2005 wurde in Berlin das Präventionsprojekt Dunkelfeld, besser bekannt unter dem Namen Kein Täter Werden (KTW), in Berlin gegründet. Letzten Montag feierte das Projekt nun sein 20-jähriges Bestehen mit einer Jubiläumsveranstaltung im Centrum der Anatomie der Charité, laut Veranstaltungsinfo in „einem der traditionsreichen Hörsäle der Berliner Anatomie“ (nicht erwähnt wurde, dass es sich vermutlich auch um einen der unbequemsten Hörsäle handelt – mein Beileid an alle Student:innen der Anatomie in Berlin). Eingeladen waren mehrere Personen, die auf die ein oder andere Weise in die Geschichte des Projekts involviert waren, und insgesamt etwa drei Stunden lang Reden und Vorträge hielten. Auch ich habe mich auf den Weg nach Berlin gemacht, um die Veranstaltung zusammen mit Max (seinen Bericht gibt es hier zu lesen) und Lu Erker zu besuchen, wobei wir vor Eingang des Hörsaalgebäudes noch einige weitere bekannte Gesichter aus der Szene ungeplant trafen. Abgesehen von uns füllten den Hörsaal etwa 100 weitere Besucher:innen, viele davon Mitarbeitende im Projekt Kein Täter Werden.
Im Folgenden schildere ich meine Eindrücke von der Veranstaltung und den präsentierten Vorträgen.
Programmpunkt 1: Begrüßung und Grußworte (Braun, Zypries, Gröhe)
Durch die Veranstaltung führte Jerome Braun, Geschäftsführer des Kinderschutzvereins Hänsel und Gretel e. V, der KTW seit seiner Anfangszeit unterstützt. Braun erzählte zunächst, wie er anfangs mit der Idee für das Präventionsprojekt in Berührung kam und gab dabei zu, erst gemischte Gefühle gehabt zu haben. Letzten Endes habe er sich aber für eine Unterstützung entschieden, weil er in dem Projekt die Chance sah, das Dunkelfeld bei sexuellem Kindesmissbrauch aufzuhellen. Über das psychische Wohlergehen der Klienten von KTW (auf geschlechtsneutrale Bezeichnung habe ich bewusst verzichtet), verlor er wiederum kein Wort. Aus realpolitischer Perspektive ergibt das natürlich Sinn: für Kinderschutz lässt sich Geld locker machen, dafür, dass es Pädophilen besser geht eher nicht.
Als erste Rednerin des Tages kam Brigitte Zypries zu Wort, die in ihrer Rolle als ehemalige Justizministerin wesentlich zu der Finanzierung von KTW beigetragen hat. Zypries lobte das Projekt mit den Worten, es habe einen „unverzichtbaren Beitrag zum Kinderschutz“ geleistet. Ob das wirklich stimmt, kann man aktuell eigentlich noch gar nicht sagen – hierzu wird noch eine umfassende Projektevaluation von Prof. Mühlig erwartet, der später selber näheres dazu erzählt. Weiterhin behauptete Frau Zypries, dass Deutschland als erstes Land eine EU-Richtlinie zum Kinderschutz umgesetzt habe, die auch die Einführung von Präventionsangeboten fordert. Das Problem dabei: die EU-Richtlinie sieht eigentlich vor, dass Präventionsangebote für alle Personen bereitgestellt werden, die befürchten, Sexualstraftaten gegen Kinder zu begehen. KTW kann dies schon alleine deshalb nicht leisten, weil das Projekt sich ausschließlich an pädophile Menschen richtet, und die meisten Täter:innen nicht pädophil sind. Leider wird dieses Detail auch während der Veranstaltung immer wieder unter den Tisch fallen gelassen, dabei kann es auch aus Sicht des Kinderschutzes eigentlich nicht gut sein, die Mehrheit der Täter:innen einfach auszublenden.
