht bessere Stellen gibt, an denen man eher ansetzen sollte."

Darüber habe ich bisher noch nicht nachgedacht und es ist ein sehr wichtiger Punkt, wie ich finde. KTW kann sich nur über Prävention legitimieren und nicht etwa als Anlaufstelle, die pädophilen Menschen ermöglicht, psychisch besser mit dem Stigma umzugehen. Ist jemand zwar pädophil aber weder- selbst noch fremdgefährdend, gilt er nach aktuellen medizinischen Erkenntnissen als NICHT krankheitswertig und wird damit von KTW abgewiesen, obwohl er vielleicht seelische Unterstütung benötigt! Die Aufgabe von KTW ist somit vorrangig, pädophile Krankheitswertigkeit zu behandeln und damit Prävention gegen Kindesmissbrauch zu leisten. Dass das Stigma seelische Beeinträchtigungen auch bei Menschen verursacht, die weder etwas mit Kindesmissbrauch noch mit Missbrauchsabbildungen am Hut haben, wird (absichtlich) ausgeblendet. Dennoch habe ich höchsten Respekt vor dem Projekt und finde es enorm wichtig, dass es dieses Projekt gibt.

Das Stigma ist so groß, dass sich seitens KTW mit der psychologischen Unterstützung stigmatisierter Menschen nicht in der Öffentlichkeit argumentieren lässt. Wenn KTW aber schon dazu steht, dass etwa 2/3 aller Sexualdelikte in dem Bereich auf das Konto von sogenannten Ersatzhandlungstätern - also NICHT pädophilen Menschen - geht, dann sollte man bei KTW IMHO explizit dafür werben, dass man auch Ersatzhandlungstäter erreichen möchte. Vor allem macht das in dem Zusammenhang Sinn, da andere Quellen zu (wesentlich) höheren Zahlen bzgl. der Taten von Ersatzhandlungstätern kommen. Das würde nicht nur zum Verständnis beitragen, Pädophilie eben NICHT mit Kindesmissbrauch gleichzusetzen, sondern es wäre eine echte Prävention gegen Kindesmissbrauch für den Großteil der Fälle - der ansonsten regelrecht ausgeblendet wird. Ich frage mich schon lange, warum KTW nur Pädophile und nicht stärker auch Menschen anspricht, die Gefahr laufen aufgrund ihrer Lebenssituation Ersatzhandlungstäter zu werden, OBWOHL sie auf Erwachsene "stehen". Wenn KTW das mit in das Hauptprogramm aufnimmt, würde der Verein nicht seine Legitimation verlieren, wenn die Verhältnisraten bzgl. Übergriffe pädophiler Menschen nach unten korrigiert werden müssen.

Sirius

Es ist eine verfahrene Situation. Zwar wehrt sich KTW auch explizit gegen das Stigma, und konnten da im Laufe der Jahre auch ein paar Fortschritte erstreiten. Aber dadurch, dass sie sich unter den Namen "Kein Täter Werden" expizit an Pädophile richten, ist die Grundausrichtung des Projekts fundamental stigmatisierend, da es impliziert, dass Pädophile grundsätzlich gefährlich sind und externe Hilfe benötigen, um keine Straftaten zu begehen. Und auch die Minderung des seelischen Leids und die gesellschaftliche Stigmatisierung wird eigentlich nie als Unrecht für sich genommen bezeichnet, sondern damit begründet, dass dies das Übergriffsrisiko pädophiler Menschen erhöhen würde. Anders herum hätten sie sich nie so etablieren können, wenn sie es anders angegangen hätten.

Ich fände die Idee gar nicht mal so schlecht, wenn sich KTW umorientiert und an Menschen wendet, die sich gefährdet sehen sexuelle Übergriffe zu begehen – ganz allgemein und unabhängig von der sexuellen Orientierung der Person. Schon jetzt ist das im Grunde ja die eigentliche Zielgruppe, auch wenn die Werbung und Darstellung des Projekts etwas anderes aussagt. Das Resultat wäre allerdings, dass pädophile Menschen in Deutschland die einzige Anlaufstelle verlieren würden, die sich zumindest so halbwegs für uns einsetzt. Mangels (RL-) Selbsthilfegruppen und aufgeklärter Therapeut:innen würde dies die bereits katastrophale Abdeckung von psychologischer Hilfe für pädophile Menschen noch schlimmer machen.

Klase

Was spricht dagegen, dass KTW aus den erworbenen Erkenntnissen Nutzen für den Kinderschutz zieht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass KTW die Relevanz für Pädophile verlieren würde, wenn man dort zweigleisig fährt. Das eine muss das andere ja nicht ausschließen.

Wenn wir bedenken, wie nachhaltig sich die Bundesregierung auch für teils unsinnige und sogar kontraproduktive Maßnahmen zum konsequenten Kinderschutz einsetzt (man nehme da nur mal meinen "Lieblingsparagraphen" §184l StGB), dann kann auf der anderen Seite eigentlich niemand aus der Politik sagen, dass der Präventivschutz für Pädophile, die gefährdet sind pädosexuell (also übergriffig) zu werden, weniger wichtig ist, selbst wenn die Verteilungsrate dafür irgendwann vielleicht nur noch unter 10% aller Übergriffe betragen sollte. Die Anlaufstelle für Pädophile würde also bleiben. Vielleicht kann das Stigma hier sogar einmal ganz nützlich sein, denn auch die Gesellschaft wird nicht wollen, dass präventive Behandlungsmaßnahmen für die Therapie von Pädophilen zwecks Kinderschutz verschwinden.

Hingegen könnte und sollte sich KTW mit einem zweiten Bereich breiter aufstellen. Es macht keinen Sinn Pädophile und teleophile (= erwachsenenliebende) Menschen, die beide gleichermaßen Sorge haben irgendwann pädosexuell zu werden, in derselben Gruppe unterzubringen. Aus der Therapie ist bekannt, das beide Arten von Patient:innen unterschiedliche Therapieansätze benötigen, weil die Motivation für mögliche Pädosexualität bei diesen beiden Menschengruppen grundsätzlich unterschiedlich ist. Hierfür würde es Sinn machen, wenn KTW sich in einen zweiten Bereich abspaltet, der vielleicht sogar anders heißt.

IMHO gebe ich @Sirius Recht, dass die Bezeichnung KTW für Pädophile stigmatisierend ist, weil sie eine Gleichsetzung impliziert. Nun... es werden immer mal wieder Firmen und Institutionen umbenannt. Sicherlich macht es auch hier Sinn, über eine passendere Namensfindung für KTW nachzudenken. Auch hier könnte wieder das Stigma zugunsten einer Änderung verwendet werden: Wenn wenn auch teleophile Menschen angesprochen werden sollen, werden diese wahrscheinlich eher Hilfe suchen, wenn der Verein nicht mehr "Kein Täter werden" heißt.

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