Samstagnachmittag in der Lützowstraße in Berlin. Wir stehen unter Neonbuchstaben, die in leuchtendem Pink „Schwules Museum“ buchstabieren. Ein Schild steht vor uns auf dem Bürgersteig und bewirbt eine Ausstellung über sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen von Emanzipation. Laut Beschreibung wird es in der Ausstellung um Akteure gehen, die sich teils selbst als pädophil identifiziert haben und zusammen mit der Schwulenbewegung für die Entkriminalisierung sexueller Kontakte zwischen Kindern und Jugendlichen eingetreten sind. Eine interessante Gelegenheit, etwas über die Irrwege der Vergangenheit zu erfahren – und eventuell daraus zu lernen.

Diese Ausstellung ist der Grund dafür, dass wir uns hier eingefunden haben.

Die Entstehungsgeschichte der Ausstellung ist bereits ein interessantes Kapitel für sich, und wird uns wenig später von einem Mitarbeiter des Schwulen Museums (SMU) im Eingangsbereich erzählt. Zu dem Museum gehört nämlich ein weitläufiges Archiv an Schriftstücken, von denen viele inzwischen verstorbenen Homosexuellen gehörten und nach deren Tod von Bekannten und Freunden dem Museum gespendet wurden. In viele dieser Kartons hat (teils bis heute) nie jemand hineingeschaut. Und als schließlich jemand angefangen hat hineinzuschauen, wurden unter anderem strafbare Kinderpornografie und Erzählungen von illegalen sexuellen Kontakten zu Minderjährigen gefunden.

Peter Rehberg, Archivleiter des Museums, sprach daher schon 2019 in einem Interview davon, dass das SMU ein Täterarchiv sei. Einige dieser Funde wurden sogar der Polizei übergeben und zur Anzeige gebracht. Als Reaktion öffnete das Museum daraufhin sein Archiv für ein Forscherteam der Aufarbeitungskommission, ging offen damit in der Presse um und entwickelte schließlich eben jene Ausstellung, die wir nun besuchen können. Ob ihnen ein verantwortungsvoller Umgang mit ihrem problematischen historischen Erbe gelungen ist, werden wir gleich sehen können.

Der Weg in die Ausstellung

Zunächst einmal gehen wir einen kleinen Gang entlang, der zur eigentlichen Ausstellung führt. Eine am Anfang angebrachte Inhaltswarnung kündigt „verstörende Inhalte“ an. Für „Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen und ein Kinder schädigendes Verhalten vermeiden wollen“, ist außerdem die Webadresse von Kein Täter Werden angegeben. Daneben sind mehrere rote Infoblätter an eine Wand geklebt, auf denen Definitionen verschiedener Begriffe abgedruckt sind.

Interessant sind für uns natürlich vor allem die Definitionen der Begriffe, die mit Pädophilie zu tun haben. Ist den Machern der Ausstellung eine klare Abgrenzung zwischen Pädophilie, Aktivismus zur Abschaffung des Schutzalters und sexualisierter Gewalt gegen Kinder gelungen?

Na ja …

Definitionen der Begriffe Pädophilie, Pädosexualität und Pädokriminalität
Die Definitionen sind weitestgehend von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs übernommen, und haben leider einige Probleme. Dass Pädophilie „medizinisch diagnostizierbar“ sei, kann man vielleicht noch verzeihen. Zwar ist Pädophilie im ICD-11 keine Krankheit mehr, allerdings gilt in Deutschland noch das alte ICD-10, wo dies tatsächlich noch der Fall ist.

Problematischer ist der Gedanke, dass man statt von Pädophilie von Pädosexualität reden solle, da Pädophilie eine „Verharmlosung“ sei. Dies impliziert, dass Pädophile nicht fähig sind, Kinder ehrlich zu lieben. Außerdem wird der Begriff von anderen Stellen (darunter auch von der Charité) in Abgrenzung zu Pädophilie als Begriff für sexuellen Kindesmissbrauch verwendet. Den Begriff Pädosexualität als angeblich nicht-verharmlosende Alternative für den Begriff Pädophilie zu benutzen, birgt damit die Gefahr, die stigmatisierende Gleichstellung von Pädophilie mit Kindesmissbrauch weiterzutragen. Es findet sich in den Definitionen außerdem keine Differenzierung zwischen Pädophilen und Menschen, die für die Abschaffung der Schutzgrenze sind, was den Eindruck erweckt, als würden alle Pädophile die Haltungen unterstützen, die in der Ausstellung angeprangert werden.

