Lieber Leser,
dies war bis jetzt mit Abstand die schwerste Sonntagskiste, die ich geschrieben habe.
Vor zwei Wochen wurde ein Missbrauchsnetzwerk aufgedeckt, dessen Hauptverdächtiger in Münster aktiv war. Aufgrund der schieren Professionalität und Brutalität, mit der die Täter vorgegangen sind, hat dieser Fall bundesweit für Schock und Entsetzen gesorgt. Auf der Suche nach einem Schuldigen wenden sich die Medien nun vor allem einem Thema zu: Pädophilie.
Was folgt, ist ein gewaltiger Haufen an äußerst stigmatisierenden Artikeln, die Pädophilie mit Missbrauch gleichsetzen, Forderungen nach "härteren Strafen für Pädophile", und einige Experteninterviews, die zum Teil haarsträubende Aussagen enthalten. Die schiere Menge ist einfach nur erdrückend und ziemlich entmutigend. Aus dem Grund werde ich mich diese Woche ausschließlich mit dem Thema Münster und die Berichterstattung darum beschäftigen; alle anderen Themen, die es diese Woche in die Medien geschafft haben, werde ich nächste Woche nachholen.
1. Sarah Allard im Interview mit watson
Im Zuge des Missbrauchsfalls in Münster haben sich mehrere Experten, die im forensischen Bereich mit Straftätern arbeiten, für Interviews zur Verfügung gestellt. Darunter auch Sarah Allard, die als Therapeutin bei der Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V. arbeitet, das auch Therapieprogramme für pädophile Menschen (oder, wie BIOS-BW sie nennt: tatgeneigte Personen) anbietet.
In einem Interview mit watson stellt Frau Allard einige Behauptungen auf, die ich sehr problematisch finde. Zunächst einmal unterstellt sie pauschal allen nicht-exklusiv pädophilen Menschen eine grundsätzliche Beziehungsunfähigkeit zu gleichaltrigen Personen, die der Grund dafür sei, dass sie sich zu Kindern hingezogen fühlen. Hier scheint Frau Allard einige Sachen durcheinander zu werfen: entweder sie redet hier von Ersatzhandlungstätern, die oftmals wirklich aufgrund von Beziehungsunfähigkeit sich an Kinder vergehen – aber die sind eben gerade nicht pädophil. Oder sie weist allen nicht-exklusiv pädophilen Menschen pauschal vor, zu sexuellen Beziehungen auf Augenhöhe nicht fähig zu sein, was schlicht und ergreifend nicht auf alle zutrifft.
Besonders bedenklich finde ich die Aussagen, die Frau Allard zur Therapie bei BIOS-BW aufstellt. Ihr zu Folge sei es ein Ziel der Therapie, sämtliche pädophile Fantasien zu unterdrücken. Höchstens bei exklusiv pädophilen Menschen seien Fantasien etwas, das man gelegentlich akzeptieren dürfe - aber nur "in absoluten Härtefällen […], wenn es gar nicht anders geht." Wenn sich diese Fantasien auf Kinder aus der Umgebung beziehen, dann schaltet BIOS-BW sogar gegen den Willen des Patienten das Jugendamt ein. BIOS-BW scheint also eine Art Konversionstherapie mit ihren Patienten zu versuchen, die darauf gezielt ist sämtliche pädophilen Persönlichkeitsanteile zu unterdrücken und nach Möglichkeit die Sexualität auf Erwachsene "umzupolen".
Das wiederum geht gegen den aktuellen Stand der Wissenschaft, dem zufolge eine pädophile Neigung auch über lange Zeit weitgehend stabil ist und nicht so einfach unterdrückt werden kann – zumindest nicht auf Dauer. Ich befürchte, der Versuch ist damit von vorneherein zum Scheitern verurteilt – und dieses Scheitern kann das genau Gegenteil bewirken von dem, was eigentlich das Ziel der Therapie sein sollte. Wer verzweifelt versucht sich jeden sexuellen Gedanken mit Kindern zu verbieten, und daran immer und immer wieder scheitert, wird sich vermutlich mit der Zeit mehr und mehr selber hassen. Genau damit steigt aber womöglich auch das Missbrauchsrisiko, weil in der Therapie nie ein guter Umgang mit der Neigung vermittelt, sondern nur das Unmögliche gefordert wird.
2. BILD-Kampagne für härtere Strafen
Wann immer ein Missbrauchsskandal in die Medien kommt, gibt es den Ruf nach härteren Strafen. So ist es auch diesmal. Vor allem angefeuert durch die BILD, die unter anderem auf ihrer Titelseite vom 11. Juni in großen Buchstaben fordert: "KEINE BEWÄHRUNG MEHR FÜR KINDERSCHÄNDER".