Nach Brigitte Zypries hielt auch der ehemalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe eine kurze Begrüßungsrede. Naiverweise hatte ich gehofft, dass wenigstens er als ehemaliger Gesundheitsminister nicht nur den strafrechtlichen Aspekt sieht, sondern Pädophilie, damit einhergehende Belastungen und den Mangel an Versorgungsangeboten als gesundheitliches Problem versteht. Stattdessen gab Gröhe offen zu, ähnlich wie Jerome Braun dem Projekt zunächst abgelehnt gewesen zu sein, da er befürchtete, der Fokus auf die Gesundheit Pädophiler würde zu sehr von Missbrauchsopfern ablenken. Erst nach und nach habe er verstanden, dass man für den Opferschutz auch „Täter verstehen“ müsse – auch hier offenbarte sich also eine Perspektive, die Pädophile nur als potenzielle oder tatsächliche Täter und alleinige Verursacher von Kindesmissbrauch sieht. Gröhe argumentierte schließlich für die fortgesetzte Finanzierung des Projekts, denn da die wirtschaftlichen Folgekosten von Kindesmissbrauch Milliarden betragen würden, seien die bisher ausgegebenen fünf Millionen Euro für KTW zur Verhinderung von Kindesmissbrauch entsprechend gut angelegtes Geld. Ähnlich wie Zypries ging Gröhe also einfach davon aus, dass KTW tatsächlich Taten verhindern und Geld sparen kann, obwohl es dafür noch keine belastbaren Beweise gibt.
Programmpunkt 2: Entstehungsgeschichte und Vision: 20 Jahre PPD (Beier)
Nach den einleitenden Worten der Ex-Minister (ein Begrüßungsvideo der Chefin der Volkswagen Stiftung konnte wegen technischer Probleme nicht gezeigt werden) kam Projektleiter Prof. Klaus Beier zu Wort, der in einem Vortrag die Entstehungsgeschichte von KTW nacherzählte. Spannend war dabei vor allem, von den ersten Anfängen zu erfahren: wie Beier in seinen ersten wissenschaftlichen Arbeiten feststellte, dass sich Kindesmissbrauchstäter in pädophile Täter und nicht-pädophile Täter (Ersatzhandlungstäter) unterscheiden lassen. Daraus entwickelte er die Idee, ein Therapieprojekt speziell für Pädophile zu entwickeln, da Ersatzhandlungstäter angeblich präventiv nicht so gut erreicht werden können. Dieses Argument erläuterte er nicht weiter und wirkt allerdings schon deshalb seltsam, weil sich bei KTW im Laufe der Jahre viele nicht-pädophile Ersatzhandlungstäter gemeldet haben (die dann wiederum weggeschickt wurden), und das, obwohl das Projekt eigentlich explizit nur pädophile Menschen adressiert.
Ganz grundsätzlich kam in Beiers Vortrag eine Haltung gegenüber Pädophilen zum Vorschein, die ich für sehr fragwürdig halte. An einer Stelle sprach Beier davon, Pädophile zu sein heiße, dass man jederzeit die Kraft haben müsse, Versuchungen zu widerstehen, da Kinder ja im Alltag überall existieren würden. Später projizierte er ein Venn-Diagramm an die Wand: links ein Kreis für Pädophile, rechts ein Kreis für Täter, in der Mitte eine kleine Schnittmenge, und der Bereich für Pädophile Nicht-Täter in großen roten Buchstaben mit den Worten „potenzielle Täter“ beschriftet. Demnach sind Pädophile also entweder Täter, oder potenzielle Täter. Und natürlich durfte auch eine Erwähnung seiner „pandemischen Perspektive“ nicht fehlen, die Pädophilie mit einem gefährlichen Virus gleich setzt (ausführlich kritisiert habe ich dies an anderer Stelle bereits). All dies zeigt, dass Beier Pädophile vor allem als Gefahr sieht, die nur mit größter Mühe zur „Verhaltensabstinenz“ gebracht werden können. Dies könnte nicht weiter weg sein von meiner Lebensrealität und der vieler anderer Pädophiler. Es gibt nur wenig, was mir leichter fällt im Leben, als kein Kind zu missbrauchen – ehrlich! - und ich bin es langsam wirklich leid mir immer wieder anhören zu müssen, dass es doch gewiss anders sein müsse, nur weil ich in der Lage bin Kinder auch körperlich attraktiv zu finden.
Immerhin stellte Beier in seiner Präsentation als Erster klar, dass Pädophilie nur bei einem Leidensdruck oder Fremdgefährdung einen Störungscharakter hat – bei Ex-Gesundheitsminister Gröhe war sie zuvor noch grundsätzlich eine „behandlungsbedürftige Störung“. Ebenso nannte er die Senkung des Leidensdrucks gleichwertig zur Reduzierung von Fremdgefährdungen als Therapieziel.
