Anfang April verkündeten Europol und die bayerische Polizei die Abschaltung der Darknet-Plattform Kidflix, auf der Kinder- und jugendpornografische Videos auch gegen Bezahlung angeboten wurden. Auf diese Bekanntmachung folgte eine durchweg reißerische Berichterstattung, die schnell Pädophilie als vermeintlich ursächliches Übel identifizierte und in einem verstörendem Ausmaß gegen pädophile Menschen hetzte (für mehr Details zum Ausmaß dieser medialen Hetze siehe: Kidflix und der Hass auf Pädophile).
Doch das ist noch nicht einmal der einzige Aspekt, in dem die Berichterstattung um Kidflix unverantwortlich und problematisch war. Auch abseits des Umgangs mit dem Thema Pädophilie zeichnete sich die Berichterstattung durch mangelhafte Sachlichkeit, Distanzlosigkeit zu Polizei und Staatsanwaltschaft und der Unterschlagung wichtiger Informationen aus, die für ein Verständnis des ganzen Themenkomplexes eigentlich unerlässlich sind.
Das Märchen von den Millionen Nutzern
Die Probleme fangen schon bei der Frage an, wie viele Täter:innen eigentlich auf Kidflix aktiv waren. In den Medien findet man hier vor allem eine Zahl von 1,8 Millionen, die wieder und wieder genannt wurde und dabei insgesamt in der ganzen Berichterstattung sogar etwas öfter vorkam, als das Wortfragment Pädo.
Handelt es sich dabei also wirklich um 1,8 Millionen individuelle Menschen, welche die Plattform in den drei Jahren ihres Betriebs aufgesucht haben? Einige Schlagzeilen legen dies nahe, und auch eigentlich seriöse Quellen wie zum Beispiel das ZDF sprachen von „1,8 Millionen Nutzer weltweit“, welche die Plattform gehabt haben soll. Beim genaueren Hinsehen kommen aber schnell Zweifel auf. So handelt es sich bei diesen 1,8 Millionen laut einer Pressemitteilung der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg um Nutzer, die „zumindest zeitweise angemeldet“ waren. Ein paar Sätze vorher aber ist gleichzeitig von „ca. 190.000 Nutzer der Plattform“ die Rede, gegen die ermittelt werde.
Was bedeuten die Zahlen, und wie kann es sein, dass diese so weit auseinanderlaufen? Aus der Kommunikation der Staatsanwaltschaft und der Polizeibehörden wird dies nicht klar. 190.000 registrierte Accounts bedeutet jedenfalls nicht, dass es auch 190.000 individuelle Menschen gab, die sich auf der Plattform strafbar gemacht haben, da davon auszugehen ist, dass viele Täter:innen sich mehrere Accounts erstellen. Bei dem kriminellen Forum Boystown zum Beispiel war ebenfalls immer wieder von „400.000 Nutzern“ die Rede, wobei eine genauere Datenanalyse gezeigt hat, dass es sich dabei um viele Mehrfachaccounts handelte und schlussendlich lediglich maximal 20.000 dieser Accounts überhaupt aktiv waren. Auch bei Kidflix kann man also davon ausgehen, dass die tatsächliche Anzahl der Nutzer:innen wohl deutlich weniger als 1,8 Millionen war. Vom LKA Bayern veröffentlichte Bildschirmaufnahmen der Plattform zeigen, dass viele Videos scheinbar auch nach Jahren nur ein paar dutzend Mal angesehen wurden, was ebenfalls gegen ein potentielles Millionenpublikum spricht.
