Letzte Woche wurde vor dem Landesgericht in Köln ein Urteil im Missbrauchskomplex Bergisch-Gladbach gesprochen. Ein 43-jähriger Vater wurde des wiederholten Missbrauchs seiner heute drei Jahre alten Tochter schuldig gesprochen und zu 12 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.

Dieser Fall ist für sich genommen schon erschütternd genug, doch die Ermittlungen haben außerdem den Blick auf eine Parallelwelt eröffnet, deren Ausmaß bundesweit für Schock und Entsetzen gesorgt hat. Eine Sonderkommission der Polizei, die BAO Berg, hat mit hunderten Ermittlern insgesamt über 200 Tatverdächtige in allen 16 Bundesländern ermittelt, die in diversen Chaträumen Kinderpornographie ausgetauscht, mit Missbrauch geprahlt oder sich teilweise gegenseitig zum Missbrauch angestachelt und verabredet haben. Eine dieser Chatgruppen auf Threema hatte alleine schon 76 Teilnehmer.

Einige der Details, die dabei an die Öffentlichkeit gekommen sind, machen in der Tat sprach- und fassungslos. So ist die Rede von Chatverläufen, in denen über Kindesmissbrauch so alltäglich gesprochen wird, wie andere über ihren Einkauf berichten. Von Menschen, die sich gegenseitig versichern, dass sie niemals gegen den Willen der Kinder handeln und nie Gewalt anwenden würden, während gleichzeitig die missbrauchten Kinder in den Videoaufnahmen "Aua" schreien und nach ihrer Mutter rufen. Von Vätern, die über ihre eigenen Töchter als reine Sexobjekte reden und sich darüber beklagen, wenn sie diese längere Zeit nicht "nutzen" (soll heißen: missbrauchen) können. Eines der vielen sichergestellten Beweisstücke war ein Dildo, auf dem ein Schriftzug angebracht war: "Heute ist Weltkindertag".

Das alles offenbart eine Welt, die gezeichnet ist von einem unfassbaren Zynismus und einer erschreckenden Unverfrorenheit. Und all das mitten in der Gesellschaft, zwischen Menschen, die nach außen hin eine bürgerliche Existenz aufgebaut und Respekt und Ansehen ihres Umfelds genossen haben.

Mir selber ist bei der Lektüre dieser grausamen Details, die aus den Ermittlungs- und Gerichtsverfahren heraus die Öffentlichkeit erreichen, eine Frage aufgekommen. Eine Frage, die in all diesen Debatten bislang überraschenderweise kaum erörtert wurde, dabei ist gerade diese Frage von zentraler Bedeutung für die Prävention zukünftiger Straftaten.

Es geht um folgende Frage:
Was führt eigentlich dazu, dass ein Mensch in solchen Chatgruppen landet?

Auch, wenn man der allgemeinen Berichterstattung zu Folge schnell meinen könnte, dass pädophile Menschen gewissenlose Monster sind, so unterscheiden sich Pädophile abgesehen von ihrer Sexualität erst einmal nicht grundlegend von anderen Menschen. Grundsätzlich gibt es also zunächst keinen Grund anzunehmen, dass Pädophile fundamental schlechtere Menschen sind als nicht-pädophile Menschen, oder mehr Vergnügen daran haben Missbrauch und Vergewaltigungen zu begehen. Das Ausmaß dieser Verbrechen also daran festzumachen, dass Pädophile grundsätzlich böse Menschen sind und deswegen solche Fälle passieren, ist zwar eine angenehme Antwort für die nicht-pädophile Mehrheit in unserer Gesellschaft, aber wohl eher keine realistische.

Wenn wir aber davon ausgehen, dass der durchschnittliche pädophile Mensch genauso wenig Interesse daran hat, Teil eines Kindesmissbrauchsnetzwerkes zu sein wie der durchschnittliche heterosexuelle Mensch kein Interesse daran hat, sich an Menschenhandel zu beteiligen, dann stellt sich zwingend die Frage, was passiert ist, dass so viele Menschen sich in diesen Chaträumen versammelt und den zynischen und unmenschlichen Unterhaltungen über missbrauchte Kinder mindestens zugesehen haben. Und genau diese Frage ist meiner Ansicht nach unfassbar wichtig, da sie der Schlüssel dazu sein kann, solche Taten in der Zukunft vielleicht verhindern zu können, bevor sie überhaupt stattfinden.

