Inhaltshinweis: in diesem Beitrag werden schwere Gewalt- und Missbrauchstaten auch gegen Kinder erwähnt.
In den letzten Monaten ist die Bundesrepublik von einer Reihe an Gewaltverbrechen erschüttert worden. Im August 2024 tötete ein junger Mann auf einem Volksfest in Solingen drei Menschen und verletzte mehrere andere schwer; im Dezember verübte ein Mann einen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg; und erst im letzten Monat griff ein Mann eine Kindergartengruppe in Aschaffenburg an und tötete dabei ein Kind und einen Mann. All diese Taten erzeugten ein weitreichendes mediales und politisches Echo, das insbesondere im Angesicht der anstehenden Wahlen nun ein explosives Potenzial entfaltet.
Um Entschlossenheit und hartes Durchgreifen zu zeigen, verabschiedete als Antwort auf den Anschlag in Solingen die damals noch bestehende Ampel-Regierung das sogenannte „Sicherheitspaket“, das als Antwort vor allem Maßnahmen enthält, welche die Grundrechte der Bürger:innen einschränkt und Befugnisse für die staatlichen Ermittlungsapparate erweitert. Enthaltene Maßnahmen, wie zum Beispiel die zunehmende Einführung von Messerverbotszonen, wurden dabei von Expert:innen überwiegend als nutzlose Symbolpolitik kritisiert, für deren Wirksamkeit es keine wissenschaftlichen Evidenz gibt.
Da es sich bei den Tätern in allen Fällen um Männer mit Migrationsgeschichte handelt, stellt sich seitdem in den Medien und in der Politik außerdem der beunruhigende Trend ein, von Migration als Ursache der Gewalttaten zu reden. Das Sicherheitspaket enthielt eine Reihe von Maßnahmen, die gezielt gegen Asylsuchende gerichtet waren, unter anderem sollen abschiebepflichtige Personen keine Grundsicherung mehr erhalten. Auch Bundeskanzler Scholz ließ sich zitieren, dass man jetzt „im großen Stil abschieben“ müsse. Angetrieben von den erstarkenden rechten Kräften verschärft sich insbesondere seit den Morden in Aschaffenburg die Stimmung gegen Migrant:innen zunehmend. Friedrich Merz kündigte kurz danach an, die Grenzen schärfer kontrollieren zu wollen, brachte zwei Entschließungsanträge zur Bekämpfung sogenannter illegaler Migration in den Bundestag ein und nahm zu deren Umsetzung sogar in Kauf, das zum ersten Mal seit 80 Jahren der Deutsche Bundestag einen Entschluss nur mit den Stimmen von Rechtsextremen verabschieden konnte.
Mehr und frühere Abschiebungen, weniger Rechte für Asylsuchende, mehr Asylhaftplätze: die Politik kennt als Antwort auf die Gewaltfälle lediglich drakonische Maßnahmen, die weder sachlich noch evidenzbasiert sind, die aber tief in die Grundrechte von Migrant:innen einschneiden, diese pauschal als Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland darstellen und damit zu der Stigmatisierung von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund beitragen, die friedlich in Deutschland leben.
Wenn ich die aktuellen Diskussionen um Migration und Gewalt beobachte, fühle ich mich in die Zeit vor der letzten Bundestagswahl 2021 zurückversetzt. Auch damals wurde mit ähnlichen Methoden gegen eine Minderheit gehetzt und deren Rechte eingeschränkt. Damals waren es jedoch Pädophile, die in den Fokus des Gesetzgebers gekommen waren.
Ähnlich wie die diversen Anschläge aktuell waren es damals große Missbrauchsfälle, welche die Öffentlichkeit erschütterten. Nach den Missbrauchskomplexen in Lügde und Bergisch-Gladbach, die 2019 ans Licht gekommen waren, sorgte im Sommer 2021 vor allem das Bekanntwerden eines weiteren Falls in Münster für Aufsehen. Die Antwort der Politik folgte kurz darauf. Auch hier bestand sie im Wesentlichen aus nutzloser Symbolpolitik sowie einer Gesetzesverschärfung, die sich in der Praxis als derart katastrophal erwiesen hat, dass das Gesetz gegen Kinderpornografie in der folgenden Legislaturperiode vom Gesetzgeber widerwillig zum ersten Mal seit Bestehen des Strafgesetzbuches teilweise wieder entschärft werden musste. Auch hier wurde eine Minderheit, in dem Fall Pädophile, medial und in der politischen Diskussion als Schuldige behandelt und mit einem Verbot von Kindersexpuppen ein weiteres Gesetz beschlossen, dass in die Grundrechte dieser Minderheit eingreift. Auch hier gibt es keine wissenschaftlichen Erkentnisse, die bestätigen würden, dass die beschlossenen Gesetze irgendetwas dafür bringen, solche Fälle in der Zukunft zu verhindern. Und auch hier wurde durch die Verbindung der Straftaten mit einer Minderheit billigend in Kauf genommen, dass zahlreiche friedlich lebende Menschen stigmatisiert und an den Taten eine Mitschuld gegeben wurde.
Der mediale Dualismus
Sowohl die aktuelle Debatte über Migration, als auch die Debatte über Pädophilie 2021 wäre so nicht möglich gewesen, wäre sie nicht jahrelang davor medial vorbereitet worden. So wird über Migration übermäßig oft nur im Kontext von Straftaten berichtet. Bei Tatverdächtigen erwähnen die Medien etwa zehnmal so oft die Herkunft, wenn es sich um Ausländer handelt, als bei deutschen, obwohl Deutsche in der Realität die Mehrheit der Tatverdächtigen stellen. Gleichzeitig geht es in der Berichterstattung über Geflüchtete in etwa jedem dritten Fall um mögliche Gewalttaten. Gewaltfrei lebende Migrant:innen und deutsche Gewalttäter sind in den Medien gemessen an ihrem tatsächlichen Vorkommen absolut unterrepräsentiert.
