Manche Leute vergleichen unsere Situation gern mit der von Alkoholikern. Andere wiederum kritisieren diesen Vergleich sehr stark. Für die Kritik gibt es dabei gute Argumente, denn die Ansicht sexuelle Bedürfnisse seien ähnlich dranghaft-unkontrollierbar wie eine Sucht ist ein Punkt, an dem unsere ganze Gesellschaft krankt. Trotzdem benutzt Prof. Beier gern in Gesprächen und Interviews einen Vergleich, der aus dieser Kategorie stammt. Ich möchte für Herrn Beier und diesen Vergleich gern einmal eine Lanze brechen und erörtern, was in meinen Augen da dran ist und was auch nicht.

Worum geht es? Hier ein Zitat dieses Vergleichs nach dem SPIEGEL-Interview „Okay, so bin ich“ von René Pfister und Antje Windmann aus dem Jahre 2014:

Wir müssen zu dem ganzen Thema Pädophilie ein rationaleres Verhältnis bekommen. Wenn Sie in Ihrem Haus einen neuen Nachbarn haben und besuchen ihn mit einer Flasche Wein, aber er erwidert: „Ich kann leider nicht mittrinken, ich bin Alkoholiker“, dann ist das heutzutage völlig in Ordnung. Aber wenn Sie Ihren Nachbarn fragen, ob er mal kurz auf Ihren fünfjährigen Sohn aufpassen kann, und er sagt: „Nein, tut mir leid, ich bin pädophil“, dann kann er sofort wieder ausziehen, weil er sozial geächtet wäre. Dabei hätte sich der Mann sehr verantwortungsvoll verhalten.

Dieser Vergleich hat nicht das Ziel, das Wesen der Pädophilie mit dem des Alkoholismus — also einer Sucht — zu vergleichen sondern a) den Umgang damit im eigenen Leben und b) die gesellschaftlichen Reaktionen darauf. Er wird gewöhnlich angeführt um das Dilemma Pädophiler zB im Falle eines Outings zu illustrieren. Nicht um eine erschöpfende Darstellung des Wesens der Pädophilie zu liefern.

Das kann der Vergleich auch nicht. Das kann kein Vergleich! Wenn jemand heute die Bergpredigt liest, wo Jesus Menschen mit Blumen und Vögeln verglich, würde da irgendjemand annehmen, er meine, Menschen seien sprichwörtlich strohdoof (Spatzenhirn)? Sicherlich nicht, denn es ging dabei um ein ganz anderes Thema, nämlich Gottvertrauen. So auch hierbei. Wie kann man von einem Vergleich, der (je nachdem, wie man zählt) aus 2 bzw. 4 kurzen Sätzen besteht, erwarten, dass er die ganze Komplexität einer sexuellen Orientierung erfasse und einschließe? Es gibt zig Seiten lange Abhandlungen sowohl über Alkoholismus als auch über Pädophilie und über jede andere Spielart sexueller Präferenzen. Selbst die sind in aller Regel nicht erschöpfend.

Natürlich ist eine sexuelle Präferenz etwas ganz anderes als eine Sucht. Aber der verantwortungsvolle Umgang damit kann sich durchaus ähneln. Und um Ähnlichkeit geht es bei einem Vergleich, nicht um Gleichheit. Eine Sucht schließt ein, dass man ein ungewöhnliches Verlangen nach etwas hat, was einem nicht gut tut. Auch die Pädophilie schließt sexuelles Verlangen nach etwas ein, was umgesetzt schädlich wäre. Eine Sucht lässt sich kontrollieren. Und jeder einzelne Mensch, ob Pädo- oder wasauchimmer-phil, muss gewisse Wünsche oder Bedürfnisse kontrollieren. Sonst würde man sich zB in die Hose machen oder den ätzenden Arbeitskollegen verprügeln.

Was an Prof. Beiers Vergleich auch gern kritisiert wird ist die Tatsache, dass man daraus eine Pauschalität herauslesen könne, dass jeder Pädophile sich von Kindern fernhalten sollte. Nur das wäre verantwortlich. Ist das aber wirklich im Vergleich enthalten? Ebenso könnte man ihm entnehmen, dass kein verantwortungsvoller trockener Alkoholiker sich je mit einem Nachbarn hinsetzen würde, der ein Glas Wein trinkt. Letzteres stimmt jedoch nicht: nicht jeder Alki wird gleich schwach, wenn er jemand anders Alkohol trinken sieht oder welchen angeboten bekommt. Manche setzen sich problemlos in die Kneipe und bestellen die sprichwörtliche Apfelschorle. Das ist heute allgemein bekannt und akzeptiert. Der Alkoliker im Vergleich hält es für sich jedoch für sinnvoller dankend abzulehnen, was niemand kritisieren sollte.

