In den letzten Tagen ist ein Missbrauchsfall groß durch die Medien gegangen, der sich um einen Hauptverdächtigen aus Münster dreht. Der Missbrauchsfall in Münster hat bundesweit für Aufsehen gesorgt, einmal weil die Täter mit einer ungeheuerlichen Professionalität ihre Missbrauchstaten organisiert haben, aber auch, weil der Haupttäter wohl pädophil ist, mehrfach wegen Kinderpornografie verurteilt wurde und sogar eine Therapie für seine Neigung gemacht hat.

Medial sorgt der Fall dafür, dass auch dem Thema Pädophilie wieder sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Leider gibt es einige Unwahrheiten und Falschaussagen, die sich bei dem Thema regelmäßig in Medienberichten finden lassen. Ich habe mir daher mal die Zeit genommen, ein paar dieser Falschaussagen zu sammeln und zu korrigieren. Die folgende Liste erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

1. Alle Kindesmissbrauchstäter sind pädophil

In der Berichterstattung über Missbrauchsfälle, wie zuletzt dem aus Münster, liest man häufig von einem "Pädophilennetzwerk" (Welt) oder "Pädophilen-Ring" (BILD), über "Pädophilie-Fälle (Focus), von "kriminellen Pädophilen (RTL) oder auch einfach nur von dem "Pädophilen" (Nordkurier). In der BILD äußerte sich CDU-Innenexperte Christoph de Vries ähnlich: "[Es geht] darum, Kindern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die von Pädophilen vergewaltigt und schwer geschädigt werden".

Dahinter steht die Ansicht, dass jeder, der solche Sexualstraftaten gegen ein Kind begeht, definitiv pädophil sein muss. Diese Ansicht wird zum Teil sogar von Fachpersonal bestätigt, so antwortet Ärztin Jutta Muysers in einem Interview mit dem WDR auf die Frage, ob die 80 Verdächtigen im Missbrauchsfall Bergisch-Gladbach denn alle pädophil seinen:

Zumindest in dem Sinne, dass sie ein sexuelles Interesse an Kindern haben. Ohne die Personen gesehen und diagnostiziert zu haben, ist das aber schwer zu beantworten.

Allerdings: Da die Tatverdächtigen untereinander kommuniziert und Materialien ausgetauscht haben, muss der größte Teil von ihnen zumindest ein hohes pädophiles Interesse haben.

Korrektur

Auf den ersten Blick handelt es sich bei dieser Behauptung um eine offensichtliche Wahrheit. Warum sonst sollte man einem Kind sexuelle Gewalt antun, wenn man nicht auch ein sexuelles Interesse an ihnen hat?

Die Realität ist allerdings etwas komplizierter, als man zunächst meinen könnte. Missbrauch und Vergewaltigungen sind relativ selten Taten, die begangen werden, weil jemand seinen Sexualtrieb nicht mehr unter Kontrolle hat. Meistens geht es um ganz andere Motivationen: zum Beispiel um Macht, Dominanz oder den Abbau von Frustrationen. Die Opfer dieser Formen sexueller Gewalt werden dann einfach nach Verfügbarkeit ausgewählt. Anders gesagt: die meisten Kindesmissbrauchstäter vergehen sich nicht an Kindern, weil sie sich sexuell zu ihnen hingezogen fühlen – sondern weil die Kinder verfügbar und "leichte Beute" für den Täter waren. Die Sexualwissenschaftler Ahlers und Schaefer schreiben dazu:

Die überwiegenden Befunde sprechen dafür, dass die meisten sexuellen Kindesmissbraucher nicht pädophil und somit keine sog. Präferenztäter sind, sondern als Ersatzhandlungstäter angesehen werden müssen. Unter Ersatzhandlungstätern werden Personen verstanden, die mit erwachsenen Partnern sexuell erlebnisfähig sind, aber ersatzweise auf Kinder über- bzw. zurückgreifen, weil sexuelle Kontakte zu Erwachsenen nicht realisiert werden können oder als unrealisierbar erlebt werden. Für Ersatzhandlungstäter stellen Kinder prädestinierte Opfer dar, weil sie körperlich reizvoll, kleiner, schwächer, manipulierbarer und damit kontrollierbarer sind als erwachsene Personen. Häufig werden bestehende soziale Beziehungen zu Opferkindern sexualisiert, weil sexuelle Kontaktbedürfnisse bezogen auf erwachsene Partner unerfüllt bleiben.