Was seltsamerweise gar nicht angegeben wurde, aber vermutlich ein deutlich klareres Bild über die echte Anzahl der auf der Plattform aktiven Menschen gegeben hätte, ist die Anzahl der Nutzer:innen, die für illegales Material tatsächlich auch gezahlt haben. Man kann hier spekulieren, dass diese Zahl nicht genannt wurde, weil sie die bewusst unklar gelassenen Erzählungen von 1,8 Millionen Nutzenden deutlicher infrage stellen würde. Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal, dass Polizei und Justiz unklare Definitionen nutzen, um überhöhte, aber eindrucksvoll klingende Zahlen in die Berichterstattung zu tragen. Bei den Ermittlungen rund um den Missbrauchskomplex Bergisch-Gladbach war zum Beispiel zunächst von 30.000 Verdächtigen die Rede, gegen die angeblich ermittelt wurde. Auf Nachfrage musste der damalige NRW-Justizminister Peter Biesenbach dann aber etwas kleinlaut korrigieren: Es ging um 30.000 Spuren zu Verdächtigen, wobei viele Spuren vermutlich zu der gleichen Person gehören. Davon sind am Ende gerade einmal 439 Tatverdächtige übrig geblieben, die von der Ermittlergruppe BAO Berg bis zu ihrer Auflösung ermittelt wurden.
Polizei und Staatsanwaltschaft haben ein natürliches Interesse daran, möglichst große Zahlen zu nennen, da dies ihre Erfolge größer erscheinen lässt (zumindest scheinbar, dazu aber später mehr). Es klingt spektakulärer sagen zu können, dass man eine kriminelle Plattform mit Millionen Nutzern abschalten konnte, als dass man eine Plattform mit Tausenden Nutzern abgeschaltet hat. Es lohnt sich also bei Zahlen, die von der Polizei genannt werden, immer kritisch zu bleiben und diese generell zu hinterfragen. Auch dies ist eigentlich eine Aufgabe der Medien, die aber auch hier vollkommen versagt haben.
Anstatt die Zahlen zu hinterfragen und einzuordnen, sind die Medien stattdessen eine Art Symbiose mit den Polizeibehörden eingegangen: so wurden unkritisch die astronomischen Zahlen der Polizei übernommen und weitergetragen, um im Gegenzug alarmistische Schlagzeilen vom „Pädophilen-Netzwerk“ mit „zwei Millionen Nutzern“1 abdrucken zu können. Ebenso wie bei der hetzerischen und unsachlichen Berichterstattung zu Pädophilie trifft auch dies genauso auf klassische Boulevardmedien wie auch auf eigentlich seriöse und öffentlich-rechtliche Medien zu.
Solche sensationshaschende Berichte verzerren das Bild und lassen das Ausmaß des Problems größer erscheinen, als es tatsächlich ist. Diese fundamental unkritische Haltung zu Polizei und Staatsanwaltschaft geht aber noch weiter. Als Komplizen helfen die Medien der Polizei dabei, fragwürdige Ermittlungsmethoden zu normalisieren und zu legitimieren, obwohl diese höchstwahrscheinlich ganz konkret das fortgeführte Leid von Kindern in Kauf genommen haben.
Stell’ dir vor jemand verkauft Kinderpornos und die Polizei schaut zu
Die Medien erzählen die Geschichte von Kidflix in etwa so: da hat jemand 2021 im Darknet eine Plattform eröffnet, über die kinder- und jugendpornografische Filme auch gegen Bezahlung gestreamt werden konnten. Anfang 2022 wird die Polizei in Bamberg auf die Plattform aufmerksam. Nach drei Jahren intensiver Ermittlungen gelingt ihnen schließlich im März 2025 die Abschaltung und in einem internationalen Kraftakt die Festnahme mehrerer Verdächtiger. Alle sind stolz auf den Erfolg und gehen zufrieden nach Hause.
An sich klingt der Ablauf erst einmal schlüssig. Seltsam ist nur ein Satz von Oberstaatsanwalt Thomas Goger, der in der Pressekonferenz zu dem Fall gefallen ist. Laut einigen Artikeln, unter anderen von der Süddeutschen, sprach Goger davon, dass die Ermittlungen ein „wahnsinniger Spagat“ zwischen der Verhinderung von Taten und dem Schutz der weiteren Ermittlungen gewesen seien. Hier hätte eigentlich jeder aufmerksame und investigativ denkende Journalist aufhorchen müssen.
Was genau meint Goger mit diesem Spagat? Sollte Polizeiarbeit nicht immer im Dienst des Opferschutzes stehen? Warum stand dann während der Ermittlungen die Polizeiarbeit scheinbar in einem Konflikt mit dem Opferschutz, und wie wurde dieser Konflikt aufgelöst?