Die ideologische Haltung, dass sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen nicht notwendigerweise schädlich sind oder legalisiert werden sollten, wird im modernen Sprachgebrauch auch als „Pro-C“ bezeichnet. Pro-C ist die Kurzform für Pro-Contact, womit gemeint ist, dass Vertreter:innen eine grundsätzlich befürwortende Haltung gegenüber solchen sexuellen Kontakten haben. Die Haltung, dass sexuelle Kontakte zu Kindern immer falsch ist, wird analog auch als Anti-C bezeichnet.

Auch schwierig ist der Begriff der „Pädokriminalität“, der auf dem nächsten Infoblatt definiert ist. Dieser erweckt den Eindruck, dass sexuelle Straftaten gegen Kinder immer mit Pädophilie zu tun haben, während in Wirklichkeit die meisten Sexualstraftaten gegen Kinder nicht von Pädophilen begangen werden. Immerhin wird dies im Fließtext selber klargestellt.

Pädophil zu sein, sagt nichts über die Handlungen oder Ideologie einer Person aus. Zwischen den Konzepten Pädophilie, Pro-C und Kindesmissbrauch gibt es also zwar Überschneidungen, es handelt sich aber nicht um deckungsgleiche Konzepte. Als Venn-Diagramm ausgedrückt:

Nicht jede:r Pädophile ist Täter:in, oder Pro-C (und umgekehrt)
Diese wichtigen Differenzierungen werden in dieser Deutlichkeit in der Ausstellung oft leider nicht deutlich gemacht.

Als Nächstes sehen wir eine große Tafel, welche die Motivation hinter der Ausstellung erklärt. Dort steht unter anderem, dass die homosexuelle Szene von Pro-C – Aktivisten getäuscht wurde, bzw. für deren Rhetorik „anfällig“ gewesen sei. Diese Darstellung ist bemerkenswert. Eine Täuschung impliziert, dass diese Aktivisten nicht ehrlich mit ihren Anliegen gewesen waren, und unter dem Deckmantel falscher Behauptungen die homosexuelle Bewegung zur Durchsetzung ihrer eigenen verborgenen Ziele instrumentalisiert haben. Diese Darstellung spielt auch auf das Stereotyp des Pädophilen als „gerissenen und hinterhältigen Manipulator“ an. In der Realität waren die Aktivisten, wie wir später sehen werden, sehr offen mit ihren Forderungen und auch mit ihren teils begangenen Missbrauchstaten, was das Narrativ einer Szene, die getäuscht und manipuliert durchaus fragwürdig erscheinen lässt.

Einführungstext der Ausstellung. Rechts: Version in leichter Sprache.

Ganymed und der pädagogische Eros

Wir kommen nun in den ersten von zwei Räumen, in denen die Ausstellung aufgebaut ist. Dieser erste Raum geht weit in die Vergangenheit zurück und beschäftigt sich überwiegend mit der Vorkriegszeit. Auf einem großen Tisch in der Mitte des Raums ausgestellt finden wir Ausschnitte aus alten Magazinen. Diese dokumentieren die Romantisierung des unerfahrenen „Jünglings“ als Schönheitsideal in der frühen schwulen Szene. So sehen wir einige Gedichte, die in Der Eigene, einer der weltweit ersten Schwulenzeitschriften, veröffentlicht wurden und meist von der Bewunderung männlicher Jugendlicher durch erwachsene Männer handeln.

Thematisiert wird hier außerdem die Päderastie im antiken Griechenland, die bis heute als eine ideologische Grundlage von Pro-C – Aktivisten benutzt wird, um für die Straffreiheit sexueller Beziehungen zu Minderjährigen zu argumentieren. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dieses antike Modell, bei dem Jugendliche „Knaben“ gegen den Austausch sexueller Gefälligkeiten eine Mentorbeziehung mit erwachsenen Männern eingingen, die Vorlage für die Idee des pädagogischen Eros, die später unter anderem im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen in der Odenwaldschule als Rechtfertigung für sexuellen Missbrauch gedient hat. Um die Jahrhundertwende fand dieses Modell Eingang in die Anfänge der Jugendbewegung. So verfasste Hans Blüher, der Chronist der Wandervogelbewegung, deren Ziel es war Jugendliche aus den industrialisierten Städten heraus in die Natur zu bringen, eine Schrift mit dem Titel „Die Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen“.