Die Sichtweise, dass Pädophile grundsätzlich gefährliche Individuen sind, führt dennoch leicht zu der Schlussfolgerung, dass präventive Therapien für alle Pädophile wichtig sein müssen. Beier verkündete hier, dass von 300.000 in Deutschland lebenden Pädophilen (eine Zahl, auf die man nur kommt, wenn man die Existenz pädophiler Frauen leugnet) KTW bereits 20.000 erreichen konnte. Ähnlich hohe Zahlen nannten zuvor auch Jerome Braun und Brigitte Zypries, bei Hermann Gröhe waren es aus irgendeinem Grund sogar 30.000. Erst später im Vortrag von Beiers Kollegin Dr. Anna Konrad wird deutlich, dass es sich dabei nur um Kontaktaufnahmen zum Projekt handelt. Den aktuellen Zahlen nach haben davon lediglich 2.600 Menschen überhaupt eine Therapie angefangen, den meisten wurde gar kein Therapieangebot gemacht – unter anderem deshalb, weil sich in der Eingangsdiagnostik herausstellte, dass die Interessenten gar nicht pädo- oder hebephil sind.
Es ist nicht die einzige Stelle, an der Beier sorglos mit Zahlen umgeht. Wie bereits erwähnt ist die Frage, ob KTW überhaupt erfolgreich ist, bislang noch weitestgehend ungeklärt. Einige projektinterne Auswertungen hat es im Laufe der Jahre allerdings durchaus gegeben. Beier erwähnte dazu eine eigene Pilotstudie aus dem Jahr 2015 und erzählte, dass dort 76 % der Kinderpornografie-Täter in einer Therapiegruppe rückfällig geworden seien, während in einer Kontrollgruppe, in der keiner eine Therapie bekommen hat, ganze 90 % einen Rückfall hatten. Daraus zog er den Schluss, dass die Therapie tatsächlich etwas zu bringen scheint, auch wenn die Zahlen immer noch höher als gewollt seien. Das Problem ist nur, dass er die Zahlen vertauscht hat: tatsächlich waren in seiner Pilotstudie in der Kontrollgruppe 76 % rückfällig, während von den Therapierten 90 % einen Rückfall gemeldet haben. Bemerkenswerterweise haben in jener Studie sogar nach der Therapie mehr Klienten Kinderpornografie konsumiert, als vor der Therapie.
Ich will Beier nicht unbedingt unterstellen, bewusst falsche Zahlen präsentiert zu haben, aber die Häufung der Fehler, die das Projekt besser dastehen lassen als es nach aktueller Datenlage ist, wirft zumindest Fragen auf. Immerhin war Beier ehrlich genug zuzugeben, dass er selber „Bauchschmerzen“ bei den hohen Rückfallzahlen habe. Ebenso ließ er durchscheinen, dass er mit den bisherigen Ergebnissen der Evaluation durch Prof. Mühlig auch nicht zufrieden sei: Diese seien „nur zum Teil frohe Botschaften“.
Programmpunkt 3: Therapeutische Arbeit im Wandel: Entwicklungen und aktuelle Praxis (Konrad)
Als Nächstes hielt Dr. Anna Konrad, die unter anderem Therapiegruppen in Berlin leitet, einen Vortrag, in dem sie detailliertere Einblicke in den konkreten Therapieablauf gab. Die Kernbotschaft ihres Vortrags war dabei, dass die Klienten von KTW vor allem eines sind: sehr unterschiedlich, und sie dementsprechend sehr unterschiedliche Behandlungsansätze benötigen. Um dieser Vielfalt gerecht zu werden, sind die Therapiegruppen im Laufe der Jahre immer weiter differenziert und auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten worden.