Die Antwort findet sich tief versteckt und von einer Paywall geschützt in einem SPIEGEL-Artikel. Dort heißt es (Hervorhebung von mir):
Im April [2022] fanden [die deutschen Ermittler] den Server in einem europäischen Nachbarland, und weil alle kooperativ waren – der Webhoster, die ausländischen Kollegen –, kamen schon wenige Wochen später die ersten Festplatten mit Kopien aller Daten in Bayern an. Die Plattform sollte erst einmal weiterlaufen, entschieden die Strafverfolger, um keinen Verdächtigen durch das Abschalten zu warnen.
Die Strafverfolgungsbehörden haben also bereits 2022 Zugriff auf die Plattform erlangt, und hätten sie seitdem jederzeit abschalten können. Stattdessen entschieden sie sich, nichts zu tun und ermöglichten somit drei Jahre lang die fortgeführte Verbreitung von Kinder- und Jugendpornografie. Das ist also das, was Goger beschönigend einen „wahnsinnigen Spagat“ nennt: in der Hoffnung, ein paar mehr Verdächtige festnehmen zu können wurde ermöglicht, dass über Jahre hinweg Kriminelle weiterhin ungestört illegale Inhalte verbreiten konnten.
Der Fall Kidflix ist nichts weniger als ein erschütternder Skandal, der tiefgreifende Fragen über die Rolle der Polizei bei der globalen Verbreitung von Kinder- und Jugendpornografie aufwirft. Wenige Monate, bevor Kidflix endlich doch abgeschaltet wurde, fand ein Rechercheteam von NDR und ARD heraus, dass die deutsche Polizei auch in anderen Bereichen kinderpornografische Inhalte nicht löscht, obwohl sie dazu mit minimalem Aufwand jederzeit in der Lage wäre. Die Vorgehensweise bei Kidflix passt also zu einem etablierten Muster bei der Polizeiarbeit in dem Bereich, das von Untätigkeit und dem Unwillen, sich effektiv gegen die Verbreitung von Kinderpornografie einzusetzen gekennzeichnet ist.
Man muss eigentlich nur die Justiz selber fragen, was daran so problematisch ist. „Hinter jedem Bild, hinter jedem Video steht das unfassbare Leid eines Kindes“, betonte Justizminister Eisenreich noch in einer Pressemitteilung zu dem Fall. Auf einer Infoseite der Polizei NRW wiederum werden Studien zitiert, die zeigen, dass Betroffene häufig unter dem Wissen leiden, dass ihre Darstellungen weiter verbreitet werden. Laut Informationen des SPIEGEL gehörte zu der Plattform darüber hinaus auch ein Chatbereich, über den 53.000 Nachrichten ausgetauscht und sich Teilnehmende unter anderem für echten Missbrauch verabredet haben sollen. Dadurch, dass die Polizei dies nicht bei der ersten möglichen Gelegenheit unterbunden hat, macht sie sich zu Mittätern und Befähigern für die Straftaten und das daraus entstehende Leid.
All das sollte eigentlich Grund genug für Journalist:innen sein, das Vorgehen der Polizei kritisch zu hinterfragen. In der Medienberichterstattung ist davon aber nichts zu finden. Mindestens 46x wurde Kidflix in Artikeln als „eine der populärsten Plattformen für Pädophile“ bezeichnet (Beispiel: ZEIT, ZDF, Tagesschau, Watson, n-tv und viele mehr). Kein einziges Mal wurde darauf hingewiesen, dass die Plattform nur deshalb so groß werden konnte, weil die Ermittlungsbehörden den Betrieb für drei ganze Jahre ermöglicht hat.