Das Zitat sagt also nicht nur aus, dass nicht alle Täter pädophil sind – sondern darüber hinaus auch, dass sogar die meisten Missbrauchstäter nicht pädophil sind! Das sagt auch das Präventionsprojekt Kein Täter Werden:

Die Mehrheit des sexuellen Kindesmissbrauchs geht von Menschen aus, die eigentlich sexuell auf Erwachsene Sexualpartner ausgerichtet sind. Nur die Minderheit der Taten gehen auf eine pädophile Motivation zurück.

Kurzfassung: die meisten Missbrauchstäter sind nicht pädophil, sondern Ersatzhandlungstäter, die auf Erwachsene ausgerichtet sind und sich aus anderen Gründen an Kinder vergehen.

2. Pädophile Menschen trauen sich nicht an Erwachsene heran

Ein weit verbreitetes Vorurteil über pädophile Menschen besagt, dass wir uns nur deswegen zu Kindern hingezogen fühlen, weil wir bei Erwachsenen nicht zu Beziehungen fähig sind – etwa weil wir Angst vor Gleichaltrigen haben oder nicht gesellschaftsfähig genug sind um einen Partner oder eine Partnerin zu finden. Und weil wir zuviel Angst vor Gleichaltrigen haben, wenden wir uns stattdessen Kindern zu, die wir leichter beeindrucken und dominieren können.

Sarah Allard, Therapeutin bei der Behandlungsinitiative Opferschutz e.V., stellt in einem Interview mit watson folgende Behauptung auf:

Man muss die Gruppen aber auch insgesamt unterscheiden. Nur etwa 10 bis 20 Prozent aller Pädophilen fühlen sich ausschließlich zu Kindern hingezogen und können ansonsten keine sexuelle Befriedigung erleben. Der Großteil, die anderen 80 Prozent, haben eher Probleme damit, sich jemandem auf Augenhöhe sexuell zu nähern. Sie schaffen es einfach nicht, Kontakt aufzubauen und Erwachsene zu beeindrucken und wenden sich daher an Kinder. Ein großer Teil der Therapie besteht dann auch darin, ganz schlichte Fragen zu klären: Wie sieht eine Beziehung aus? Wie spreche ich mit einer erwachsenen Frau?

Korrektur

Frau Allard wirft hier einige Sachen durcheinander. Zunächst einmal ist es korrekt, dass zwischen Kernpädophilen, die sich ausschließlich zu Kindern hingezogen fühlen, und nicht-exklusiv pädophilen Menschen, die sich zu Kindern und Erwachsenen hingezogen fühlen, unterschieden werden kann. Auch richtig ist, dass es unter den Kindesmissbrauchstätern eine Gruppe gibt, die Kinder missbrauchen, weil sie keine Beziehungen mit Erwachsenen aufbauen können. Diese Gruppe zählt aber zu den oben erwähnten Ersatzhandlungstätern, die in der Regel gar nicht pädophil sind.

Komplett falsch ist es jedoch zu sagen, dass sich nicht-exklusive pädophile Menschen zu Kindern hingezogen fühlen, weil sie es nicht schaffen, Erwachsene zu beeindrucken und Beziehungen auf Augenhöhe aufzubauen. Ich nehme da mich mal als Gegenbeispiel: ich bin in einer Beziehung mit einer erwachsenen Frau und daher, behaupte ich zumindest mal, durchaus in der Lage Kontakt zu Erwachsenen aufzubauen und mit einer erwachsenen Frau zu sprechen. Darüber hinaus führen wir ein aktives und erfülltes Sexleben "auf Augenhöhe". Viele nicht-exklusive pädophile Menschen leben in Partnerschaften oder Ehen, auf die das ebenfalls zutrifft.