Die bildliche Manifestierung dieser Idee findet sich im griechischen Ganymed-Mythos, der von weiten Teilen der frühen Schwulenbewegung romantisiert wurde. Ganymed war dem Mythos der Geschichte nach ein Hirtenknabe, der dem Gott Zeus ins Auge gefallen ist und von ihm auf den Olymp entführt wurde, um dort als Spielknabe für die Götter zu dienen (Ganymed sollte damit Zeus’ Tochter Hebe ablösen, die den Job bis dahin gemacht hat. Von der Figur der Hebe ist wiederum stammt wiederum der Begriff der Hebephilie). Wir finden diverse Ganymed-Darstellungen auf dem Tisch ausgelegt, welche die problematische Fixierung Homosexueller mit einer romantisierten „Knabenliebe“ darstellen sollen.

Jupiter küsst Ganymed (nach Wilhelm Böttner). Quelle: Wikimedia.
Daneben sind Covern diverser, teils mehr als hundert Jahre alter Magazine, ausgelegt, die nackte junge Männer und Jugendliche zeigen.  Relevant ist, dass es hier tatsächlich ausschließlich um Jugendliche geht – nicht um Kinder. Bei der schwulen „Knabenliebe“, um die sich die griechische Päderastie, der pädagogische Eros in der frühen Jugendbewegung oder auch die romantischen Gedichte in den alten Zeitschriften drehen, geht es vor allem um (pubertierende) Jungen im Alter von 12 bis 17 Jahre. Für Blüher selber, der mit der Erotisierung pädagogischer Beziehungen zu Jugendlichen kein Problem zu haben schien, war bei Kindern anscheinend eine Grenze erreicht – so schrieb er später: „Es gehörte bei uns einfach zum guten Ton, Knaben vor der Reife nicht zu berühren.“ Dies erfahren wir aber nicht in der Ausstellung selber, sondern durch eigene aufwendige Recherche (sprich: Lesen seines Wikipedia-Artikels). In der weiteren Ausstellung scheint die eigene Definition des Begriffs Pädosexualität als „sexuelle Fixierung auf Kinder“ aus dem Vorraum völlig vergessen, auch wenn es um Jugendliche geht wird alles unter den Begriff subsumiert. Im Ergebnis wirkt es mehr als seltsam, Magazincover mit Bildern nackter junger Erwachsener als Beispiel für die Unterwanderung der Homosexuellenbewegung durch „Pädosexuelle“ ausgelegt zu sehen.

Die Affinität schwuler Magazine, junge (aber nicht vorpubertäre) Knaben abzubilden, scheint auch in der Nachkriegszeit noch präsent gewesen zu sein. So finden wir einen ausgestellten Leserbrief, der 1958 in einer Homosexuellenzeitschrift abgedruckt wurde, in der sich ein Leser beschwert, dass zu viele „Halbwüchsige, Tänzer, Jünglinge mit schmachtendem Blick in süßer Pose“ gezeigt werden würden. Damalige Kritik schien sich damals aber im krassen Gegensatz dazu, wie heute auf derartige Darstellungen reagiert werden würde, eher auf der Frustration zu begründen, dass die eigene Präferenz für „den reifen erwachsenen Mann“ nicht ausreichend bedient wird, und weniger auf Sorge um eine eventuelle Ausbeutung unmündiger Jugendlicher.

