Im Jahr 2010 bin ich dem Gruppenzwang erlegen. Jeder in meiner Klasse hatte einen Account bei Facebook. Ich nicht, und so musste ich mir in den Pausen scharfe Kommentare über mein soziales Desinteresse (wie es gewertet wurde), anhören. „Na du Opfer, biste zurückgeblieben?“ „Bist du irgendwann eigentlich auch mal in der Pubertät?“

Heute betrachte ich es als schade, dass ich mich von Leuten bequatschen lassen habe, die sich darüber definieren, dass sie sich in der Pubertät befinden. Damals habe ich aus irgendeinem Grund was darauf gegeben. Nach monatelangen Sticheleien, Beleidigungen, Handgreiflichkeiten, um meine Schwäche zu demonstrieren, bin ich tatsächlich schwach geworden. Ich habe getan, was sie wollten, damit sie mich nicht mehr als „schwaches Kleinkind“ bezeichneten. Als einer, der „nicht mal als Mädchen was taugt“. Ja. Das haben sie gesagt.

Wenn ich sie auf dem Schulhof sah, wie sie den Erstklässlern ein Bein stellten – dann ein kräftiger Tritt zwischen die Rippen – schnell, bevor die Lehrer gucken – bin ich abgehauen, doch einer fing mich immer ab. „Na, willste weglaufen? Guck genau hin, was man mit Opfern macht.“ Meist blieb es bei Worten, ein bisschen Geschubse, mehr nicht. Gelegentlich, wenn die Lage aufgrund einer düsteren Ecke in der Nähe günstig war, wurden auch schon mal die Wrestling-Moves aus dem Fernsehen an mir demonstriert. Einmal schmetterten sie meinen Kopf dermaßen auf den Aspahlt, dass ich den Rest des Tages mit rasenden Kopfschmerzen in der Klasse saß und mich nicht traute, etwas zu sagen. Weil sie ja auch da waren. Und weil sie sich rächen würden. Ich war zu schwach und stand allein gegen die Übermacht des Mobs. Das ist die Realität für viele junge Menschen an deutschen Schulen. Und auch die Hauptschul-Vorurteile helfen nicht, um dieses grausame Verhalten zu erklären. Die oben geschilderten Szenen spielten sich auf einem Gymnasium ab. Die Täter waren das, was der Staat als junge Elite seines Landes bezeichnet. Was ich euch nun erzählen werde, ist somit eigentlich wenig verwunderlich. Seltsam eigentlich, dass es trotzdem niemand sieht.

Das Mobbing hat mein Leben zerstört. Es hat mich traumatisiert. Jahrelang habe ich das runtergespielt, denn hätte ich es mir eingestanden, wäre ich mir noch schwächer vorgekommen. Und schließlich kann man auch mit so einem Trauma einen Sinn und etwas Schönes im Leben finden. Ich war zufrieden, denn ich hatte einen Beruf gefunden, der mich erfüllte und Freunde, die mir zur Seite standen. Bis ich mir meine sexuelle Orientierung eingestand. Dann kehrte die Düsternis zurück.

Damals und Heute

Vor einiger Zeit habe ich mich wieder auf Facebook eingeloggt. Bin die alten Beiträge durchgegangen, ohne zu wissen warum. Da waren sie. Edgar und Felix, Jonas und Mirko (Namen geändert). Und die anderen Mitläufer, die aus dem Hintergrund anfeuerten. Da waren die fiesen Sticheleien. Ich hatte mir damals erhofft, es würde aufhören, wenn ich mich ihnen beuge. Es ist nur schlimmer geworden.

Mit ein paar Klicks habe ich geschaut, was sie heute machen. Edgar ist damals schon stämmig gewesen, heute ist er ein richtiges Muskelpaket. Auf seinem Profilbild posiert er mit Muskelshirt im Fitnessstudio. Das gespielt zurückhaltende Lächeln offenbart einen Hauch von Selbstzufriedenheit.

Felix, immer noch schlank und knochig. Die kleinen Augen nach wie vor zusammengekniffen, als plane er dich mit seinen Blicken zu massakrieren. Er hält seine Freundin im Arm. Sie stehen auf einem Felsen am Meer. Lächeln unschuldig.

Weiter zu Jonas. In seinen Gefällt-mir-Angaben sehe ich, dass er jetzt Kommunalpolitiker ist. Ein Schwarzweißbild vor dunklem Hintergrund prangt über seinen Beiträgen. Er hat die Augen geschlossen und die Wange an den Flaum am Kopf seines Babys geschmiegt. Das kleine Wesen kuschelt sich an die Brust seines Vaters. Die Brust des Mannes, der vor 11 Jahren das Gesicht eines Grundschülers so lange über die Schulhofmauer rieb, bis dieser vor Schmerzen schreiend um Gnade flehte.