Die Polizei selber rechtfertigt ihre Untätigkeit damit, dass sie nur so die Identität der Nutzer:innen der Plattform aufdecken konnten. Außerdem seien die Ermittler bei konkreten Kindeswohlgefährdungen angeblich sofort wirksam aktiv geworden. Zum Beweis wurden ein paar Einzelfälle beschrieben, bei denen die Polizei bereits vor Abschaltung von Kidflix gegen Verdächtige vorging und deren Kinder in die Obhut des Jugendamtes übergab. Auch diese Selbstdarstellung ist mindestens zweifelhaft. In vielen Fällen werden Ermittler:innen gar nicht aktiv werden können, wenn sie nicht in der Lage sind, die Identität der Verdächtigen aufzudecken (dazu später mehr). Andersherum ist bisher noch nicht klar, ob die vorab überführten Verdächtigen sich tatsächlich des Missbrauchs an ihren Kindern schuldig gemacht haben. Diese Einzelfälle lenken davon ab, dass in bislang ungeklärt vielen Fällen die Polizei eben nicht tätig werden konnte und die Täter:innen ungeschoren davongekommen sind.
In Bezug auf die Medienberichterstattung ist besonders erschreckend noch nicht einmal, dass die Medien die Methoden der Polizei nicht hinterfragt haben und ihre Rechtfertigungen unkritisch übernommen haben, sondern dass die meisten Redaktionen es gar nicht für relevant hielten, überhaupt darüber zu informieren. Selbst wenn man es für einen guten Trade-Off hält, die internationalen und kommerzielle Verbreitung von Kinder- und Jugendpornografie über Jahre hinweg zu ermöglichen, um dadurch eventuell ein paar Täter:innen identifizieren zu können2 ist dieser Aspekt zweifelsohne so zentral und wichtig, dass er in jeder Berichterstattung zu dem Thema erwähnt werden sollte. Die Information, dass die Behörden die Plattform schon vor drei Jahren hätte abschalten können, stellt insbesondere die riesigen und vermutlich massiv überschätzten Zahlen der Polizei in einen völlig neuen Kontext: Anstatt davon zu reden, dass eine Plattform mit zwei Millionen Nutzern abgeschaltet werden konnte, müsste man davon reden, dass eine Plattform abgeschaltet wurde, die dank der Untätigkeit der Polizei in drei Jahren zwei Millionen Nutzer ansammeln konnte.
Trotzdem gab es zu dem Punkt in der Berichterstattung ein geradezu ohrenbetäubendes Schweigen. Abgesehen vom Spiegel erwähnten lediglich der Tagesspiegel und die Oberösterreichischen Nachrichten, dass die Ermittler schon lange vor 2025 die Server hätten abstellen können. Das sind also drei Artikel von insgesamt etwa 150, die ich zu dem Thema gelesen habe. Während man also zigmal von einem „Internationalen Schlag gegen Kinderpornografie“ lesen kann, erfährt man lediglich in 2 % der von mir gelesenen Artikel, dass dieser Schlag auch drei Jahre früher hätte kommen können, wenn man denn nur gewollt hätte. Und jeder dieser drei Artikel erwähnt das auch eher beiläufig und übernimmt außerdem unkritisch die Narrative der Polizei, ohne die Frage zu stellen, ob der Erfolg am Ende das fragwürdige Vorgehen rechtfertigt.
Ein großer Erfolg?
Aber wie groß ist der Erfolg der Polizei eigentlich? Kann man vielleicht sagen, dass der Ermittlungserfolg derart überwältigend ist, dass der Zweck die Mittel heiligt und es am Ende womöglich doch gerechtfertigt erscheint, dass man das Licht bei Kidflix so lange nicht ausgeschaltet hat?
Eine genaue Einordnung ist gar nicht so einfach, da die von der Polizei genannten Zahlen auch hier eher unklar sind. Eine Pressemitteilung des LKA Niedersachsen berichtet etwa von knapp 1400 Tatverdächtigen, deren Identität ermittelt werden konnte. Europol nennt die gleiche Zahl, spricht aber nur von 79 Verhaftungen weltweit. Unklar ist, was mit den restlichen Tatverdächtigen ist. Ist die Polizei bereits gegen sie vorgegangen, ohne dass es dabei aber zu Verhaftungen gekommen ist? Oder sind die Verdächtigen bisher nur identifiziert worden, haben aber noch gar keinen Besuch von der Polizei bekommen? Dank der internationalen Berichterstattung sollten die übrigen Tatverdächtigen in dem Fall nun jedenfalls ausreichend Vorwarnung bekommen haben, um eventuelle Beweise zu vernichten, falls sie bislang noch keine Hausdurchsuchung bekommen haben.