All diese Darstellungen dürften wohl auch mit ein Grund dafür sein, dass Homosexuellen bis heute noch nachgesagt wird, „Jugendverderber“ und sexuelle Verführer Minderjähriger zu sein. So erfahren wir, dass noch 1957 das Bundesverfassungsgericht entschied, dass der in der NS-Zeit verschärfte § 175 StGB, welcher ausgelebte Homosexualität unter Strafe stellte, verfassungskonform sei, und begründete dies mit der „großen sozialen Gefahr“, die von Homosexuellen insbesondere für Kinder und Jugendliche ausgehe. Die gleichen Vorurteile finden sich heute noch auf queerfeindlichen Wahlplakaten der AfD, und sind einer der Gründe, weshalb die Aufarbeitung missbrauchsbegünstigender Strömungen in der Homosexuellenbewegung so schwierig ist. Es geht nämlich eben nicht nur um einen objektiven Erkenntnisgewinn, sondern die Frage selber ist bereits ein Politikum. Jede Erkenntnis im Rahmen einer Aufarbeitung kann – und wird – von queerphoben Menschen genutzt werden, um Diskriminierung gegen LGBT-Minderheiten scheinbar zu rechtfertigen. In der Führung durch die Ausstellung erfahren wir, dass deswegen nicht wenige Homosexuelle pauschal gegen Aufarbeitungsbemühungen sind, aus einer nachvollziehbaren Angst heraus, den Feinden, die einem absprechen wollen zu sein wie man ist, am Ende nur Munition in die Hand zu geben.

Eine Ecke des Ausstellungsraums ist genau diesen Vorurteilen gewidmet. An einer Wand montiert, erklärt eine große Tafel, wie diese Angst- und Feindbilder genau aussehen, und was sie für Auswirkungen haben. Die Verantwortung für sexualisierte Gewalt wird oft auf Menschengruppen projiziert, „die von der Norm abweichen“, heißt es da. Diese „Andersartigen“ werden dabei pauschal als abnormal, gefährlich und monströs porträtiert. Das stellt am Ende nicht nur queere Bewegungen „vor besondere Herausforderungen“, sondern verhindert echte Prävention und Aufarbeitung, indem der Blick auf die tatsächlichen Täter:innen verzerrt wird.

Angst- und Feindbilder
All dies lässt sich genauso auch auf Pädophilie anwenden.

Umso enttäuschender ist es, dass die Ausstellung nicht nur verpasst dies herauszustellen, sondern sich selber am Aufbau von Feindbildern gegen pädophile Menschen beteiligt.

An einer anderen Stelle hängt ein Bildschirm an der Wand, der einen 1972 veröffentlichten Lehrfilm zeigt, der Kinder über sexualisierte Gewalt aufklären soll. Der stereotypische Täter in dem Film: ein homosexueller Lehrer. In einem darunter hängenden Begleittext wird die „nahegelegte Gleichsetzung von Homosexualität mit Pädophilie und sexualisierter Gewalt“ kritisiert.

Es wird also einerseits eine fehlende Differenzierung zwischen Homosexualität und Kindesmissbrauch angeprangert, und gleichzeitig Pädophilie in die Nähe von Missbrauch gerückt.
Ist die Gleichsetzung einer sexuellen Präferenz mit Sexualstraftaten ist nur dann schlimm, wenn es Homosexuelle trifft?

Lesben, Schwule, Pädophile

Wir gehen nun in den zweiten Raum der Ausstellung. Dieser beschäftigt sich vor allem mit den Verbindungen zwischen Homosexuellenbewegungen und Pro-C – Aktivisten in der Nachkriegszeit. Zahlreiche ausgestellte Dokumente zeigen, dass es bis in die 80er – Jahre schwierig ist, überhaupt zwischen den Gruppen zu trennen. An Wänden und in Schaukästen finden wir diverse Aufrufe zu Demonstrationen und Protestaktionen aus der homosexuellen Szene, in denen „Pädophile“ oder „Päderasten“ wie selbstverständlich mit eingeschlossen sind. Selbst in der Gründungssatzung des Fördervereins des SMU, die wir als Aushang an einer Wand finden, werden ebenjene „Knabenliebhaber“ und „Ganymede“, die im vorigen Raum angeprangert wurden, zusammen mit u. a. Männerliebhabern, Homosexuellen und Schwulen als Zielgruppe genannt, deren Andenken das Museum bewahren soll.

In der Vergangenheit waren die meisten Pädophilen Aktivisten wahrscheinlich Anhänger der Pro-C Ideologie. Dass Pädophile öffentlich auftreten und sich gegen die Legalisierung sexueller Kontakte aussprechen, ist ein relativ neues Phänomen. Wenn in den Aufrufen also Pädophile angesprochen werden, sind damit Pro-C Aktivisten gemeint.