Konrad illustrierte diese Diversität exemplarisch mit fünf Fallbeispielen. Positiv überrascht hat mich dabei, dass es nicht bei allen Fallbeispielen um gefährliche Täter ging, die präventiv von (weiteren) Taten abgehalten werden müssen. Direkt das erste Fallbeispiel handelte von einem exklusiv pädophilen Nicht-Täter, für den es gar kein Problem darstellte, kein Täter zu werden, der aber Hilfe bei der Bearbeitung von internalisierter Stigmatisierung, Depression und Suizidalität brauchte. In diesen Fall bestehe die Therapie daher auch gar nicht aus Präventionsarbeit mit einem Fokus auf Risikomanagement und Verhaltenskontrolle, sondern aus Hilfestellungen beim Aufbau einer Perspektive für ein lebenswertes Leben. Bei den anderen vier Fallbeispielen ging es zwar dann wieder um Täter, die in der Therapie dabei unterstützt werden sollten, nicht rückfällig zu werden. Dennoch warf Konrad in ihren Vortrag ein dringend benötigtes Schlaglicht darauf, dass bei vielen Betroffenen nicht die Fremdgefährdung, sondern ein persönlicher Leidensdruck ein Thema ist, und diese Menschen eine psychologische Versorgung ebenfalls dringend benötigen und auch verdient haben.
Darüber hinaus erläuterte Konrad die zuvor schon im Vortrag von Prof. Beier eingeführte Differenzierung zwischen Pädophilie und pädophiler Störung. Dass in den neueren Versionen des DSM und ICD Pädophilie nicht mehr pauschal pathologisiert wird, bewertete sie positiv als „bahnbrechende Neuerung“. Auch blendete sie das von Beier genutzte Venn-Diagramm zur Differenzierung von Pädophilen und Tätern ein, verzichtet dabei aber dankenswerterweise darauf, die Menge der nicht straffällig gewordenen Pädophilen als „potenzielle Täter“ zu beschriften. Alles in allem war der Vortrag von Konrad so ziemlich der Einzige, bei dem ich das Gefühl hatte, dass Pädophilen mit einem Maß an grundlegendem Respekt begegnet wird und Pädophilen nicht pauschal unterstellt wird, krank oder gefährlich zu sein.
Programmpunkt 4: Erste Ergebnisse der Evaluation des Modellvorhabens nach § 65d SGB V (Mühlig)
Nach 20 Jahren könnte man denken, dass es inzwischen hinreichend Daten zu der Frage gibt, ob KTW überhaupt erfolgreich ist in dem, was das Projekt versucht zu erreichen. Abgesehen von internen Auswertungen einzelner Standorte, die bislang auch ein eher durchwachsenes Bild zeichnen, gibt es aber tatsächlich noch keine wirklich belastbaren Ergebnisse dazu. Als 2019 beschlossen wurde, KTW mit fünf Millionen Euro pro Jahr bis 2025 von den Krankenkassen zu finanzieren, war dies daher an die Bedingung geknüpft, dass parallel dazu eine Auswertung des Projekts durch eine externe Stelle durchgeführt wird. Die Finanzierung des Projekts wurde nun kurzfristig bis 2027 verlängert, die Ergebnisse der Evaluation sind dennoch weiterhin relevant für die Frage, ob KTW eine unbefristete Finanzierung erreichen kann. Den Forschungsauftrag dafür hat Prof. Mühlig von der TU Chemnitz bekommen, der auf der Veranstaltung einen Vortrag dazu hielt.
Zu meiner großen Enttäuschung war der Titel des Programmpunktes leider eine große Lüge, denn inhaltliche Zwischenergebnisse dieser Evaluation wurden kaum vorgestellt. Mühlig begründete dies damit, dass die Evaluation noch bis nächstes Jahr laufe (von 363 Klienten werden aktuell noch Daten erhoben), und eine Veröffentlichung von Zwischenergebnissen die laufende Datenaufnahme beeinflussen könne. Stattdessen ging es vor allem darum, wie genau die Auswertung des Projekts abläuft.
Schnell wurde dabei deutlich, wie komplex so eine Auswertung ist. Mehr als Tausend Klienten haben sich bereit erklärt, zu verschiedenen Zeitpunkten (zu Therapiebeginn, während und nach der Therapie) Evaluationsbögen auszufüllen, die jedes Mal Dutzende Seiten umfassen. Und auch die Therapeut:innen werden in die Auswertung einbezogen und müssen entsprechend Fragebögen ausfüllen. Insgesamt hat Mühlig und sein Team auf diese Art 25 Millionen Datenpunkte gesammelt – laut Mühlig selber würde es mehrere Jahre dauern, diese Datenmenge vollständig zu erschließen und auszuwerten.