Ganz egal, ob man den Erfolg der Ermittlungsbehörden mit 79 oder 1400 beziffert, gemessen an der Gesamtzahl der Nutzer:innen dürfte dies nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein. Zu wie vielen rechtskräftigen Verurteilungen es am Ende kommen wird, steht auch noch einmal auf einem anderen Blatt. Dabei lagen in dem Fall alle Vorteile auf der Seite der Ermittlungsbehörden: dadurch, dass ein Zugriff auf den Server erlangt wurde, konnten die Behörden wesentlich mehr Informationen über die Nutzer:innen von Kidflix sammeln, als sie es in anderen Fällen konnten, wo sie Plattformen nur von außen beobachten konnten. Da es sich außerdem um eine zumindest in Teilen kommerzielle Plattform handelte, stand der Polizei darüber hinaus die Rückverfolgung von Bezahlmethoden als Ermittlungsansatz zur Verfügung, was die Identifikation im Vergleich zu reinen Tauschplattformen ebenfalls deutlich vereinfacht. Trotzdem werden wohl die allermeisten Nutzer:innen der Plattform ungeschoren davonkommen. Auch die Betreiber konnten sich dem Zugriff der Polizei bisher entziehen. Den Gewinn, den sie dank der Untätigkeit der Ermittlungsbehörden in den letzten drei Jahren ungestört erwirtschaften konnten, haben sie dabei wohl mitgenommen.
Dass Polizei und Staatsanwaltschaft trotzdem zumindest nach außen hin mit dem Ergebnis zufriedengeben, ist erst einmal zu erwarten. Selbst für den Cyberkriminologen Thomas-Gabriel Rüdiger, der in einem Interview mit der NZZ zumindest anerkannte, dass man nur „einen winzigen Bruchteil der Täter“ erwischt habe, war die Aktion insgesamt dennoch „zweifellos ein Erfolg“. Aufgabe der Medien wäre es auch hier, die Außendarstellungen kritisch zu hinterfragen, Zahlen einzuordnen und nicht zuletzt auch die Ergebnisse in Verhältnis zu setzen mit den Maßnahmen, die notwendig waren, um zu diesem Ergebnis zu gelangen. Aber auch hier übernehmen die Medien durchweg ohne kritische Distanz die Narrative der Polizei, übertreffen diese teilweise noch und machen sich dadurch regelrecht zu einem Propagandawerkzeug der Ermittlungsbehörden.
So ist immer wieder von einem großen Erfolg oder einem „Riesenerfolg“ zu lesen, von dem „bisher größten Einsatz gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern in Europa“ oder gar den „größten koordinierten Aktionen der Strafverfolgungsbehörden weltweit“. Die gleichen Artikel, die derartige Superlative benutzen, übernehmen gleichzeitig meist die Zahl der zwei Millionen Nutzer, die Kidflix angeblich gehabt haben soll. Spätestens hier hätte auffallen müssen, dass irgendetwas nicht passt, denn die Identifikation von 1400 von insgesamt angeblich zwei Millionen Nutzern (also 0,08 %) bzw. die Festnahme von 79 Nutzern (0,004 %) als noch nie dagewesenen Erfolg gigantischen Ausmaßes zu feiern, während die Betreiber gleichzeitig mit ihrem Gewinn flüchten konnten, wäre fast schon unfreiwillig komisch, wenn es nicht so betrüblich wäre.
Dabei hätte natürlich auch schon die Abschaltung einer kriminellen Darknet-Plattform an und für sich ein Erfolg sein können, selbst wenn man nur wenige Nutzer:innen identifizieren kann, falls dadurch eine Plattform für die Verbreitung von Kinder- und Jugendpornografie aus dem Verkehr gezogen werden kann. Problem ist auch hier, dass dies viel zu spät passierte. Erst nach drei Jahren den Stecker der Plattform zu ziehen ist kein „Riesenerfolg“, sondern eine absolut überfällige Entscheidung.