Ein paar Worte vorweg

Bevor wir uns dieser Frage widmen, möchte ich, um Missverständnisse zu vermeiden, ein paar Dinge klarstellen. Die Suche nach Erklärungen für Straftaten wird leider oft mit der Rechtfertigung dieser Straftaten verwechselt. Dazu möchte ich deutlich sagen: für die Straftaten, die im Fall Bergisch-Gladbach begangen wurden, gibt es keine Entschuldigung. Es mag Faktoren geben, die eher missbräuchliches Verhalten begünstigen und außerhalb der Kontrolle des Einzelnen liegen. Aber in letzter Instanz trifft jeder Täter die Entscheidung für eine Straftat immer noch selber. Für jede einzelne begangene Tat gab es immer auch die Option, diese Tat nicht zu begehen, gegen die sich die Täter aber ganz bewusst entschieden haben. Damit trägt jeder Täter die volle Verantwortung für sein Handeln und muss die Konsequenzen selber tragen. Die Suche nach einer Erklärung ist daher nicht die Suche nach mildernden Umständen, sondern der Versuch zu verstehen, was manche Menschen eher in die Nähe eines Missbrauchs treibt. Und genau dieses Verständnis ist unabdingbar für praktizierten Kinderschutz! Nur wenn wir verstehen, welche Faktoren einen Missbrauch begünstigen, können wir auch daran arbeiten, diese Faktoren zu reduzieren oder sogar ganz zu eliminieren.

Um es also noch einmal deutlich zu sagen: es geht mir um die Suche nach möglichen Ursachen, die dazu beitragen kann Missbrauch in der Zukunft zu verhindern, und nicht darum, die Schuld der Täter zu mindern.

Des Weiteren liegt es weder in meiner Kompetenz, noch in meiner Intention, hier definitive Antworten zu geben. Ich möchte lediglich mögliche Antworten vorstellen, und vielleicht den einen oder anderen Gedanken anregen, der bisher noch nicht wirklich in den Debatten vorgekommen ist. Im Einzelfall wird es ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren geben, die jemanden dazu bringen können, in solchen Chaträumen zu landen oder tatsächlich Missbrauch zu begehen, und die Liste möglicher Antworten ist daher auch nicht als vollständig zu verstehen. Auch wenn ich versuchen werde, so weit wie möglich im Einklang mit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu bleiben, so gibt es bei dem Thema so viele unerforschte Bereiche, dass an den meisten Stellen nichts anders als Spekulation übrig bleibt. Wichtig ist mir aber, dass wir überhaupt in diese Richtung denken und alle Möglichkeiten überprüfen und in Betracht ziehen, und uns nicht nur auf hastig beschlossene Gesetzesinitiativen ausruhen.

Und drittens werde ich mich im Folgenden ausschließlich auf pädophile Straftäter beschränken. Das liegt einfach daran, dass ich mich mit dem Thema Pädophilie am besten auskenne, und deswegen zu dem Thema noch am ehesten (hoffentlich) fundierte Vermutungen anstellen kann. Trotzdem muss man es immer wieder betonen, dass die meisten Täter von Kindesmissbrauch nicht pädophil sind. Und so werden auch in dem Missbrauchskomplex von Bergisch-Gladbach längst nicht alle Beteiligten pädophil gewesen sein. Darunter werden auch zum Beispiel Psychopathen sein, die keinerlei Empathie für Kinder haben; Sadisten, die sich einfach daran erfreuen Schwächeren leid zuzufügen; oder passive Mitläufer, die alleine aus morbidem Interesse in dieser Szene gelandet sind. Aus diesem Grund verurteile ich es auch, wenn in der Berichterstattung zu dem Thema von "Pädophilenringen", "Pädophilennetzwerken" oder ähnlichem die Rede ist. Auf der einen Seite implizieren solche Begriffe nämlich, dass alle Täter in diesen Fällen pädophil sind – was schlicht falsch ist. Und auf der anderen Seite werden damit en passant alle Gemeinschaften pädophiler Menschen kriminalisiert, die sich gemeinsam verbünden um sich gegenseitig beim Umgang mit ihrer Sexualität zu unterstützen, gerade ohne dabei mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen.