Und Mirko? Mirko hat ein unscheinbares Foto. Er sitzt auf irgendeiner Feier und hebt ein Glas in die Kamera, ein Auge zwinkert mir zu. In seinen Beiträgen bezeichnet er sich als Querdenker. Ich habe genug und bin im Begriff, den Browser zu schließen. Doch dann entdecke ich etwas.

Nichts gelernt?

Bilder in seiner Chronik. Hassbotschaften, die wie weise Motivationssprüche aufgemacht sind. „Todesstrafe statt Therapie“ und „Kein Platz für Pädophile“. In den Kommentaren wird gehetzt. Man müsse etwas tun, heißt es. Der Staat versage schließlich. Einige der Namen kommen mir aus meiner Schulzeit bekannt vor. Ich kenne sie aus Kursen, aus den Parallelklassen. Einer von ihnen war in der Neunten, als ich in die Fünfte kam und ironischerweise zwei Monate lang heimlich mit Mara aus meiner Klasse zusammen. Ein offenes Geheimnis auf dem Schulhof.

Und auch Edgar entdecke ich unter den Schreibenden. Und Mirko. Sie verabreden sich zu einem Coup. „Habt ihr das hier gesehen?“ Ein Link zum Kanal eines sogenannten „Pädojägers“ auf YouTube. Nick Hein sei ein Volksheld. Hier um die Ecke gebe es ja auch so Therapie. Ein Link zur Webseite, ein Bild vom örtlichen Kein-Täter-werden-Standort. Mir wird schlecht, weil ich das Haus kenne. Ich selbst bin dort in Therapie gewesen.

„Da muss ich mit mein Sohn vorbei zum Kindergarten“. „Schlimm“, „Abartig“, „In was für einem Land leben wir?“. Sie philosophieren darüber, ob man den „Kinderfickern“ nicht irgendwie auflauern könnte. Einige von ihnen verabreden sich, am Eingang zu warten und die Leute zur Rede zu stellen. Auch Mirko ist dabei. Ein bisschen Schubsen reiche, dann würden die sich schon in die Hose machen. In langen Beiträgen legt er dar, dass er es nicht erträgt, sich vorzustellen, dass einer von denen seinen Sohn sehen und dessen Seele zerstören könnte. Vielleicht nicht verwunderlich, dass er glaubt, alle Menschen seien darauf aus, Seelen zu zerstören. Womöglich schließt er einfach von sich auf andere.

Wie eingangs erwähnt: Es ist nicht verwunderlich, was da aktuell passiert. Immerhin beteiligt sich auch der Staat an der Hetze.

Die Frage der sexuellen Orientierung geht die Öffentlichkeit nichts an. Solange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt und solange es nicht Kinder betrifft. - Friedrich Merz (CDU)


Ich glaube schon, dass die lebenslange Speicherung im Bundeszentralregister richtig ist. - Alexander Hoffmann (CDU/CSU)


Und genau das ist das Problem in dieser Beliebigkeit, dass alles möglich ist, dass wir die Arme aufhalten müssen und jeder Teil der Mitte sein kann, auch der arme Pädophile, der nur mit seinen Neigungen geplagt ist, für den man Verständnis haben muss. Und ich sage Ihnen: Nein, wir haben kein Verständnis. - Iris Dworeck-Danielowski (AfD)


Ich finde, jemand, der auf Kinder steht, darf keinen Platz in unserer Gesellschaft haben! - Patricia Platiel (Journalistin)

Mehr gefällig?

Wenn Politiker und Journalisten als Meinungsbilder, solche Dinge sagen, brauchen sie sich nicht über die Gewalt wundern, die sie damit auslösen. In den Niederlanden ist die politische Rhetorik sogar noch schlimmer als in Deutschland. Aktuell versucht die Regierung dort, Pädophilen zu verbieten, politisch aktiv zu werden. Sie sollen sich nicht mehr zur Wahl aufstellen dürfen, der Entzug des allgemeinen Wahlrechts ist für mich ebenfalls absehbar. Bei unseren Nachbarn ist die Hassrede in der Politik gewaltig. Passenderweise hat sich die sogenannte „Pädojagd“ dort gleichzeitig zum Nationalsport entwickelt. Jährlich werden hunderte von Fällen schwerer Gewalt gegen mutmaßliche Pädophile verzeichnet, es kommt regelmäßig zu schweren Verletzungen und Todesfällen. Wie das wohl zusammenhängt?

Hierzulande wird kaum über die beinahe bürgerkriegsähnlichen Zustände in unserem Nachbarland berichtet. Natürlich nicht. Denn auch hier sind wir in Bezug auf unsere Mentalität nicht weit von solchen Zuständen entfernt. Die Gesellschaft hält diese Zustände für normal. Für gut und richtig.