Die Solidarität begrenzte sich außerdem nicht nur auf theoretische Gedankenkonstrukte einer möglichen Einvernehmlichkeit bei sexuellen Kontakten zwischen Kindern und Erwachsenen. Unter der Gründungssatzung des SMU-Fördervereins finden wir die Gründungssatzung des Archivs der deutschen Jugendbewegung, laut der das Archiv das Erbe von Gustav Wyneken übernehmen soll. Weyneken war ein Reformpädagoge, der nicht nur Anhänger der Idee des pädagogischen Eros war, sondern auch wegen sexueller Übergriffe gegen einen 12- und einen 17-jährigen Jungen gerichtlich verurteilt wurde. Weitere verurteilte Sexualstraftäter wie Peter Schult oder Fred Karst waren geduldeter und oft auch respektierter Teil der Szene. In einem Infotext lesen wir zudem, dass es lange Zeit gängige Praxis in schwulen Medien war, Bilder abzudrucken, die heute als kinderpornografisch eingestuft werden würden, oder Reiseempfehlungen für Sextouristen auf der Suche nach Kinder- und Jugendprostitution abzudrucken.

Über all dem hängt ein Schild mit der treffenden Überschrift „Beschämende Solidarität“, das erklärt, dass Pro-C – Ansichten nicht nur akzeptiert, sondern für eine gewisse Zeit sogar gesellschaftlicher Konsens in bestimmten Milieus war.

Beschämende Solidarität
Auf eine Wand geschrieben finden wir ein Zitat von Albert Eckert, der 2012 das Bundesverdienstkreuz für sein Engagement gegen die Diskriminierung von Homosexuellen erhalten hat, und sich beklagt, „den Pädos auf den Leim gegangen“ zu sein. Dies schlägt in die gleiche Kerbe wie die Behauptung zu Beginn der Ausstellung, die schwule Bewegung sei von Pädosexuellen getäuscht und instrumentalisiert worden. Diese Narrative kann im Angesicht der ausgestellten Exponate nicht aufrechterhalten werden. Die Pro-C – Aktivisten waren zu jedem Zeitpunkt sehr offen mit dem, was sie wollten, und in Fällen wie Wyneken, Schult oder Karst auch getan haben. Teils sehen wir in Schaukästen ausgestellt lange Texte, in denen sich Pro-C – Akteure lange darüber beklagen, dass sie wegen „Liebesbeziehungen“ (zu Minderjährigen) von Gerichten zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Dies scheint ihrer Unterstützung aus der Schwulenszene keinen Abbruch getan zu haben – eher im Gegenteil. Auf einer weiteren Infotafel lesen wir eine betrübliche Schlussfolgerung: „Das Aussortieren von allem, was mit unangenehm historischen Verstrickungen ‚befleckt‘ ist, ließe von zentralen queeren oder auch von frühen jugendbewegten Kämpfen […] wenig übrig“.
Den Pädos auf den Leim gegangen?
Es hat lange Zeit keine abgegrenzte Schwulenszene gegeben, die auf falsche Versprechungen von manipulativen pädophilen Trickbetrügern hereingefallen ist. Mindestens bis weit in die 80er-Jahre hinein ist schwule Geschichte auch Pro-C – Geschichte.

Es gibt verschiedene Erklärungsansätze dazu, wie es zu dieser „beschämenden Solidarität“ kam. Am wichtigsten ist vielleicht die Kriminalisierung, die Homosexuelle lange Zeit durch den deutschen Staat erfahren haben. Dies führte dazu, dass Menschen, die gleichgeschlechtlichen Sex akzeptabel machen wollten und Menschen, die das Schutzalter abschaffen wollten gleiche Erfahrungen mit staatlicher Repression gemacht haben: Stigmatisierung, Ächtung, Ausgrenzung und Verfolgung durch staatliche Behörden. Gleichzeitig war das Verständnis der Folgen sexualisierter Gewalt noch nicht so weit entwickelt wie heute, und Betroffene wurden kaum gehört – erst recht nicht in meist kinderlosen homosexuellen Kreisen. Homosexuelle und Pro-C – Aktivisten waren gewissermaßen bezogen auf ihre gesellschaftliche Position „im gleichen Boot“, und es fehlte die Erkenntnis, dass die Forderung nach einer Legalisierung homosexueller Kontakte fundamental verschieden ist von der Forderung nach einer Legalisierung von sexuellen Kontakten mit Kindern.