Kurz gesagt: nur, weil ich im Folgenden nur über pädophile Täter sprechen werde, soll das bitte nicht so verstanden werden, dass es nur pädophile Täter gibt.

Antwort I: Einsamkeit und Isolation

Pädophil zu sein, heißt sehr oft zur Einsamkeit verdammt zu sein. Viele pädophile Menschen entdecken ihre Sexualität meist schon in ihrer frühen Jugend, und sind dann mit einem überwältigendem Stigma konfrontiert. Sie lernen sehr früh, dass es keinen Ort in der Gesellschaft für sie gibt, dass sie von den meisten gehasst werden und dass sie nie darauf hoffen können, so akzeptiert zu werden, wie sie sind. Sich vor anderen zu outen ist immer mit einem potentiell existenzbedrohenden Risiko verbunden, und für viele damit keine Option. Demzufolge müssen sie alles mit sich alleine ausmachen, haben niemanden, mit dem sie über ihre Ängste und Probleme reden können, und leben in dem ständigen Bewusstsein, dass möglicherweise alle Menschen um sie herum sie sofort verstoßen und verurteilen würden, wenn sie vollständig offenbaren, wer sie sind.

Vollkommen alleine zu stehen und von jedem verurteilt zu werden ist aber keine Situation, die ein Mensch lange aushalten kann, ohne extreme psychische Belastungen davonzutragen. Wir Menschen brauchen andere Menschen, die uns nahe sind, und das Gefühl, von anderen akzeptiert zu werden, so wie man ist. Das gilt für pädophile Menschen genauso wie für alle anderen.

Jeder Mensch braucht einen Ort, wo er hingehört, und Menschen um sich herum, von denen man akzeptiert wird. Und bei allem, was man über die besagten Chaträume sagen kann, so wird wohl eines zutreffen: dass dort pädophile Menschen nicht aufgrund ihrer Sexualität verurteilt werden. Damit bieten solche Chaträume etwas, was pädophile Menschen im Rest der Gesellschaft kaum vorfinden, und können gerade deswegen für viele, die es bisher nur kannten verurteilt und gehasst zu werden, womöglich einen starken Reiz ausüben.

Und das kann auch dazu führen, dass man vieles bereit ist zu akzeptieren, was man unter anderen Umständen womöglich nicht akzeptieren würde. Eben um dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, dieses akzeptiert-werden nicht wieder zu verlieren. Mit Gruppen geht oft auch eine Form von Gruppenzwang einher, und im Falle von kriminellen Chatgruppen äußert sich dieser Gruppenzwang wohl dadurch, die zahlreichen Verbrechen zu akzeptieren oder sogar selber mitzumachen. Und so ein Gruppenzwang ist wahrscheinlich besonders mächtig, wenn man davon ausgehen muss, dass diese Gruppe die einzige ist, zu der man je gehören wird.

Es ist also denkbar, dass viele Teilnehmer dieser kriminellen Vereinigungen ihnen ursprünglich vor allem deswegen beigetreten sind, weil diese ihnen eine Gemeinschaft und einen Weg aus der Einsamkeit geboten haben, und sie sich nicht vorstellen konnten dies irgendwo anders zu erleben.

Antwort II: Übernahme äußerer Etikette

Fast jeder pädophile Mensch dürfte diese Situation schon einmal so ähnlich erlebt haben: Man sitzt zusammen mit der Familie, Freunden oder Arbeitskollegen. Alles ist soweit harmonisch, bis das Tischgespräch irgendwann auf das Thema Pädophilie umschwenkt. Die vormals offenen und freundlichen Gesichter der Menschen, mit denen man eben noch das Essen geteilt hat, verhärten sich augenblicklich, ihnen steht Ekel und Abscheu ins Gesicht geschrieben, während einer nach dem anderen in einen wütenden Chorus einstimmt, voll offener Verachtung seine absolute Abscheu gegenüber "diesen Menschen" zum Ausdruck bringt und man sich gegenseitig darin übertreffen will zu betonen, wie abartig Pädophile doch sind.