Lehren

Mobbing ist schwere Gewalt. Das weiß ich aus Erfahrung. Dennoch sind alle Maßnahmen, die dagegen ergriffen werden, höchstens halbherzig. Keiner der Typen, die mein Leben zerstört haben, hat irgendwelche Konsequenzen erfahren. Wenn ich heute erwähne, was mir angetan wurde, dann heißt es „Übertreib mal nicht, jeder wird doch mal ein bisschen gehänselt.“ Gleichzeitig findet eine Empörung über Pädophile statt (nicht einmal über Missbrauchstäter, sondern explizit über Pädophile, die nicht einmal Straftäter sein müssen), die ihresgleichen sucht. Es gäbe keine minder schweren Fälle. Schon Blicke seien Seelenmord. Woran liegt es, dass keiner das alles als das erkennt und entlarvt, was es ist? Was für eine Motivation haben Edgar, Felix, Jonas und Mirko wohl, sich so vehement gegen Pädophile zu stellen? Diese vier Männer sind Menschen, die schon in ihrer Kindheit und Jugend, Schwächere gequält haben, um sich selbst besser zu fühlen. Sie betrieben schweres Mobbing. Und nichts anderes tun sie heute noch. Bloß mit dem Unterschied, dass der Staat damals einfach weggeschaut hat, heute beteiligt er sich aktiv. Er gibt Menschen wie diesen Vieren das Gefühl, dass es richtig ist, was sie tun. Er bestärkt sie.

Hinzu kommt noch etwas, was ich bloß spekulieren kann. Als Menschen machen wir alle mal Fehler. Ich kann mir gut vorstellen, dass man sich im Laufe des Erwachsenwerdens den Fehlern gewahr wird, die man begangen hat. Vielleicht verdrängt man sie, vielleicht plagen sie einen tatsächlich ganz aktiv, ohne dass man darüber spricht. Im Falle von Edgar, Felix, Jonas und Mirko bestand die Lösung schon damals darin, andere fertigzumachen, um von seinen eigenen Fehlern und Problemen abzulenken. Und weil sie nie etwas anderes gelernt haben, tun sie das auch heute noch. Hier muss der Staat ansetzen. Er muss schon bei Kindern ansetzen, sie auffangen und ihnen Alternativen zum Hass bieten. Denn Hass hat uns Menschen in der Vergangenheit schon mehrfach beinahe den Kopf gekostet. Und das wird auch in Zukunft so weitergehen, wenn sich die Leute da oben auch weiterhin so vehement weigern, grundlegende Menschenrechte zu achten.

Edgar und Felix, Jonas und Mirko haben meine Seele zerstört. Seltsamerweise soll ich nun einfach aufgrund meiner bloßen, angeborenen Identität ein Seelenzerstörer sein. Doch ich habe erkannt, dass ich hier nicht der Täter bin. Ich war das Opfer und habe es allein geschafft, keines mehr zu sein, noch bevor ich zu Kein-Täter-werden gegangen bin. Wenn der Staat es nicht für nötig hält, etwas daran zu ändern, dass jährlich unzählige weitere Kinder Opfer solcher Straftaten werden, so hat er doch die Verantwortung, den Opfern zu helfen. Stattdessen beteiligt er sich an diesen Straftaten und versucht, die Opfer zu kriminalisieren, indem er alle Verhaltensweisen unter Strafte stellt, die diese Opfer u.U. an den Tag legen könnten (z.B. Verbot von Puppen zur sexuellen Befriedigung). Der Staat ist es, der im Hintergrund anfeuert, während kleinen Kindern in die Rippen getreten wird, wenn ihre Gesichter gegen Schulmauern gedrückt werden. Denn auch der Staat möchte sich besser fühlen, indem er auf andere eintritt. Warum sonst hat die CDU nur ein paar Tage nach der Maskenaffäre mal eben schnell ein weiteres Gesetz gegen Pädophile erlassen und in der Öffentlichkeit damit geprahlt? Warum sonst hat sie die überwältigend negativen Gegenstimmen der Experten einfach ignoriert?

Hier bahnt sich nicht weniger als die nächste große menschenrechtliche Katastrophe an und wenn die Gesamtgesellschaft nicht aufhört, mordende Pädojäger anzufeuern, wie damals die Judenpogrome angefeuert wurden; wenn sie nicht aufhört, mit eifrigem Kopfnicken auf Menschen zu reagieren, die Pädophile aus der Gesellschaft ausschließen wollen, wie Juden aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden; wenn sie die Registrierungspflicht von Pädophilen begrüßt, wie damals der Judenstern begrüßt wurde; dann muss sich die Gesamtgesellschaft auch nicht wundern, wenn sie sich nach dem nächsten großen Knall für ihre Verbrechen verantworten muss. Und dann will wieder keiner davon gewusst haben.

Wir wissen, wie es das letzte mal geendet hat, als man eine Minderheit als gefährlich, als das personifizierte Böse auserkoren hatte.

Wehret den Anfängen.