Mühlig beschrieb vor allem, nach welchen Kriterien das Projekt überhaupt evaluiert wird. Untersucht werden demnach drei Qualitätsmerkmale:
- Die strukturelle Qualität, zu der Aspekte wie Erreichbarkeit, räumliche Ausstattung sowie die Einhaltung von Sicherheits- und Datenschutzstandards gehören.
- Die Prozessqualität, zu der die therapeutische Besetzung und die Strukturierung des Behandlungsangebots als solches zählen.
- Die Ergebnisqualität, sprich, ob die Therapie in dem Projekt überhaupt etwas bringt.
Die Ergebnisqualität ist dabei besonders interessant, denn selbst das am besten ausgestattete Therapieprojekt mit den kompetentesten Therapeut:innen hat wohl kaum eine Existenzberechtigung, sollten die Therapien am Ende wirkungslos oder gar schädlich sein. Als Erfolgskriterium geht es laut Mühlig dabei vor allem um die Frage, wie gut die Therapie Rückfälle oder Ersttaten reduzieren kann, was bei dem Namen „Kein Täter Werden“ zunächst auch wenig überraschend ist. Nicht erwähnt wurde hingegen die Frage, wie sich die Therapie auf das psychische Wohlbefinden der Klienten auswirkt. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass der Aspekt in der Auswertung am Ende gar keine Rolle spielt, aber Mühlig schien dies mindestens für nicht wichtig genug zu halten, um diesen Aspekt in seinem Vortrag zu erwähnen. Dabei sollte dies für ein therapeutisches Angebot eine zentrale Metrik sein. Zynisch gesagt: Eine Therapie kann auch dann Taten verhindern, wenn sie alle Klienten in den Suizid treibt, eine Evaluation der Auswirkung auf das Wohlbefinden ist also gerade auch zur ethischen Bewertung des Projekts unerlässlich.
Ein paar erste Ergebnisse beschrieb Mühlig am Ende dann doch. So seien die Quoten der Interessenten, die am Ende tatsächlich auch eine Therapie anfangen „ziemlich gut“, und die Abbruchquote mit 23 % „überraschend wenig“. Die meisten Klienten, die eine Therapie starten, sind bereits zum Täter geworden, bringen aber gleichzeitig eine hohe Motivation für die Therapie mit und gaben sehr oft an, ihr Verhalten ändern zu wollen. Klienten haben außerdem ein hohes Bedürfnis nach Anonymität, handeln aber gleichzeitig oft nicht danach und outen sich zum Beispiel über Nutzung ihrer realen E-Mail-Adresse zur Kontaktaufnahme. All das sind eher banale Erkenntnisse, auf die man teils schon aus den von KTW selbst veröffentlichten Zahlen und Studien kommen konnte, auf die wirklich interessanten Ergebnisse müssen wir wohl auf die Publikation der Auswertung voraussichtlich im nächsten Jahr warten.
Programmpunkt 5: Zukunftsperspektiven: Die nächsten 20 Jahre (Gieseler, Jahnke, Mühlig, Krüger, von Heyden)
Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Paneldiskussion mit KTW-Mitarbeiter Hannes Gieseler, Prof. Tillmann Krüger von der Medizinischen Hochschule Hannover, Stigma-Forscherin Prof. Sara Jahnke, und KTW-Pressesprecher Maximilian von Heyden als Moderator. Den Anfang machte aber überraschenderweise ein pädophiler Klient des Projekts, der zunächst auch persönlich erscheinen sollte, aber aus Sicherheitsgründen davon abgehalten wurde (tatsächlich kam es zu Beginn der Veranstaltungen zu Ausschreitungen, die eine Intervention des Sicherheitsdienstes erforderten, wovon ich allerdings nichts mitbekommen habe). Stattdessen las von Heyden also lediglich vorab formulierte Aussagen des Klienten vor. Der Klient (der namenlos blieb) appellierte, dass jeder, der Hilfe sucht auch Hilfe verdient hat, dass man gerade jungen Menschen ohne Vorverurteilung zuhören solle, und: dass die Gesellschaft jedem die Möglichkeit geben solle, jederzeit ein guter Mensch zu werden. Auf diese Weise bekam die bis dahin fehlende Perspektive Betroffener zumindest doch noch einen kleinen Raum in der Veranstaltung.