Bei Pädophilie ist diese Situation mit Sicherheit noch extremer. So wird über Pädophilie ausschließlich im Kontext von Missbrauch geredet - wenn es nicht um Täter geht, dann geht es um Prävention von Taten, was Pädophile am Ende auch wieder im Kontext als (potenzielle) Täter einordnet. Ebenso wird auch bei der Berichterstattung zu Straftaten nicht nur überdurchschnittlich oft die Sexualität erwähnt, wenn es um pädophile Täter geht, darüber hinaus werden auch viele Taten Pädophilen zugeschrieben, die gar nicht von Pädophilen begangen wurden oder bei denen man über die Sexualität des Täters nichts weiß. Selbst Straftaten gegen Jugendliche werden häufig Pädophilen zugeschrieben.
In beiden Fällen ist das Ergebnis, dass im öffentlichen Diskurs sowohl Pädophilie als auch Migration zunehmend mit Straftaten verknüpft und als Sündenbock erklärt werden. Interessanterweise liegt der ungefähre Anteil der Straftäter, die tatsächlich pädophil sind bzw. einen Migrationshintergrund haben, in beiden Fällen bei etwa 40 %. Das ist zwar gegenüber dem Anteil, den Pädophile bzw. Migrant:innen an der Gesamtbevölkerung ausmachen, tatsächlich erhöht. Zumindest beim Thema Migration liest man in den Leitmedien aber gelegentlich den richtigen Hinweis, dass nicht der Ausländerstatus das zentrale Merkmal für die Entstehung von Gewalt ist, sondern andere Faktoren, die lediglich bei Menschen mit Migrationshintergrund gehäuft auftreten. Bei Pädophilie liest man derartige Disclaimer durchaus seltener, aber auch hier ist bei Täter:innen nicht die sexuelle Präferenz der ausschlaggebende Faktor, der zu Missbrauch führt. In beiden Fällen ist gerade die Stigmatisierung ein korrelierender Risikofaktor, der Gewalt wahrscheinlicher macht.
Durch diese ständige Verbindung mit Gewalttaten werden Pädophile und Migrant:innen jedenfalls zu einer (gefühlten) Bedrohung, gegen die in der Politik hart und erbarmungslos vorgegangen werden soll. Empirische messbare Realität wird ersetzt durch eine gefühlte Wahrheit, die durch die mediale Berichterstattung erst geschaffen wird, bis irgendwann durch ständige Wiederholung auch Falschaussagen zur Wahrheit erhoben werden. Und in beiden Fällen wird diese Narrative vom gesamten politischen Spektrum von den Grünen bis zur AfD weitergetragen. Wer 2021 für Pädophile wählen wollte, hatte etwa genau so wenig Auswahl wie wer heute für Migrant:innen wählen möchte.
Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich
Freilich gibt es auch Unterschiede zwischen 2025 und 2021. Zunächst einmal wurde trotz Schulterschluss mit der AfD das Zustrombegrenzungsgesetz der CDU (wenn auch sehr knapp) nicht angenommen, während 2021 alle Gesetze „gegen Pädophilie“, insbesondere die Kriminalisierung von Kindersexpuppen, ohne Gegenstimmen durch den Bundestag gegangen ist. Generell gibt es deutlich mehr Solidarität und Empathie für Migrant:innen heute, als es für Pädophile realistisch je möglich wäre. Zum Teil setzen die gleichen demokratischen Organisationen, die 2021 auf Hilfegesuche eine Befassung mit dem Thema Pädophilie und dem Kindersexpuppen-Verbot kategorisch abgelehnt haben, sich heute sehr laut und auf mehreren Ebenen für die Rechte Geflüchteter ein. Das ist nicht unbedingt ein Vorwurf, muss aber als Zeichen verstanden werden, dass trotz aller Hetze gegen Migrant:innen in den letzten Monaten und Jahren die Grenze des Sagbaren im Bereich Pädophilie noch deutlich weiter weg ist. Während Scholz im Dezember 2024 etwa sagte, dass trotz allem „gut integrierte“ Syrer in Deutschland willkommen bleiben, glaube ich nicht es noch zu erleben, dass ein Bundeskanzler mal „gut integrierte“ Pädophile in der Gesellschaft willkommen heißen wird. Diese totale Tabuisierung des Themas erschwert natürlich auch jeden Einsatz zur Verteidigung der Grundrechte pädophiler Menschen.
Dennoch zeigt der Vergleich der Situation von 2021 und 2025 ein betrübliches Muster. In beiden Jahren wurden tragische Vorfälle instrumentalisiert, indem eine Minderheit als verantwortlich für die Vorfälle dargestellt und somit stigmatisiert wird. Daraufhin ist der Versuch zu beobachten, mit drakonischen und potenziell verfassungswidrigen Gesetzen gegen diese Minderheit vorzugehen, um mit blinden Populismus eine aufgebrachte Masse zu besänftigen und politisches Kapital für die bald anstehende Wahl zu gewinnen. Im Angesicht politischer Auseinandersetzungen scheint ein humaner Umgang mit Minderheiten das erste zu sein, was geopfert wird. 2021 waren es Missbrauchsfälle, die Agitationen gegen Pädophile ausgelöst haben; 2025 waren es Messerangriffe, die Agitationen gegen Migranten ausgelöst hat.
Wer ist wohl nächstes Mal dran?