In einer kleinen Servicefirma in einer deutschen Stadt gibt es einen Aufkleber mit dem folgenden Inhalt:
"Stoppt Tierversuche! Nehmt Kinderschänder!"
Dieser Aufkleber hat zweifellos eine besondere Qualität. Die Interpretation ist ja einfach. Er stellt eine bestimmte Gruppe von Straftätern auf eine Stufe mit Tieren. Spricht ihnen also das Menschsein ab. Mehr noch: Er stellt sie auf eine Stufe unterhalb von Tieren. So etwas bedarf einer Klärung. Denn dieser Aufkleber ist ja nicht nur das Werk eines Menschen, sondern einer Zahl von Menschen, die ihn herstellen, verteilen und verkleben.
Drei Vorbemerkungen.
1) Die berechtigte Strafbarkeit der sexuellen Annäherung Erwachsener an Menschen unter 14 Jahren steht im folgenden außer Diskussion. Auch die angemessenen Strafmaße stehen hier außer Erörterung, sie werden nicht bewertet.
2) Stellt man diesen Aufkleber in eine öffentliche Diskussion, so wird sich mit Sicherheit eine Mehrheit gegen diesen Inhalt verwahren. Eine Minderheit wird ihn allerdings befürworten. Es ist also der gesellschaftspolitische Aspekt zu beleuchten.
3) Der Verantwortliche für den Aufkleber ist mir wahrscheinlich bekannt: Naheliegenderweise der Firmeninhaber. Ich habe ihn immer als einen netten, hilfsbereiten Menschen erlebt. Man kann vielleicht kritisch sagen: Ein netter Biedermann. Es ist also auch der psychologische Aspekt zu durchleuchten. Auf rationale Weise.
Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland hat seit ihrem Entstehen einige Änderungen durchgemacht. Als Demokratie hat sie sich von der freiwilligen Bereitschaft ihrer Bürger abhängig gemacht, den allgemeinen gesellschaftlichen Erfolg mitzugestalten. Der Staat gibt zwar seine anstehenden Vorhaben vor, er legt diese seinen Bürgern aber zur Diskussion und freiwilligen Zustimmung vor. Dabei gewährt er seinen Bürgern viele Freiheiten, solange die nicht zu einem Faktor werden, der seinen Interessen und Vorhaben hinderlich werden könnte.
Die in den 60er Jahren entstandene sexuelle Freiheit ist solch eine, die der Staat zu tolerieren gelernt hat. "Liebt doch, wen und wie ihr wollt." Masturbation, Sex vor der Ehe, Homosexualität und auch das Fremdgehen waren davor noch im kirchlichen Beichtstuhl als Sünden gebeichtet worden.
In den 80er Jahren nahm der Staat allerdings die allgemeine Befolgung seiner Rechtsvorschriften unter die Lupe. Steuerhinterziehung zum Beispiel ist praktisch ausgemerzt worden. Auch in Sachen Sexualstraftaten gab es eine Wende, genauer bei Sexualstraftaten an Kindern. Diese Wende ist zwar nicht annähernd von so großer Bedeutung wie das Thema Steuerhinterziehung, allein schon von der Häufigkeit der Fälle. Darüber hinaus sind diese Straftaten aber ein Thema, das lediglich das Verhältnis der Bürger UNTEREINANDER betrifft. Trotzdem schlug diese Wende schnell sehr große Wellen in der Öffentlichkeit.
Zwei Gründe:
Erstens, die Bürger sehen dementsprechend eine Betroffenheit in ihrem Blickfeld, also eine Bedeutung des Themas, die sie erheblich selbst angeht. Das Thema ist plastisch und mit seinem sexuellen Inhalt von der Presse plastisch zu bebildern. "Tatorte" im Sonntagsprogramm des Fernsehens. Der zweite Grund ist etwas speziell und abstrakt. Eine Straftat hat immer zwei Seiten. Täter und Opfer. Es gibt unzählige Arten von Straftaten. Im Idealfall einer Straftat ist der Täter böse und das Opfer gut. Doch hier gibt es Relativierungen. Und hier muss man einen Vorgriff auf das Bewusstsein der bürgerlichen Individuen machen.