Als 1969 schließlich homosexuelle Handlungen legalisiert wurden, galt immer noch ein höheres Schutzalter für homosexuelle Beziehungen als für heterosexuelle. Diese diskriminierende Regelung war ebenfalls mit ein Grund dafür, dass die Mehrheit der schwulen Aktivisten lange Zeit die Forderung nach einer Abschaffung des Schutzalters mit unterstützten.

Widerstand gegen diese Solidarisierung regte erst in den 80er-Jahren, und ging zunächst vor allem aus der benachbarten Lesben- und dem erstarkenden Feminismus aus. In einem Schaukasten finden wir eine Ausgabe der feministischen Zeitschrift Emma aus 1980 ausgelegt, der einen Artikel mit dem Titel „Wie frei macht Pädophilie?“ enthält. Der Artikel ist online verfügbar und liest sich aus heutiger Sicht geradezu surreal: über lange Sätze hinweg äußerst sich Sexualwissenschaftler Günter Amendt fast schon entschuldigend und beschwichtigend, bevor er zu dem Schluss kommt, dass Kinder keine sexuellen Kontakte mit Erwachsenen wollen. Dies zeigt beeindruckend, mit wie viel Gegenwind er für diese einfache Feststellung gerechnet hat, und wie „normal“ Forderungen nach einer sexuellen „Befreiung“ von Kindern durch Abschaffung des Schutzalters zumindest in der linken und der queeren Szene zu der Zeit waren. Zudem veröffentlichten immer mehr Frauen, die als Kind sexualisierte Gewalt erfahren hatten, ihre Erfahrungen und sorgten damit dafür, dass die Narrative der „unschädlichen“ und „einvernehmlichen“ Sexualkontakte zwischen Erwachsenen und Kindern immer mehr hinterfragt wurde.

Einige Pro-C – Aktivisten tragen deshalb bis heute einen intensiven Hass gegenüber Feministinnen und Frauen im Allgemeinen mit sich herum.
Frauenhass und Abscheu gegenüber Feministinnen werden heute noch in Pro-C – Foren oft offen zur Schau gestellt. (Quelle: öffentlicher Beitrag aus dem „Girlloverforum“)

Es sollte dennoch bis 1994 dauern, bis sich die deutsche Homosexuellenbewegung von Pro-C – Aktivisten distanzierte. Und auch hier hat sich die Schwulenbewegung nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Die durchaus spannende Geschichte finden wir in einigen weiteren Schaukästen ausgestellt.

Die Trennung geschah keineswegs aus Eigeninitiative, sondern aus dem Druck einer rechtskonservativen Kampagne heraus. Diese veranlasste die ILGA (International Gay and Lesbian Association) dazu, alle Organisationen auszuschließen, die Pro-C – Positionen vertraten, was wiederum eine hitzige Diskussion innerhalb der queeren Szene in Deutschland auslöste. Nicht wenige waren der Ansicht, sich von Pro-C – Aktivisten zu distanzieren würde bedeuten, die eigenen Ideale zu verraten, und für das Erreichen der eigenen Akzeptanz Verbündete einer diskriminierenden Gesellschaft auszuliefern.

Besonders laut in dieser Debatte war der Bundesverband Homosexualität, ein Dachverband für Schwule in Deutschland. In einem Schaukasten sehen wir alte Ausgaben der Verbandszeitung, in der groß für Solidarität geworben wurde. Trotz des Engagements des Verbands sprach sich die Mehrheit der queeren Gruppierungen für den ILGA-Beschluss aus. Pro–C – Aktivisten wurden stillschweigend fallen gelassen, und die schwule Szene entschloss sich die nächsten Jahrzehnte so zu tun, als hätte es die Solidarisierung nie gegeben. Bis heute sind Pädophile aus der queeren Bewegung ausgeschlossen, was leider auch pädophile Menschen einschließt, welche die Pro-C – Ideologie nicht vertreten.
Der Bundesverband Homosexualität wehrte sich in den letzten Jahren seiner Existenz aktiv gegen die Ausgrenzung von Pro-C – Aktivisten aus der Schwulenbewegung
Der Verband wurde wenige Jahre nach der Kampagne aufgelöst.