Und hier ist der wesentliche Punkt: auch eine liebevolle Beziehung und ein erfülltes Sexleben mit einer erwachsenen Partnerin zu haben, ändert absolut nichts an der pädophilen Neigung. Pädophilie ist ein Teil der sexuellen Identität, der parallel zu den anderen Anteilen existiert. Man kann einen nicht-exklusiv pädophilen Menschen nicht (langfristig) von der Neigung zu Kindern durch Sex mit Erwachsenen wegbringen, genauso wie man eine bisexuelle Frau nicht durch richtig guten Sex mit einem Mann ausschließlich heterosexuell machen kann.

Kurzfassung: nicht-exklusive pädophile Menschen sind nicht grundsätzlich unfähig, Partnerschaften mit Erwachsenen zu führen, aber auch eine solche Partnerschaft ändert nicht an dem Vorhandensein der pädophilen Neigung.

3. Pädophilie kommt bei Frauen nur in seltenen Einzelfällen vor

Eine weit verbreitete Annahme ist es, dass Pädophilie ein fast ausschließlich männliches Phänomen ist und es kaum Frauen gibt, die pädophile Neigungen haben. "Auch bei Frauen sind diese Neigungen nachgewiesen, es handelt sich jedoch um Einzelfälle", schreibt zum Beispiel RTL. Auch Sarah Allard behauptet in ihrem Interview: "Der Großteil der Pädophilen ist tatsächlich männlich."

Korrektur

Zugegebenermaßen handelt es sich hier um eine Aussage, die sich nicht eindeutig widerlegen lässt. Richtig ist, dass sich kaum pädophile Frauen an Therapiestellen wie Kein Täter Werden wenden oder in Selbsthilfeforen wie Gemeinsam statt allein auftauchen. Allerdings müssen wir dabei im Hinterkopf behalten, dass die Gruppe der Hilfe suchenden pädophilen Menschen nur eine Teilgruppe darstellt, die nicht unbedingt repräsentativ für alle pädophile Menschen ist. Es ist zumindest grundsätzlich denkbar, dass es gleich viele pädophile Frauen wie Männer gibt, sich Frauen aber wesentlich seltener an Hilfsstellen wenden. Der Grund dafür könnte zum Beispiel sein, dass Frauen sich von den Hilfsangeboten nicht angesprochen fühlen, vielleicht seltener Angst davor haben, übergriffig zu werden, seltener an Belastungen aufgrund ihrer Neigung leiden oder sich einfach wesentlich seltener mit dem Etikett "Pädophilie" identifizieren, weil sie immer wieder hören, dass das ein rein männliches Phänomen ist.

Ehrlicher wäre es, zu sagen, dass wir schlicht und ergreifend nicht wissen, wie häufig Pädophilie bei Frauen im Vergleich zu Männern vorkommt. Unter Männern gibt es eine Reihe von groß angelegten Studien in der Allgemeinbevölkerung, welche das Vorkommen von Pädophilie unter Männern auf einen Bereich von etwa 0,1 - 5% eingegrenzt haben. Bei Frauen fehlen solche große repräsentative Studien noch. Die Arbeiten, die es bisher gibt, zeichnen allerdings ein ähnliches Bild wie bei Männern. Eine kürzlich veröffentlichte Studie fand unter einer Gruppe von ca. 1500 Frauen etwa 7%, bei denen eine Ansprechbarkeit auf vorpubertäre Kinder vorhanden war – also ein durchaus ähnlich hoher Anteil wie bei Männern auch.

Kurzfassung: wir wissen nicht, wie häufig Pädophilie bei Frauen im Vergleich zu Männern vorkommt.

4. Pädophilie ist eine Krankheit

Von Experten, Medien und Laien wird Pädophilie häufig als Krankheit oder Störung behandelt. Der Süddeutschen Zeitung zu Folge ist Pädophilie etwa "eine Krankheit. Eine, die nicht heilbar ist."

