Diese Woche hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in einem lange erwarteten Urteil die (bis dato lediglich ausgesetzte) deutsche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung (VDS) als rechtswidrig erklärt. Damit ist zum wiederholten Male bestätigt worden, dass eine anlasslose und umfassende Speicherung von Kommunikationsdaten mit geltendem EU-Recht nicht vereinbar und überhaupt nur maximal in eng begrenzten Fällen möglich ist.

Ebenfalls diese Woche hat ein Vorschlag der AG Queer der SPD Tempelhof-Schöneberg für etwas Aufsehen auf den sozialen Median gesorgt. Die AG schlug in einem Antrag mit dem Titel „Trans* liberation now: Für ein echtes Selbstbestimmungsgesetz!“ unter anderem vor, das für Mitte 2023 geplante Selbstbestimmungsgesetz für Transsexuelle zu erweitern, sodass eine freie Geschlechtswahl schon ab 7 Jahren möglich wird

Was haben diese beiden Ereignisse gemeinsam? Inhaltlich, rein gar nichts. Sie stehen aber exemplarisch für ein Muster, das sich vor allem in politischen Diskussionen immer wieder finden lässt: Die Instrumentalisierung von Pädophilie als Scheinargument zum Erreichen eigener Ziele.

Vorratsdatenspeicherung gegen „pädophile Täter“

Die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung wird von Befürwortern gerne damit begründet, dass andernfalls eine Verfolgung von Kindesmissbrauchstäter:innen im Internet nicht möglich sei. Dabei wird häufig Kindesmissbrauch und Pädophilie zusammengeworfen. Erst vor wenigen Wochen warb Innenministerin Nancy Faeser noch in der Zeit für die Einführung einer neuen Vorratsdatenspeicherung und begründete die Notwendigkeit damit, dass andernfalls dem Staat „viele pädophile Täter durch die Lappen“ gehen würden. 

Auch nach dem EuGH-Urteil ließen sich viele Befürworter nicht von ihrem Kurs abbringen. Das bayerische Innenministerium fordert etwa eine Wiederbelebung der VDS und übernimmt Faesers Formulierung, dass andernfalls viele „pädophile Täter“ straffrei davonkommen würden. Die stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Andrea Lindholz wiederum befürchtet, dass ohne VDS „Pädophilenringe“ nicht mehr aufgespürt werden können.

Schlagzeile der ZEIT vom 07.09.
Die Formulierung „pädophile Täter“ wirft einige Fragen auf, wenn man sie sich einmal unter die Lupe nimmt. Warum soll nur gegen Täter:innen vorgegangen werden, die pädophil sind? Was ist mit nicht-pädophilen Täter:innen, die im Bereich Kindesmissbrauch ja nachweislich die Mehrheit bilden? Sollen pädophile und nicht-pädophile für die gleichen Straftaten anders behandelt werden? Wie ist das mit dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz vereinbar?

Fragen, die sich eigentlich sofort stellen, wenn man die Formulierung wörtlich nimmt. Wahrscheinlicher ist, dass sich da niemand so groß Gedanken drum gemacht hat und einfach diese Worte gewählt wurden, weil sie sich „gut“ anhören und bei dem Großteil der Bevölkerung, die Pädophilie eh mit Missbrauch gleichstellt, direkt Anklang findet. Man weiß ja, was gemeint ist, nicht?

Niemand möchte auf der Seite von „Tätern“ stehen, und erst recht nicht von „pädophilen Tätern“. Viele Menschen werden dementsprechend instinktiv derjenigen Maßnahme zustimmen, die sich scheinbar gegen diese Gruppe stellt. Und genau dieser Instinkt kann und wird von politischen Akteuren ausgenutzt.

Achtung: „Pädophilie-Versteher“

Kommen wir zum zweiten Beispiel. Um eine Verbindung des Antrags der AG Queer mit Pädophilie zu konstruieren, muss man sich schon ein wenig anstrengen. Einige findige Nutzer auf Twitter haben diese Anstrengung unternommen, innerhalb von Threads, die währenddessen von Transfeindlichkeit geradezu überschwemmt wurden.