Was können wir aus der Vergangenheit lernen?

Gerade, als wir das Ende der Ausstellung erreichen, steckt ein Mitarbeiter des SMU seinen Kopf durch die Tür und informiert uns, dass das Museum in fünfzehn Minuten schließen wird. Wir machen uns also auf den Weg zum Ausgang und reflektieren das, was wir in den letzten Stunden gesehen haben. Was können wir aus der Vergangenheit lernen? Und was bedeutet sie für unsere Zukunft, insbesondere für den Themenbereich der Pädophilie?

Ich denke, die Fragen haben unterschiedliche Antworten, je nachdem, aus welcher Perspektive man sie stellt.

Als queere Szene

Ohne Zweifel ist der Blick in die unrühmliche Vergangenheit und deren systematische Aufarbeitung schmerzhaft. Es gehört einiges an Mut dazu, auch im Angesicht einer erstarkenden AfD, die mit Schreckensgeschichten von „Frühsexualisierung“ und kindswohlgefährdenden queeren Menschen Wahlkampf macht und dafür Hass gegen queere Menschen befeuert, dennoch den Blick auf historische Strömungen in der eigenen Geschichte zu werfen, die tatsächlich die sexuelle Ausbeutung Minderjähriger ermöglicht haben. Dem SMU gebührt Respekt, diesen Schritt gegangen zu sein. Allerdings kratzt die Ausstellung nur an der Oberfläche (was das SMU selber auch zugibt), viele Aspekte werden kaum oder gar nicht behandelt. Es gibt noch mehr als genug Ansätze für weitere Forschung.

Zu einer ehrlich gemeinten Aufarbeitung gehören auch präzise und konsistente Verwendungen von Begriffen. Hier hat die Ausstellung an vielen Stellen leider nicht sauber gearbeitet. So ist beispielsweise oft nicht klar, ob es in den zur Schau gestellten Werken wirklich um (vorpubertäre) Kinder ging, oder um Jugendliche. Letzteres würde nach heutiger Definition nicht unter dem Begriff der Pädophilie fallen, wobei sich die Definition im Laufe der Zeit durchaus gewandelt hat.

Solche Differenzierungen sind wichtig, um Stigmatisierungen zu vermeiden. Es ist sicherlich verlockend, sich von der historischen Verantwortung reinzuwaschen, indem man sich umso heftiger von Pädophilen in jeglicher Form abgrenzt, oder sich als Opfer manipulativer Pädophiler inszeniert. Dadurch werden aber auch Pädophile diskriminiert, die mit den Haltungen, die in der Aufarbeitung zu Recht problematisiert werden nichts zu tun haben.

Als Gesellschaft

Spannend ist die Erkenntnis, dass die Kriminalisierung und Stigmatisierung von Homosexualität durch das Schaffen einer gemeinsamen Erfahrungsbasis einer der wesentlichen Faktoren war, die zur Solidarisierung mit Pro-C – Aktivisten geführt hat. Die Haltung der Gesellschaft gegenüber Homosexuellen hat damit indirekt Menschen, die Sex mit Kindern praktizieren wollen, Zulauf gegeben.

Pro-C – Ideologie hat seit den 80ern zwar massiv an Bedeutung verloren, ist aber nicht ausgestorben. Auch heute noch gibt es Gruppierungen, die das Schutzalter abschaffen wollen. Ihre Argumente und Rhetorik sind weitestgehend gleich geblieben. Die Auseinandersetzung mit diesen Haltungen ist Geschichte für die Homosexuellenszene, aber ein ganz gegenwärtiger Konflikt innerhalb der Pädophilen-Szene.

Ähnlich wie bei Homosexuellen führt die gesellschaftliche Ächtung von Pädophilen (unabhängig von Handlungen oder ideologischen Haltungen) dazu, dass Pro-C – Gruppen gestärkt werden. Der aktuelle vorverurteilende gesellschaftliche Umgang mit Pädophilie schafft eine gemeinsame Erfahrungsbasis von Ausgrenzung, Stigmatisierung und Verfolgung, an die Pro-C – Aktivisten anknüpfen können, um für einen gemeinsamen Widerstand gegen gesellschaftliche Diskriminierung zu werben. Auch Pädophile, die zunächst keine Pro-C – Haltungen vertreten, landen auf der Suche nach Schutzräumen vor dem gesellschaftlichen Stigma oft in Pro-C – Foren und Chatgruppen, in denen die Meinung unwidersprochen vorherrscht, ein Verbot von sexuellen Kontakten mit Kindern sei nur ein weiteres gesellschaftliches Unrecht gegen Pädophile.  