Die hiesige sogenannte Bürgerliche Gesellschaft macht es ihren Individuen nicht leicht. Sie stellt sich ihnen als Chance für ihr Leben dar, aber immer wieder müssen sie Enttäuschungen hinnehmen. Die Perspektive der vermeintlichen Chance übersetzen sich die Bürger, in dem sie die Bürgerliche Gesellschaft als ihre Heimat sehen. Sie schaffen sich ein Idealbild einer eigentlich gerechten Gesellschaft, einer Gesellschaft, die eigentlich jedem ein erfreuliches Leben bieten könnte, wenn er nur brav seinen Dienst an der Gesellschaft verrichtet in einer Position, die er sich selbst ausgesucht hat, als "seines Glückes Schmied". Nun muss der Bürger aber feststellen, dass das "idyllische" Ideal, das er sich macht, für ihn persönlich oft nicht so recht zustande kommt. Zum Beispiel reicht das Geld nicht, und auch die Ehe zu Hause erfüllt nicht die hohen Erwartungen, die er einmal in sie hatte.
Es gibt eine subtile Relativierung bei den meisten Straftaten im gesellschaftlichen Bewusstsein. Ein gut gemachter Bankraub ("Rififi", "Die englischen Posträuber") hat ein gewisses heimliches Verständnis, sogar eine heimliche Sympathie. Solche Täter erfüllen sich einen materiellen Bedarf, den im Prinzip ja jeder hat: Bedarf nach Geld, aber halt nur mit unlauteren Mitteln. Das Opfer, die Bank - nun ja, da trifft es keinen Armen.
Auch ein Mord kann in seiner Schuldfrage eine relative Sache sein: Die gepeinigte Ehefrau, die sich ihres Peinigers entledigt.
Ganz anders und sehr eindeutig aber die Sache beim "Kinderschänder":
Der Täter ein Mensch, der keinen materiellen Vorteil aus der Tat in irgendeinem Sinne zieht. Nein, er gehorcht hier nur seinem TRIEB. Und der ist nieder und tierisch. Er handelt selbstsüchtig und rücksichtslos. Er macht sich also gewissermaßen zum Tier.
Das Opfer ein Kind. Das Kind ist per se die Unschuld. Also eine subtile Mitschuld ist ausgeschlossen. Darüber hinaus sind Kinder die HOFFNUNG DER GESELLSCHAFT. Unbeschriebene Blätter, die es im gesellschaftsnützlichen Sinne zu beschreiben gilt. Und darin darf kein störender Faktor sein, wie der sexuelle Missbrauch aber einer in einem erheblichen Maße ist.
Der Kindesmisbrauch ist also eine Straftat von abgundtiefer Verabscheuungswürdigkeit. Und in diesem Sinne hat er eine Funktion als Beispiel oder Symbol bekommen, die dem Staat im Sinne seiner in den letzten Jahrzehnten durchgesetzten Strafverschärfungen dienlich ist. Er findet für diese Strafverschärfungen breite Zustimmung bei seinen Bürgern. Diese geht sogar so weit, dass von einigen Zeitgenossen diese Straftaten als ALLGEMEINER Beleg genommen werden, dass eine Strafverschärfung für ALLE Staftaten her muss. "Kinderschänder zum Beispiel ...!" Ein Effekt, gegen den der Staat in seinem gegenwärtigen Impetus wahrlich nichts einzuwenden hat.