Transfeindlichkeit auf Twitter als Reaktion auf den Vorschlag der Arbeitsgruppe
Dreh- und Angelpunkt der Verbindung: Rüdiger Lautmann, der als Schriftführer der AG Queer gelistet ist. Lautmann hat in den 90ern Studien zum Thema Pädophilie durchgeführt, und daraus ein Buch mit dem Titel „Die Lust am Kind“ gemacht. Die BILD, welche aus den Tweets einen eigenen Empörungs-Artikel gezimmert hat, kritisiert an seiner Forschung vor allem: dass er unterscheide zwischen Missbrauchstäter:innen und „echten Pädophilen“, die nicht unbedingt sexuellen Kontakt mit Kindern wünschen.

Die BILD echauffiert sich hier also darüber, dass Lautmann schon vor fast 30 Jahren etwas herausgefunden hat, was sich heute als unumstößlicher Fakt erwiesen hat: dass nicht jeder pädophile Mensch Kinder missbraucht, und nicht jede:r Täter:in pädophil ist. Für das Nachrichtenportal von t-online, das die Geschichte aufgegriffen hat, macht diese (aus heutiger Sicht) banale Erkenntnis Lautmann zu einem „Pädophilie-Versteher“. 

Für die beiläufigen Menschenfeinde der Boulevard-Medien und der empörten Massen ist der Versuch, eine Menschengruppe zu verstehen, bevor man sie als Aussätzige behandelt und verabscheut, ein Kapitalverbrechen. Klar ist für sie: ein „Pädophilie-Versteher“, der kann nicht klar im Kopf sein, und was so jemand gut findet, sollte als höchst suspekt eingestuft werden. Die Botschaft dahinter – eine unterschwellige Drohung: Setze dich nicht zu sehr damit auseinander, du willst doch nicht auch als Pädophilie-Verharmloser gelten, nicht wahr

Schlussfolgerung

Und genau wegen solcher Diskussionsstrategien ist das Einbringen von Pädophilie in Debatten so mächtig. Die Stigmatisierung von Pädophilie ist derart stark, dass jedes Thema, welches erfolgreich mit Pädophilie auch noch so schwach assoziiert werden kann, das gleiche Stigma mit sich trägt. Schon alleine die Anschuldigung, dass man aufseiten eines Pädophilen stehen könnte, trägt ein derartiges soziales Stigma mit sich, dass sich viele gar nicht mehr trauen, sich überhaupt differenziert und tiefergehend mit manchen Themen auseinanderzusetzen. Auf diese Art können Debatten abgewürgt und entschieden werden, ohne dass die zugrunde liegenden Argumente je ernsthaft betrachtet oder argumentiert werden – nichts anderes ist im Falle des Vorschlags der Berliner Arbeitsgruppe passiert. 

Gleichzeitig ist es für diejenigen, welche Pädophilie als Waffe in politische Diskurse tragen, sehr angenehm, dass es keine ernst zu nehmende Lobby für pädophile Männer und Frauen gibt. Als Konsequenz heißt das, man kann im Prinzip alles über Pädophile sagen und tausende unschuldige Menschen als Straftäter:innen betiteln, ohne dass ein ernsthafter Widerstand zu erwarten wäre. Welche andere gesellschaftliche Minderheit kann man in Deutschland noch medienwirksam pauschal als Kriminelle darstellen, ohne mit Gegenwehr rechnen zu müssen? Und wen kümmert es eigentlich, wenn sich ein anonymer pädophiler Blogger im Internet darüber aufregt, dass die Innenministerin von „pädophilen Tätern“ redet? Vielleicht 0,01 ‰ der Zeit-Leserschaft, wenn wir Glück haben? Und genau deswegen lesen wir solche vorurteilsvollen Formulierungen auch immer und immer wieder.

Als Tipp kann ich zum Schluss nur einen Rat geben. Wann immer in politischen Debatten das Wort „Pädophilie“ fällt: Ohren auf und Hirn einschalten! Hinterfragt: Was sagt die Person eigentlich wirklich? Versucht sie nur davon abzulenken, dass sie selber keine starken Argumente für ihre Position hat? Wird versucht, andere Menschen zu diskreditieren, um sich mit deren Standpunkte und Argumente nicht auseinandersetzen zu müssen? Handelt es sich bei den Aussagen des Gegenübers vielleicht um ein Ad Hominem, oder gar um einen genetischen Fehlschluss?

Kurzum: macht euch nicht zur Marionette der Nutznießer des Stigmas um Pädophilie, sondern bleibt kritisch und hinterfragt!