Prof. Sara Jahnke wiederum sprach sich für eine Verbesserung und Professionalisierung des Therapieangebots aus, und für mehr Bildung zur Pädophilie auch bei angehenden Therapeut:innen. Als Stigma-Expertin äußerte sie außerdem ihre Sorge über die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung und Radikalisierung, die nicht nur beim Thema Pädophilie, sondern gesamtgesellschaftlich ein problematischer Trend sei. Zudem formulierte sie einige Tipps, wie sich das Stigma am besten bekämpfen lasse: So sei „moralische Entrüstung“ kontraproduktiv, da dies extremere Gegenreaktionen hervorrufe, das Stigma also noch verstärke. Wirkungsvoller sei es zu zeigen, dass Pädophile auch nur Menschen und die verbreiteten Stereotype unrealistisch sind. Ebenso sei auch das Ausweichen auf alternative Begriffe (wie zum Beispiel MAP) eher nicht hilfreich, da dies dazu führe, dass Menschen sich manipuliert fühlen und umso stärker bei ihren Vorurteilen bleiben. Damit scheint sie allerdings ein Stück weit ihrer eigenen Forschung zu widersprechen, nach der die Bezeichnung „Pädophilie“ stärkere ablehnende Reaktionen hervorruft als alternative Umschreibungen.
Hannes Gieseler wiederum sprach sich dafür aus, das Netzwerk KTW nicht nur fortzuführen, sondern auch auszubauen, um die lokale Versorgung vor Ort zu verbessern und mehr forschen zu können. Hürden für Interessenten, sich zu melden, sollen durch Verbesserung der Anonymität gesenkt werden. Ähnlich argumentierte auch Prof. Tillmann Krüger, der noch einmal für eine gesicherte und unbefristete finanzielle Unterstützung des Projekts plädierte. Prof. Mühlig wies schließlich auf die Zunahme von Kinderpornografie hin, die vor allem durch soziale Medien und KI verursacht werde, und stellte die Frage, wie man das „Dunkel-Dunkelfeld“ erreichen kann, also diejenigen im Dunkelfeld, die sich bisher gar nicht an Therapieangebote wie KTW gewandt haben.
Abschließende Gedanken
Immer wiederkehrendes Thema des nachmittags war die sogenannte künstliche Intelligenz. Diese wurde, wenn es um künstlich generierte Kinderpornografie ging, einseitig verurteilt und als zu bekämpfende Herausforderung bewertet, Prof. Beier sprach zum Beispiel von einem „auf uns zukommenden Sturm“. Lediglich Prof. Mühlig gab vorsichtig zu bedenken, man könne KI-generierte Kinderpornografie ja auch als mögliches Ventil betrachten, bei dem kein Kind zu Schaden komme, nur um das Argument direkt darauf gleich selber zu entwerten: So sei es nicht gut, wenn Betroffene dadurch durchgehend „getriggert“ werden. Ein dringend benötigter Paradigmenwechsel war also nicht zu erkennen, stattdessen herrschte die Meinung vor, dass Möglichkeiten zum Ausleben pädophiler Sexualität auch dann zu verurteilen seien, wenn sie niemanden schaden. Darüber, wie Pädophile stattdessen mit ihren sexuellen (und emotionalen) Bedürfnissen auf gesunde Weise umgehen können wurde auf der ganzen Veranstaltung kein Wort verloren.
An anderer Stelle wurden die Fähigkeiten von sogenannter künstlicher Intelligenz wiederum überhöht dargestellt und systemische Risiken komplett ausgeblendet. Prof. Beier warb etwa erneut für seine Idee, Smartphone-Hersteller zum Einbau einer KI zu verpflichten, die strafbare Inhalte automatisch erkennt und unterdrückt. Dies ist nicht nur schon rein technisch nicht realisierbar, worauf erst wenige Wochen vor der Veranstaltung hunderte Wissenschaftler:innen in einer Gemeinsamen Erklärung zur Chatkontrolle erneut hinwiesen, sondern eröffnet auch Möglichkeiten für staatliche Zensur in einer in Europa bisher nicht dagewesenen Größenordnung.