Korrektur

Auch hier gibt es keine eindeutige Widerlegung. Richtig ist, dass Pädophilie im ICD, dem Diagnosehandbuch der Weltgesundheitsorganisation als Krankheit gelistet ist. Das als absolute Wahrheit anzuerkennen, wäre allerdings etwas zu kurz gegriffen, da diese Einordnung durchaus umstritten ist. Im DSM-V, einem alternativen Diagnosesystem für psychische Krankheiten, das vor allem in den USA eingesetzt wird, zählt Pädophilie nämlich nur noch unter einer wichtigen Voraussetzung als Störung: wenn der Betroffene direkt darunter leidet oder anderen Schaden zufügt. Diese Definition findet in ähnlicher Art auch Eingang in einer Überarbeitung des ICD, die 2022 in Kraft treten soll.

Konkret bedeutet dies, dass Pädophilie an und für sich demnach keine Störung ist, sondern erst dann zu einer werden kann, wenn sie den Betroffenen belastet oder zu Schaden bei Anderen führt. Das ist bei Weitem nicht bei jedem der Fall – erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass die Belastungen häufig durch die Stigmatisierung der Gesellschaft und die damit verbundene permanente Angst davor, entdeckt zu werden, und eben nicht durch die Neigung selber entstehen.

Kurzfassung: es setzt sich zunehmend die Ansicht durch, dass Pädophilie für sich genommen keine Störung ist, solange der Betroffene nicht darunter leidet oder anderen Schaden zufügt.

5. Pädophilie hat nur mit Sexualität zu tun

Wenn über Pädophilie geredet wird, dann meistens nur, indem auf die sexuellen Aspekte eingegangen wird. Manche gehen sogar so weit und fordern, den Begriff Pädophilie abzuschaffen, da er eine im Wortsinn eine Liebe zu Kindern impliziere und damit verharmlosend sei, da es schließlich nur um sexuelle Triebe gehe. Das forderte zum Beispiel auch die Ärztin Jutta Muysers in einem Interview mit dem WDR:

Der Begriff Pädosexualität beschreibt das Problem viel besser: Dass die Sexualität auf Kinder statt auf erwachsene Menschen ausgerichtet ist.

Der Begriff Pädophilie ist allerdings so gebräuchlich, dass es aus Gründen der Verständlichkeit schwer ist, ihn überhaupt nicht mehr zu verwenden.

Korrektur

Natürlich geht mit einer pädophilen Neigung in den allermeisten Fällen auch der Wunsch nach sexueller Intimität mit einem Kind einher. Es wäre allerdings falsch zu sagen, dass dies der einzige Aspekt ist, der für pädophile Menschen relevant ist. Genauso wie auch bei einer durchschnittlichen hetero- oder homosexuellen Neigung ist die Sexualität nur ein Aspekt der Pädophilie. Daneben gibt es auch emotionale und romantische Komponenten und Wünsche, die für die Pädophilie relevant sind. In einer Online-Umfrage unter 306 pädophilen Männern gaben zum Beispiel 70% an, sich schon einmal in ein Kind verliebt zu haben.

Die Gewichtung der einzelnen Aspekte ist dabei für jeden pädophilen Menschen unterschiedlich. Für manche ist die Neigung tatsächlich ausschließlich sexuell, und sie bauen kaum emotionale Bindungen zu Kindern auf. Bei anderen sind die emotionalen und romantischen Wünsche wesentlich stärker als die sexuellen. Bei den meisten pädophilen Menschen wird es wohl so sein wie bei den durchschnittlichen heterosexuellen Menschen zum Beispiel auch, also dass alle Komponenten zu einem gewissen Anteil eine Rolle spielen. Falsch ist es auf jeden Fall zu sagen, dass die Pädophilie als einzige Sexualität ausschließlich sexuell ist.

Kurzfassung: pädophile Menschen begehren Kinder nicht nur sexuell, sondern verlieben sich auch in sie und wünschen ihre Freundschaft und Nähe.