Ich möchte das einmal mit folgendem Bild vergleichen. Man stelle sich vor, jemand eröffnet direkt vor der Tür eines Polizeipräsidiums einen öffentlich zugänglichen Drogenmarktplatz. Die Polizei wird schnell darauf aufmerksam, entscheidet sich aber, dem Treiben kein Einhalt zu gebieten, sondern die Situation lediglich zu beobachten. Ihr Ziel ist es, den ein oder anderen Konsumenten finden und verhaften zu können. Das gelingt ihnen aber nur bei jedem 1250. „Kunden“ dieses Marktplatzes. Nach drei Jahren entscheiden sich die Behörden doch noch, den Marktplatz hochzunehmen, doch die Verantwortlichen sind längst über alle Berge, haben ihren Gewinn mitgenommen der Polizei lediglich eine Postkarte mit einem netten Abschiedsgruß hinterlassen. Würden wir dies als Erfolg feiern? Würden wir so ein dilettantisches Vorgehen der Polizei überhaupt akzeptieren? Warum wird dann im Bereich Kinderpornografie akzeptiert, was bei anderen Delikten undenkbar wäre?
Doch selbst eigentlich seriöse und öffentlich-rechtliche Medien werfen keinen kritischen Blick auf diesen deklarierten „Erfolg“, ganz im Gegenteil. Der Bayerische Rundfunk etwa veröffentlichte eine regelrechte Lobeshymne auf die Polizei. In höchsten Tönen wird deren fachliche Kompetenz, die edle Motivation der Ermittler:innen und die gute Zusammenarbeit mit anderen Behörden gelobt. Spätestens hier wird jeder Schein einer journalistischen Distanz aufgegeben und es ist nicht mehr klar, ob der Artikel aus einer öffentlich-rechtlichen Nachrichtenredaktion oder der PR-Abteilung der Polizei stammt.
Medien als Sprachrohr für sicherheitspolitische Forderungen
Wenn doch mal ein kritisches Wort zu den Ermittlungsergebnissen geäußert wird, dann wird die Ursache nicht bei der zweifelsfrei tadellosen Arbeit der Ermittler:innen gesucht, sondern bei den deutschen Gesetzen und Grundrechten, die ihnen angeblich die Hände binden und Kriminelle davonkommen lassen.
Es ist mittlerweile Teil eines etablierten Rituals, dass Fälle wie Kidflix von meist konservativen Politiker:innen, Staatsanwälten und Vertreter:innen der Polizei genutzt werden, um sicherheitspolitische Forderungen zu stellen. Schon die erste Pressekonferenz zu dem Thema wurde von den bayerischen Ministern Georg Eisenreich und Joachim Herrmann politisch instrumentalisiert, um härtere Strafen für Betreiber von Plattformen wie Kidflix eine erneute Einsetzung der Vorratsdatenspeicherung zu fordern. Die Forderung nach einer Vorratsdatenspeicherung wurde kurz darauf unter anderem von NRW-Innenminister Herbert Reul aufgegriffen und unterstützt.
Beide Forderungen sind inhaltlich fragwürdig und hätten im Fall Kidflix wohl nichts geändert. Damit härtere Strafen für Plattformbetreiber überhaupt irgendeine Wirkung haben, müssen die Betreiber erst einmal identifiziert und gefangen genommen werden, damit sie überhaupt einer Strafe zugeführt werden können. Dies ist bei Kidflix wie erwähnt nicht gelungen, sodass eine Strafverschärfung hier überhaupt nichts gebracht hätte.
Noch fragwürdiger ist die Forderung nach Wiedereinsetzen der Vorratsdatenspeicherung. Die Hoffnung der Befürworter einer Vorratsdatenspeicherung ist es, durch verdachtsunabhängiges Speichern von Verbindungsdaten und insbesondere IP-Adressen über einen längeren Zeitraum Menschen, die im Internet Straftaten begehen leichter identifizieren zu können. Das kann aber überhaupt nur dann funktionieren, wenn Täter:innen mit der echten IP-Adresse ihres Internetanschlusses auf illegale Inhalte zugreifen. Im Darknet, wo auch Kidflix verortet war, wird diese IP-Adresse zur Anonymisierung aber mehrfach verschlüsselt. Dies macht es so gut wie unmöglich, die echte IP-Adresse zurückzuverfolgen, von der aus auf einen illegalen Inhalt zugegriffen wird. Ohne diese echte IP-Adresse zu kennen, macht die Vorratsdatenspeicherung aber überhaupt keinen Sinn. Kurz gesagt: schon aus rein technischen Gründen ist es unwahrscheinlich, dass die Vorratsdatenspeicherung dabei geholfen hätte, auch nur einen einzigen Kidflix-Nutzer mehr zu identifizieren.