In einem Artikel vom 10. Juni zeigt sich die Bild entsetzt, dass nach über einer Woche immer noch keine umfassenden Gesetzesänderungen beschlossen worden sind ("die GroKo diskutiert, statt zu handeln!"), und gibt einigen Politikern den Raum, sich für härtere Strafen auszusprechen. Besonders erwähnenswert ist dabei die Aussage von CDU-Politiker Christoph de Vries:
Es geht nicht um Knutschereien unter Jugendlichen. Sondern darum, Kindern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die von Pädophilen vergewaltigt und seelisch schwer geschädigt werden.
Solche Aussagen, die unangefochten in Deutschlands größter Tageszeitung von regierenden Politikern getroffen werden, finde ich ziemlich erschreckend, da sie meiner Ansicht nach schon an Volksverhetzung grenzen. Man stelle sich den (berechtigten) Aufschrei vor, wenn de Vries stattdessen von Kindern gesprochen hätte, die "von Homosexuellen vergewaltigt und seelisch schwer geschädigt werden". Dabei wäre das genauso korrekt, da alle bisher bekannten Opfer männlich sind.
Die konkreten Forderung der CDU-Politiker, die von der BILD eifrig unterstützt werden, sind, dass jede Form von Missbrauch und der Besitz sowie die Verbreitung von Kinderpornographie in jedem Fall als Verbrechen und nicht als Vergehen gewertet werden. Das heißt vor allem, dass es darauf eine Mindeststrafe von einem Jahr Haft geben soll. Darüber hinaus soll schon der Besitz von Kinderpornographie genauso hart bestraft werden, wie tatsächlicher Missbrauch an einem Kind. Den Ruf haben auch andere Medien angenommen, unter anderem RTL, wo "höhere Strafe für Pädophile" gefordert werden. Auch die AfD schließt sich diesen Forderungen an, denn: "Pädophilie ist kein „Kinderspiel“ und muss als Verbrechen bestraft werden!"
3. Es gibt immer ein gewisses Risiko
Ein weiterer Experte, der sich zu den Missbrauchsfällen in Münster geäußert hat, ist Kriminalpsychologe Dr. Egg, der RTL ein Interview gab. In dem Interview erklärt er laut RTL, "wie sich kriminelle Pädophile verhalten."
Die Aussagen, die Dr. Egg in dem Interview tätigt, sind an und für sich genommen im Vergleich zu einigen anderen Experteninterviews sogar noch recht sachlich und zumindest faktisch weitestgehend korrekt. Das Problem bei diesem Interview sehe ich eher an der Zusammenstellung der Aussagen. Das Thema Pädophilie wird ausschließlich unter dem Aspekt der Kriminalprävention betrachtet, eine Unterscheidung zwischen Pädophilie und Kindesmissbrauch wird nicht getroffen. Gleichzeitig erzählt Dr. Egg, dass Pädophilie unheilbar ist, behauptet, dass es "nicht leicht" sei als Pädophiler die Neigung nicht auszuleben und berichtet, dass Straftäter selbst nach langjähriger Therapie grundsätzlich immer eine Gefahr darstellen. So erzählt Dr. Egg: "Die Betroffenheit eines Täters schließt nicht aus, dass er wieder gefährlich sein kann", und: "Es gibt immer ein gewisses Risiko".
Das wiederum transportiert indirekt eine ziemlich problematische und stigmatisierende Botschaft: dass nämlich alle pädophilen Menschen tickende Zeitbomben sind, die jederzeit hochgehen und ein Kind missbrauchen könnten. Die Folgen von Dr. Eggs Aussagen sind im Prinzip, dass man pädophile Menschen mit einem grundsätzlichen Misstrauen begegnen muss.
Ähnliche Aussagen finden sich aber leider auch an vielen anderen Stellen. In einem Artikel, der in der Aachener Zeitung und in der Rhein-Neckar-Zeitung erschienen ist, behauptet etwa Boris Schiffer, Leiter der LWL-Klinik für Forensische Psychiatrie in Herne, dass Pädophilie "kein kleines Problem" sei, und das man nur durch eine Therapie versuchen könne, "das Dranghafte der abweichenden Neigung abzumildern und gesunde Anteile der Sexualität zu stärken." Ähnlich formuliert es die Süddeutsche in einem Artikel und behauptet dort auch noch, Pädophilie sei eine unheilbare Krankheit mit "einer Rückfallquote von 40 bis 50 Prozent", was auch nur zeigt, dass für die Autoren Pädophilie und Kindesmissbrauch ein und dieselbe Sache ist. Auch diese Aussagen vermitteln eine gefährliche Botschaft: dass Pädophilie etwas krank- und triebhaftes ist, das nur schwer unter Kontrolle zu halten ist – und man genau deswegen keinem Pädophilen Menschen vertrauen kann. Es sind diese Art von Aussagen, die hauptverantwortlich für die fortgeführte Stigmatisierung pädophiler Menschen sind.