Etwas enttäuschend war, dass die Perspektive Pädophiler und der Klienten von KTW in der Veranstaltung kaum Beachtung fand. Jerome Braun betonte zu Beginn noch, Grundphilosophie auch bei der Einrichtung des Projekts sei es, „mit, und nicht nur über Menschen zu sprechen“, am Ende ist davon aber nicht viel übrig geblieben – die Veranstaltung war wie so oft ein geschlossener Kreis selbsternannter und (vermutlich) nicht-pädophiler Expert:innen, die unter sich darüber sprachen, wie Pädophile seien und was Pädophile bräuchten. Raum für Fragen und Anmerkungen gab es aus Zeitgründen während der Veranstaltung auch nicht. Die sollten stattdessen online eingereicht werden können, ein angekündigter QR-Code dafür wurde allerdings nie gezeigt. Zwar gab es im Anschluss der Veranstaltung noch einen Empfang, wo es theoretisch auch die Möglichkeit gab, mit den Vortragenden ins Gespräch zu kommen, aus Zeitgründen konnte ich daran aber leider nicht mehr teilnehmen.
In dem Zusammenhang ist aber immerhin anzuerkennen, dass laut Maximilian von Heyden zwischenzeitlich durchaus geplant war, einen pädophilen Klienten in die Paneldiskussion einzubinden, ihm aber letztendlich aus (wohl nicht unbegründeten) Sicherheitsbedenken davon abgeraten wurde. Derzeit fürchten viele Menschen angesichts des aktuellen gesellschaftlichen Rechtsrucks und der Erosion demokratischer Werte (zu Recht), bald nicht mehr frei ihre Meinung äußern zu können, ohne Gewalt und Repression fürchten zu müssen. Dass selbst auf einer Fachveranstaltung ein Pädophiler nicht frei und ohne Angst sprechen kann, zeigt, dass diese Ängste für Pädophile schon lange gelebte Realität sind. Dies ist besonders problematisch, da ja auch Prof. Sara Jahnke noch einmal betonte, dass das Zeigen pädophiler Lebensgeschichten jenseits üblicher Stereotype eines der wirksamsten Mittel zur Bekämpfung des Stigmas ist. Wie soll das je gelingen, wenn es selbst auf einer Fachveranstaltung in relativ kleinen Kreis nicht möglich ist, dass ein Pädophiler offen an einer Debatte teilnimmt?
Ein Aspekt zeigte die Veranstaltung aus meiner Sicht aber deutlich: Es fehlt dem Projekt sehr die Perspektive pädophiler Menschen, insbesondere derjenigen, die sich nicht in Therapie bei KTW befinden und diese auch nicht benötigen. Zwar könnte man einwenden, dass diese Gruppe für das Projekt eigentlich irrelevant ist (warum sollte KTW sich mit Menschen beschäftigen, für die das Programm uninteressant ist?), allerdings hat die Kommunikation des Projekts durchaus auch Auswirkungen auf Pädophile, die mit KTW nichts am Hut haben. Schon der Name Kein Täter Werden legt nahe, dass jede:r Pädophile potenziell gefährlich ist, und Erkenntnisse aus der klinischen Arbeit mit KTW-Klienten werden allzu oft als allgemeingültige Wahrheiten interpretiert, die für alle Pädophile zutreffen sollen. Überraschenderweise sprach Maximilian von Heyden kurz vor Schluss diesen bis dahin zu kurz gekommenen Aspekt selber auch an: so halte er es für „bedauerlich“, dass das Thema Pädophilie immer unter dem Framing einer potenziellen Täterschaft stattfindet, da dies eben nicht auf alle zutreffe und dieses Framing alternative Perspektiven auf das Thema ausblende. Auch Prof. Sara Jahnke redete von einer unter Therapeut:innen und Wissenschaftler:innen verbreiteten „Angst, den richtigen Ton zu treffen“.
Dabei gibt es nur eine Lösung für dieses Dilemma, und die ist es, in den Dialog mit Pädophilen zu gehen, und zwar gerade auch mit denjenigen, die sich von KTW nicht angesprochen fühlen. Den richtigen Ton wird man nicht in einer wissenschaftlichen Debatte finden, sondern nur dann, wenn auch die Perspektiven pädophiler Menschen gleichberechtigt angehört und einbezogen werden, die von dem Framing im alltäglichen Leben direkt betroffen sind.