Das Vorurteil, Pädophile seien grundsätzlich unmoralische, empathielose, gefährliche, ekelige und abartige Monster, ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet und tief verwurzelt. Die üblichen Stereotype für pädophile Menschen bewegen sich normalerweise irgendwo zwischen dem ekligen und schmierigen Typen am Spielplatz, bis hin zum empathielosen Kindermörder. Und natürlich bekommen das auch pädophile Menschen mit, und werden regelmäßig damit konfrontiert, von den verletzlichen Jugendjahren an. Genau das ist ein riesiges Problem.

In der Soziologie gibt es den sogenannten "Etikettierungsansatz", der sich vereinfacht zusammengefasst auf einen Satz herunterbrechen lässt: "du wirst irgendwann zu dem, wie andere dich sehen". Bestimmte Vorurteile und Zuschreibungen, welche die Gesellschaft an Individuen und Gruppen vergeben, bergen also die Gefahr, zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden. Das hat besonders bei der Behandlung von Straftätern wichtige Konsequenzen, denn wenn man einen Ersttäter als "kriminell" abstempelt, besteht die Gefahr, dass diese Person das Etikett für sich übernimmt und die Chance auf ein straffreies Leben in der Zukunft radikal sinkt.

Bei pädophilen Menschen ist das besonders relevant, weil hier noch nicht mal eine Ersttat notwendig ist, um als kriminell abgestempelt zu werden. Da die meisten Menschen Pädophilie immer noch mit (potentiellen) Kindesmissbrauch gleichsetzen, werden Pädophile im Grunde von Geburt an als gefährliche Kriminelle etikettiert. Im Kontext des Etikettierungsansatzes ist es daher überhaupt nicht überraschend, sondern eher noch zu erwarten, dass es entsprechend pädophile Menschen gibt, die diese Identität irgendwann akzeptieren, für sich übernehmen und tatsächlich kriminell werden.

Die Schnipsel aus den Chats, die bisher an die Öffentlichkeit gelangt sind, erwecken bei mir den Eindruck, dass dort Menschen anwesend waren, welche die Vorurteile und Ansichten der Gesellschaft über Pädophile aufgesogen haben wie einen Schwamm. Es scheint so, als ob sie ihre Identität um den Grundgedanken aufgebaut haben, genau die widerlichen und abscheulichen Monster zu sein, welche die Gesellschaft gerne in pädophilen Menschen sieht. Als würden sie sich in der ihnen von außen zugeschriebenen Abartigkeit regelrecht baden, und diese gerade dadurch erst bestätigen.

Antwort III: "Ist doch eh egal…"

Die grundsätzliche Kriminalisierung pädophiler Menschen ist auch darüber hinaus ein Problem. Ich kenne viele pädophile Menschen, die in ihrem ganzen Leben keine Straftat begangen haben, und trotzdem massive Angst vor Strafverfolgungen haben und davor, dass jemals öffentlich bekannt werden könnte, dass sie pädophil sind. Einfach deswegen, weil der Gedanke, dass Pädophile zumindest grundsätzlich gefährlich für Kinder sind, wenn sie nicht schon Straftaten sie begangen haben, derart weit verbreitet ist dass es oft den Anschein hat, das Vorhandensein einer Pädophilie alleine reicht schon als Anfangsverdacht aus, um umfassende strafrechtliche Ermittlungen (Hausdurchsuchungen und Untersuchungshaft mit eingeschlosssen) einzuleiten.