Von all diesen Einschränkungen erfährt man in der Presseberichterstattung aber nichts. Die Forderung nach Einsetzen einer im Falle von Kidflix völlig unsinnigen Vorratsdatenspeicherung wurde unter anderem in der ZEIT, bei Deutschlandfunk, beim WDR, im RedaktionsNetzwerk Deutschland und in der Süddeutschen Zeitung reproduziert, ohne diese kritisch zu Hinterfragen. Auch hier haben sich die Medien also zu einem Sprachrohr der Sicherheitsbehörden machen lassen, ohne ihrer Aufgabe nachzukommen, im Sinne einer ausgewogenen Berichterstattung deren Aussagen und Forderungen zu hinterfragen und einzuordnen.
Das mediale Totalversagen bei der Berichterstattung um Kidflix
Insgesamt kann die Berichterstattung um Kidflix nur als katastrophal bezeichnet werden. Gekennzeichnet ist sie vor allem durch das Fehlen jeglicher Spur einer kritischen Einordnung und durch absolute Distanzlosigkeit zu Polizei und Staatsanwaltschaft. Einseitig wird deren Sicht und Interpretation der Ereignisse wiedergegeben, während gleichzeitig essenzielle Fakten unerwähnt bleiben, welche ein deutlich fragwürdigeres Licht auf die polizeilichen Ermittlungen werfen.
Dies ist angesichts des hetzerischen Tons, der gleichzeitig durchweg gegen Pädophilie angeschlagen wird, besonders ärgerlich. Während immer wieder fälschlicherweise von einem „riesigen Pädophilen-Netzwerk“ die Rede ist und Pädophile pauschal für die Existenz der Plattform verantwortlich gemacht werden, bleibt die Verantwortung der Polizei für das Fortbestehen und den Wachstum der Plattform fast komplett unerwähnt.
Bleibt die Frage, warum die Medien sich im Fall Kidflix so sehr geweigert haben, ihrer Aufgabe nachzukommen, sachlich zu informieren und kritisch zu hinterfragen. Vielleicht ist es einfach Faulheit, die dazu führt, dass Journalist:innen einfach gedankenlos abschreiben, was Polizei und Staatsanwaltschaft ihnen diktieren. Vielleicht ist es ein zu großes Urvertrauen in die Sicherheitsbehörden, das dazu führt, dass ihre Aussagen als objektive Wahrheit interpretiert und gar nicht mehr weiter hinterfragt werden. Vielleicht ist es aber auch schlicht angenehmer, die Welt in Gut und Böse zu unterteilen, mit dem bösen, gefährlichen Pädophilen auf der einen und der heldenhaften Polizei auf der anderen Seite, als sich mit der unbequemen Tatsache auseinanderzusetzen, dass bei Kidflix die Ermittlungsbehörden wohl deutlich mehr zu der fortgeführten Verbreitung von Kinder- und Jugendpornografie beigetragen haben, als die allermeisten Pädophilen.
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Wenn man schonmal dabei ist, kann man wohl auch gleich noch ordentlich aufrunden. ↩
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Man kann sich hier auch die Frage stellen, ob die Täter:innen überhaupt je Straftaten begangen hätten, wenn es das Angebot nicht gegeben hätte. Ähnlich wie bei Scheinkindfällen entstehen hier fundamentale rechtstaatliche Dilemmata, wenn es der Polizei erlaubt wird, Gelegenheiten für die Begehung von Straftaten durch Untätigkeit am Leben zu erhalten, oder gar erst selber zu erzeugen. ↩