Es mag für viele daher widersprüchlich klingen, aber die Vergangenheit der Homosexuellenbewegungen zeigt, dass die entstigmatisierender und humaner Umgang mit Pädophilie ein wichtiger Baustein sein kann, um Pro-C – Gruppen ihre Unterstützung zu entziehen.

Als (Anti-C) Pädophilenszene

Die Verlockung, mit Pro-C – Aktivisten gegen gemeinsam erlebte Formen der Stigmatisierung und Ausgrenzung vorzugehen und dadurch unmittelbar mehr Stimmen und Unterstützung zu bekommen, kann durchaus verlockend wirken. Die Geschichte der Homosexuellenbewegung sollte uns eine deutliche Warnung sein, diesen Weg nicht zu gehen.

Es kann im Kontext mit Pro-C – Aktivisten nur eine Nulltoleranzpolitik geben. Ihre Ziele sind nicht unsere Ziele, und wir dürfen dies auch im Angesicht oberflächlicher Gemeinsamkeiten nicht vergessen. Während die Schwulenbewegung noch ein in der Vergangenheit weniger umfangreiches Wissen über die Folgen sexueller Handlungen mit Kindern als Entschuldigung anbringen kann, wissen wir heute wesentlich mehr darüber, was die Folgen sein können. Es gibt heute keine Rechtfertigung mehr dafür, sich für „einvernehmliche“ sexuelle Kontakte mit Kindern starkzumachen.

Wer sich als Anti-C – Pädophiler gegen Pro-C – Ansichten stellt, wird schnell Anschuldigen ausgesetzt, „Nestbeschmutzer“ zu sein, und sich an der Stigmatisierung „Verbündeter“ zu beteiligen, um ein bisschen Akzeptanz für sich selber zu erkaufen. Dies entspricht – zum Teil wortgleich – den Anschuldigungen, die sich die Minderheit der Schwulen anhören mussten, die sich auch lange vor der offiziellen Distanzierung der Schwulenszene gegen die Forderungen der Pro-C – Aktivisten gestellt haben. Doch erst die Distanzierung von den Altlasten des Pro-C – Aktivismus hat die weitere gesellschaftliche Akzeptanz der queeren Szene möglich gemacht. Das sollte uns den Mut geben, auch gegen den Widerstand aus Teilen der Pädophilenszene selbstbewusst für unsere Haltungen einzustehen.

Die Vergangenheit gehört den Pro-C – Aktivisten. Wenn wir eine Zukunft haben, dann nur in klarer Abgrenzung von deren Überzeugungen.

Abschluss

Einen Tag nach dem Besuch der Ausstellung machen wir uns auf dem Weg nach Hause. Auf dem Weg zum Hauptbahnhof gehen wir einen kleinen Umweg durch den großen Tiergarten. Dort finden wir eine Statue zu Ehren von Goethe, der stolz auf einem Podest steht. Unter ihm steht eine Figur des Eros in Form eines nackten, geflügelten Knaben.

Das Goethe-Denkmal im Berliner Tiergarten
Die Art von Darstellung ist nicht unähnlich derer, die wir am Vortag im SMU bildliche Verkörperung des pädagogischen Eros und der ideologischen Grundlage eines Jahrhunderts von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche präsentiert bekommen haben. Goethe ist übrigens auch Verfasser eines Gedichts über Ganymed („Ach, an deinem Busen / Lieg ich, schmachte / Und deine Blumen, dein Gras / Drängen sich an mein Herz“), das 1817 von Franz Schubert vertont wurde.

Das jenes, was auf der einen Seite als zutiefst problematisch thematisiert wird, an anderer Stelle als stolzer Teil der deutschen Hochkultur präsentiert wird, zeigt vielleicht, wie zerrissen und unentschlossen die Gesellschaft bei dem Thema ist.