Und selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, so muss man damit rechnen von anderen Menschen wie ein Krimineller behandelt zu werden, wenn die eigene Sexualität öffentlich bekannt werden sollte. Die möglichen Folgen können sein: Verlust von Arbeitsplatz, Freunden, Wohnung, Kontaktabbrüche, bis hin zu physischen Angriffen oder gar Mordversuchen. Kurz gesagt: ganz egal, ob man je eine Straftat begangen hat oder nicht, man muss als pädophiler Mensch zu jeder Zeit damit rechnen, wie ein Verbrecher behandelt zu werden.

Genau das ist aber fatal. Wenn Menschen das Gefühl bekommen, dass es völlig egal ist ob sie Straftaten begehen oder nicht, was sollte sie dann noch davon abhalten Straftaten zu begehen? Manche könnte es womöglich sogar noch anstacheln, frei nach dem Motto: "dann soll es sich wenigstens lohnen". Oder es könnte dazu führen, dass sie sämtlichen Respekt für das Gesetz verlieren, weil sie lernen, dass das Gesetz sie auch dann nicht schützt, sondern noch verurteilt, wenn sie überhaupt keine Straftat begehen.

Warum also sollte jemand versuchen, nicht kriminell zu werden, wenn er das Gefühl hat schon von Geburt an als kriminell definiert worden zu sein, und gar keine Chance zu haben in der Gesellschaft integriert und mit Respekt behandelt zu werden? Es ist zumindest vorstellbar, dass es einige Menschen gibt, die im Angesicht dieser Behandlung irgendwann resignieren und den Versuch aufgeben, ein gesetzestreues Leben zu führen. Die stattdessen verbittern und dann das einzige Schicksal annehmen, dass es für sie zu geben scheint: nämlich das Schicksal des abscheulichen Verbrechers, der weit abseits der Gesellschaft sein Leben in kriminellen Schattenwelten fristet.

Was folgt daraus?

Wenn wir davon ausgehen, dass die obigen Antworten zumindest zum Teil relevante Faktoren sein können, die manche pädophile Menschen in kriminelle Chatgruppen und zu Straftaten führen, dann ergibt sich daraus vor allem eine zentrale Folgerung: die Stigmatisierung pädophiler Menschen ist kontraproduktiv für die Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch!

Das ist an sich keine bahnbrechende Erkenntnis, und wurde zum Beispiel von der Stigma-Forscherin Sara Jahnke auch so ähnlich formuliert. Konkret heißt das aber, dass in den Diskussionen, die in den letzten Monaten zum Thema Pädophilie und Kindesmissbrauch geführt wurden, einiges schiefgelaufen ist.

Viel wurde in den letzten Monaten in Politik und Gesellschaft über Strafe und Prävention geredet, also darüber, wie wir mit solchen Fällen umgehen sollten, und ähnliches in der Zukunft verhindern können. Ergebnis dieser Debatten ist bislang vor allem ein neuer Gesetzesentwurf von Justizministerin Lambrecht, der durchweg härtere Strafen für alle Sexualstraftaten gegen Kinder vorsieht. Ein Ansatz, der sich alleine auf Strafverfolgung und Bestrafung fokussiert kann aber grundsätzlich nur reaktionär agieren und das Grundproblem nicht lösen. Wenn wir wirklich etwas daran ändern wollen, dass solche Straftaten mitten in unserer Gesellschaft passieren, dann müssen wir auch anfangen darüber nachzudenken, wie wir daran arbeiten können, dass solche kriminellen Vereinigungen und Chatgruppen nicht mehr so eine anziehende Wirkung auf so viele Menschen haben.

Dazu gehört auch, dass wir nach Möglichkeiten suchen Menschen aus solchen Chatgruppen und Gemeinschaften herauszuholen, wie sie im Fall Bergisch-Gladbach aufgedeckt wurden. Die Gefahr, dass manche Teilnehmer dieser Chats zu realen Missbrauch getrieben werden, wird bereits jetzt schon von Ermittlern und Experten erkannt. Der einzige Lösungsvorschlag, der bis jetzt im Gespräch ist, besteht allerdings daraus, soviel Energie wie möglich darauf zu verwenden, diese Chats und Gruppen zu sprengen und zu eliminieren. Das ändert aber nichts an der Grundsituation, dass es alleine in Deutschland womöglich Hunderttausende einsame pädophile Menschen gibt, die sich verzweifelt einen Ort wünschen, wo sie nicht verurteilt, sondern akzeptiert werden.