4. Der Begriff Pädosexualität beschreibt das Problem viel besser
Ein weiteres Experteninterview gab es beim WDR mit Jutta Muysers, die als Ärztin Sexualstraftäter behandelt. Und leider ist auch dieses Interview mit vielen unpräzisen und stigmatisierenden Aussagen gefüllt.
Auch wenn Frau Muysers im Verlauf des Interviews zwar erklärt, dass durchaus nicht jeder Missbrauchstäter pädophil ist, so attestiert sie dennoch aus der Ferne jedem der 80 festgenommenen Tatverdächtigen aus dem Fall Bergisch-Gladbach direkt eine pädophile Neigung: "Da die Tatverdächtigen untereinander kommuniziert und Materialien ausgetauscht haben, muss der größte Teil von ihnen zumindest ein hohes pädophiles Interesse haben."
Doch Frau Muysers äußerst sich nicht nur Pädophilen gegenüber stigmatisierend, sondern auch Männern gegenüber, wenn sie verlangt Kindern beizubringen nicht mit fremden Männern auch nur zu sprechen, weil die meisten Täter ja Männer seien. Und auch gegenüber Menschen mit Behinderung findet sie nicht gerade schmeichelnde Worte, so sagt sie: "Man kann sogar geistig Behinderte in die Lage versetzen, erwachsene Partner zu finden" – so als wäre es etwas fast schon Unfassbares, wenn eine Mensch mit einer geistigen Behinderung eine Beziehung findet.
Die Aussage, die ich am verletzendsten empfand, kommt jedoch erst ganz zum Schluss. Dort meint Frau Muysers, Pädophilie sei ein verharmlosender Begriff, da damit im Wortsinn eine Liebe zu Kindern impliziert werde. Besser sei der Begriff Pädosexualität, denn schließlich gehe es nur um die Sexualität, die auf Kinder ausgerichtet sei. Damit spricht sie im Prinzip allen pädophilen Menschen die Fähigkeit ab, Kinder zu lieben, und behauptet damit, dass wir Kinder nur als Sexobjekte sehen und keine wirklich tiefen emotionale Beziehungen zu ihnen aufbauen können.
5. Hetze gegen Pädophile – eine Auswahl
Egal ob von "Pädophilen-Netzwerk", einem "Pädophilen-Ring", "kriminellen Pädophilen" oder auch ganz schlicht nur von den "Pädophilen" die Rede ist – schon in den Schlagzeilen der letzten Woche überschlagen sich die Medien damit, pädophilen Menschen die Schuld an dem Missbrauchsfällen von Münster zu vermitteln. Es folgt eine Auswahl einiger Schlagzeilen.
6. Was Journalisten über Pädophilie und Kindesmissbrauch wissen müssen
Bei all den negativen Beispielen zur Berichterstattung um Münster möchte ich noch ein Positivbeispiel als Gegenpol nennen. Die Zeit hat in ihrem Artikel über die Missbrauchsfälle meiner Ansicht nach alles richtig gemacht und ein Beispiel gesetz, von dem sich einige andere Medienhäuser ruhig mal eine Scheibe von abschneiden könnten. Im Gegensatz zur Bild zum Beispiel, ist der Artikel ziemlich nüchtern und beschränkt sich auf die Nennung der wesentlichen Fakten, die zum aktuellen Fall bekannt sind, ohne dabei groß zu bewerten.
Die Zeit spricht konsequent von "Missbrauchsnetzwerk" und "Tätern", vermeidet also geladene oder falsche Begriffe wie "Kinderschänder", oder "Pädophiler". Besonders positiv zu erwähnen ist außerdem, dass die ZEIT einen Infokasten in ihrem Artikel eingebaut hat, der den Unterschied zwischen Pädophilie und Missbrauch erklärt und klar sagt, dass weder jeder Missbrauchstäter pädophil ist, noch jeder pädophile Mensch zum Missbrauchstäter wird. So ein Infokasten sollte meiner Meinung nach fast schon verpflichtend für jeden Artikel sein, der sich mit dem Thema Kindesmissbrauch beschäftigt.
7. Schlusswort
Im Anbetracht der aktuellen Ereignisse möchte ich meine Sonntagskiste diese Woche nicht mit einem musikalischen Beitrag beenden, sondern das Schlusswort dem Opferschutzverband Zartbitter e.V. überlassen, der vor einigen Tagen folgenden Tweet auf Twitter veröffentlicht hat.
Guter Kommentar des Spiegels: #Missbrauch wird vorwiegend nicht von „Pädophilen“ verübt, sondern von Menschen ohne diese sexuelle Orientierung. „Nur eines dürfen wir nicht: uns kurz gruseln und dann wieder wegschauen.“ https://t.co/kzXPfdMXRP— Zartbitter e.V. (@Zartbitter_eV)
Es wäre schon viel geholfen, wenn mehr Journalisten diese simple Tatsache im Hinterkopf behalten würden.
Bis nächste Woche,
Sirius