Warum wird bei diesem Vergleich dann angenommen, dass über pädophile Menschen eine pauschale Aussage getroffen werde? Auch sie haben unterschiedliche Fähigkeiten und ziehen für sich je nach ihren Gegebenheiten unterschiedliche Grenzen. Und nicht allein auf ein Kind aufzupassen ist keine unvernünftige Grenze. Nur sie allen Pädophilen pauschal aufzudrücken wäre unvernünftig. Doch auch das empfiehlt der Vergleich selbst nicht.

Was hält den Alki und den Pädophilen ab ihre Grenzen zu überschreiten? Kurzsichtig betrachtet könnte man annehmen es ginge darum nichts zu trinken bzw. kein Kind zu missbrauchen — und dass dies sofort passieren würde, wenn einer der beiden seine Grenzen überschreite. Aber ist das einzige, was einen Alkoholiker abhalten kann den Nachbarn hereinzubitten oder in eine Kneipe zu gehen nur die Gefahr unkontrolliert zum Glas zugreifen? Vielleicht geht er nicht dorthin, weil die allgegenwärtige Versuchung in ihm ein Gefühl des Unwohlseins auslöst. Unbehaglichkeit. Oder dieses Setting ruft unangenehme Erinnerungen wach und er meidet es deshalb. Also gar nicht mal weil er fürchtet rückfällig zu werden, sondern aus viel "weicheren" Gründen.

Dasselbe trifft auf den Pädophilen zu: dass er ablehnt mit einem Kind Umgang zu haben heißt nicht, dass er Grund zu der Befürchtung habe, er würde bei erster Gelegenheit einen Übergriff begehen. Und selbst wenn heißt es nicht, dass dies bei allen anderen Pädophilen ebenfalls so wäre. Vielleicht wäre ihm dieses Setting aktuell zuviel, anstrengend, erinnert ihn noch schmerzlich an den Verlust der Hoffnung, dass Intimität mit seiner Präferenz für ihn doch irgendwie möglich wäre, oder er möchte für ein eventuelles Outing vorsorgen, damit ihm später niemand was nachsagen kann. So wie der trockene Alkoholiker nicht bei jeder sich bietenden Gelegenheit zur Flasche greifen wird (sonst bliebe er nicht lange trocken) sondern ganz selbstverständlich eine gewisse Festigkeit in sich entwickeln muss, Versuchungen zu trotzen, so gehört es zum normalen Leben eines Pädophilen dazu nicht übergriffig zu werden. Vor allem, da ein Übergriff ungleich schlimmere Folgen hat als ein Griff zur Flasche. Ein nicht-übergriffiger Pädophiler, der übergriffig wird sobald sich Gelegenheit bietet, ist nicht lange nicht-übergriffig. Es gehört zum Menschsein dazu vernunftbedingt, aus Notwendigkeiten heraus, für das Wohl Anderer, ja sogar kulturell bedingt gewisse Bedürfnisse anders zu managen als ihnen direkt nachzugehen. Warum wird von Pädophilen weniger erwartet? Gerade wenn es um etwas mit der Tragweite eines sexuellen Übergriffs geht?

Ich denke es wird weniger erwartet, weil viele die Gruppe der Pädophilen aber einige auch sich selbst eigentlich eher als Tiere sehen. Es gefährdet ihre eigenen Freiheiten, die sie für sich selbst einfordern, einzugestehen, dass gewisse Dinge ganz selbstverständlich zu kontrollieren gehen. Wer anderen Kontrolle über ihren Sexualtrieb zugesteht kann schwerlich selbst für seinen Seitensprung in Anspruch nehmen, es sei einfach über ihn gekommen, er habe sich seiner Gefühle nicht erwehren können oder sagen „Ich bin halt nur ein Mann“. Und wie sähe das erst bei Menschen aus, die selbst sexuell übergriffig sind? Sie würden damit ihre eigene Legitimation vor sich selbst ankratzen, die ihnen erlaubt so zu handeln und noch immer ruhig zu schlafen.

Was bleibt also? Es bleibt, dass die Förderung der Gleichsetzung von sexuellem Empfinden mit einer Sucht oder einem unabwehrbaren Trieb eine Geißel der heutigen Gesellschaft ist. Es bleibt auch, dass der Vergleich sexuellen Begehrens mit einer Sucht hinkt. Und dass die Gleichsetzung der beiden eine unzulässige Vereinfachung ist, die dazu dient Diskriminierung zu legitimieren. Aber es bleibt auch, dass Herr Beiers Vergleich das, was er hervorheben will, meiner Ansicht nach ganz hervorragend ausdrückt, während die harsche Kritik daran sich eigentlich nur auf hineininterpretierte Details stürzt, die man beim besten Willen gar nicht notwendigerweise da herausziehen muss. Oder kann, wenn man den Kontext nicht außer Acht lassen will.