Wir als Gesellschaft müssen anfangen, dies nicht mehr als zwingende Notwendigkeit, sondern als ein zu lösendes Problem zu sehen. Es ist wichtig, pädophilen Menschen das Gefühl zu geben, dass sie so wie sie sind akzeptiert werden und Menschen finden können, mit denen sie offen und ehrlich sein können. Auch jenseits von Therapien braucht es mehr Orte und Anlaufstellen, an die man sich als Pädophiler wenden kann ohne verurteilt zu werden – etwa Selbsthilfegruppen (online wie offline), die eben jegliche illegalen Aktivitäten nicht akzeptieren, aber pädophile Menschen dennoch annehmen und unterstützen. Auf diese Weise ließe sich vielleicht für viele Menschen einige ihrer grundlegend menschlichen Bedürfnisse erfüllen, deren Erfüllung sie sonst in kriminellen Vereinigungen suchen würden.

Wenn wir dem Etikettierungsansatz folgen und annehmen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die sich wie Monster verhalten (unter anderem) weil sie wie Monster gesehen und behandelt werden, dann wäre es das falscheste, was man machen kann, diese Menschen jetzt als Paradebeispiel für den typischen Pädophilen zu nehmen – wie es leider in den Debatten der letzten Monate sehr oft vorgekommen ist. Denn genau das verstärkt diesen Prozess der Etikettierung nur noch. Wir dürfen nicht vergessen, dass all die Berichterstattungen und Reden zum Thema auch von pädophilen Menschen gesehen werden, die davon natürlich auch nicht unbeeinflusst bleiben. Auch wenn es schwer fällt ist es bei all diesen Fällen besonders wichtig, zwischen Pädophilie und Kindesmissbrauch zu unterscheiden. Alles andere verstärkt nur den Eindruck, dass man als Pädophiler in dieser Gesellschaft grundsätzlich auf einer Stufe mit den schlimmsten Kriminellen steht, und es absolut nichts gibt, was man dagegen machen kann. Genau diese Resignation sollten wir aber nach Möglichkeit verhindern und viel mehr die Perspektive eröffnen, dass man als pädophiler Mensch in der Gesellschaft einen Platz hat und willkommen ist, wenn man keine Straftaten begeht.

Vielleicht am wichtigsten ist aber, solche Fragen und Möglichkeiten überhaupt zuzulassen und zu überdenken. Bei all den Grausamkeiten, die in Bergisch-Gladbach (und in Staufen, Lügde, Münster und den vielen, vielen Fällen, die nie in die Medien kommen) ans Tageslicht gekommen sind, bietet die Aufarbeitung auch eine Chance. Es bietet die Chance, uns zu reflektieren und zu hinterfragen, und die Gesellschaft, in der wir leben in neue Richtungen zu lenken, in der es hoffentlich nicht mehr zu solchen Taten kommen kann. Dazu ist es aber auch notwendig, dass wir diese Chance ergreifen, auch wenn die Selbstreflexion unangenehm ist und oft weh tut, und die Suche nach einfachen Antworten verführerisch angenehm ist. Das sind wir nicht zuletzt auch den Kindern schuldig, die zum Teil jahrelang mitten unter uns gefoltert und missbraucht wurden. Es ist unsere Verantwortung, diese Chance zu ergreifen und aus ihrem Leid zu lernen.


Hinweis für pädophile Leser
_Ein Teil des KiH-Teams betreibt zusammen mit weiteren Freiwilligen einen moderierten Online-Selbsthilfechat: Die P-Punkte. Der Selbsthilfechat soll gerade auch eine Gemeinschaft und Unterstützung fernab dubioser Darknet-Chats bieten. Wenn du dich in dem Artikel also wiederfindest, dich einsam fühlst und über deine Gefühle reden möchtest, ohne für sie verurteilt zu werden, dann komm gerne vorbei! _