Der Bürger muss wie gesagt also feststellen, dass gegen das Ideal, wie seiner Meinung nach die Gesellschaft sein könnte, immer wieder verstoßen wird. Dafür macht er nunmehr Kräfte verantwortlich, die notwendigerweise AUßERHALB der eigentlich guten Gesellschaft stehen müssen. Das Ausland oder die Ausländer sind dem Bürger hier naheliegende Verursacher der Unbill. Aber auch innerhalb der Gesellschaft sieht er Schuldige. Mehr oder weniger dunkle Kräfte, die nach seinem Empfinden natürlich größtenteils unter der Oberfläche walten. Populisten, Terroristen, Kräfte, die dem Staat schaden wollen und ihn korrumpieren. Niedere Beweggründe. Die Gier (Bankraub). Der Hass (Mord). Der Trieb (Kinderschänder). Wie oben schon gesagt: Die Gier und der Hass können durchaus noch eine ganz ursprünglich nach Verständnis heischende Grundlage haben. Der Trieb auch. Aber nur insofern, dass seine Inhaber, die Sexualtäter sich seines nicht erwehren können. Man muss für sie ein gewisses Verständnis haben. Selbst für die Pädophilie, das ist heute in einer durchaus aufgeklärten Gesellschaft mehrheitlich durchgesetzt. Aber der pädophile Trieb AN SICH ist unmenschlich, tierisch. Und wenn der Inhaber ihm nachgibt, hat er beim Bürger jedes Verständnis verwirkt.
Der Bürger ist in einer Demokratie nicht nur zum folgsamen Mitmachen aufgerufen. Sondern zum persönlichen Engagement für sie. Unendliche Vielfalt der Möglichkeiten. Initiativen, Parteien. Förderung des Guten. Bekämpfung des Bösen. Er nimmt in großer Zahl dieses Angebot zum Engagement gern an. Aber die Sache ist kompliziert: Ein bestimmter gesellschaftlicher Missstand sticht ihm ins Auge. Aber die eine Seite sagt so, die andere Seite sagt andersherum. Politik als schwieriges, gern auch als "schmutzig" bezeichnetes Geschäft. Einige Bürger suchen sich deshalb gern ein Thema, in dem die Fronten plastisch und übersichtlich sind.
Das Bedürfnis nach gesellschaftlichem Engagement wird vielen ein abstraktes Bedürfnis. Irgendetwas Sinnvolles muss man ja tun. Das dem eigenen Dasein auch einen HÖHEREN Sinn gibt. In diesem Sinne begeben sich einige Bürger in höhere Sphären. Sie erklären den Staat mit seinen profanen und von schnöden Einzelinteressen durchsetzten Handlungen als für sich selbst niedere Sphäre und erheben sich selbst ÜBER den Staat. Die Unschuld, die von den schnöden Interessenskämpfen befleckt zu werden droht, ist für diese Zeitgenossen das ihnen angemessene Thema. Die Unschuld - das per se unschuldige KIND. Der Kinderschutzbund zum Beisispiel ist eine Initiative, gegen die wahrlich niemand etwas einwenden kann. Der Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern eine andere, gegen die niemand etwas einwenden kann. Dieser Kampf ist aber ein Feld einer häufigen bemerkenswerten Radikalisierung innerhalb der Protagonisten.
Ein letztes Mal der Bürger als Phänomen: Seine ständige Enttäuschung seitens der Gesellschaft, der materielle und immaterielle Mangel, den er empfindet, wird in ihm zu einer FRUSTRATION. In vielen Fällen sogar zu einer Staatskritik der speziellen Art. Der Staat tut seiner Meinung nach viel zu wenig gegen all die Missstände. Vor allem gegen Missstände, die doch nun jeden zu empören haben. In denen doch alle einig sein sollten. "Warum geschieht hier so wenig?"
Angesichts der Sexualstraftaten an Kindern bezieht der Bürger gern den Standpunkt einer überhöhten moralischen Position, die er sich selbst gibt. Und in dieser fühlt er sich vom Staat alleingelassen. Hinzu kommt die Frustation angesichts der ganzen Ungerechtigkeiten. Eine Frustration, die sich über die Jahrzehnte in ihm angestaut hat. Und hier kommen nun die beiden Dinge zusammen. Eine HEILIGE WUT bricht in ihm hervor, wenn das Thema Kinderschänder auf den Tisch kommt. Endlich ein Thema, in dem er mit voller Überzeugung EINMAL RICHTIG AUF DEN TISCH HAUEN kann. Hier ist er sich seiner Sache sicher.
Und damit ist in seinen Augen auch eine äußerste Radikalität gerechtfertigt: "Stoppt Tierversuche, nehmt Kinderschänder."