Liebe Leser,
die letzten Wochen und Monate wurden erschüttert von der Aufdeckung großflächiger Missbrauchsnetze, hitzigen politischen Debatten, Rufen nach Gesetzesänderungen und härteren Strafen. In diesem Klima ist es so ziemlich unmöglich, einen ruhigen Diskurs zum Thema Pädophilie zu führen, und das Thema getrennt von Kindesmissbrauch zu betrachten. Über Pädophilie wird zwar auch sonst meistens nur im Kontext von Straftaten und Prävention berichtet, aber diese Assoziation scheint im Moment ganz besonders stark in den Medien verbreitet zu sein. Das zeigen auch die Fundstücke, die ich diese Woche in meiner Kiste gesammelt habe.
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Die fränkische Tageszeitung "Fränkischer Tag" hat ein Interview mit dem KTW-Therapeuten des Bamburger Standorts Dr. Ralf Bergner-Köther geführt. In dem Interview beantwortet Dr. Bergner-Köther Fragen zur Therapie bei Kein Täter Werden und zur Pädophilie im Allgemeinen.
Das erste, was mir beim Lesen aufgefallen ist, war der Fokus auf das Thema Impulskontrolle: so gehe es bei der Therapie darum, die Neigung "perfekt zu kontrollieren", oder Risikosituationen "kontrollieren lernen", oder "Impulsivität besser kontrollieren" zu können. Das ist zwar grundsätzlich nachvollziehbar: zu KTW kommen in erster Linie ja Patienten, die Probleme damit haben, ihr Verhalten zu steuern oder Angst davor haben, die Kontrolle zu verlieren, und somit ist das Erlernen von Impulskontrolle eines der Hauptthemen der Therapie. Problematisch finde ich es aber, wenn diese Aussagen so geäußert werden, als ob sie grundsätzlich für alle pädophile Menschen gelten müssten. Dadurch wird schnell der Eindruck erweckt, dass Pädophilie eine Impulskontrollstörung sei, und pädophil zu sein bedeutet, ständig dem unwiderstehlichen Drang ausgesetzt zu sein, ein Kind zu missbrauchen. Das wiederum füttert schnell die Ansicht, dass alle pädophile Menschen im Grunde tickende Zeitbomben sind, die maximal durch viel Therapie etwas ungefährlicher gemacht werden können – was äußerst stigmatisierend und verletzend ist.
Auch einige andere Aussagen von Dr. Bergner-Köther fand ich ziemlich unglücklich formuliert und zum Teil stigmatisierend. So erzählt er zunächst, dass viele seiner Patienten noch keine Straftaten begangen hat, relativiert das aber gleich zwei Sätze später: "Oft sicherlich auch deshalb nicht, weil ihre Taten nicht entdeckt worden sind."
Darüber hinaus versucht Dr. Bergner-Köther bei seinen Patienten zu erreichen, dass sie "nicht mehr mit dem Schulbus zur Arbeit fahren oder alleine auf Kinder aufpassen." Sexuelle Fantasien mit Kindern akzeptiert er "nur unter bestimmten Bedingungen", und dabei auch nur, wenn es sich "nicht um ein reales Kind im Umfeld" handelt. Nach Möglichkeit sollten die Patienten lieber versuchen, ihre "Präferenzen in den Erwachsen-Bereich" zu verschieben (auch, wenn es bis heute keinen Beweis dafür gibt, dass so ein Versuch auch auf lange Sicht funktionieren kann). Dahinter kommt ein therapeutischer Ansatz zum Vorschein, der nicht auf Selbstakzeptanz ausgerichtet zu sein scheint, sondern mehr darauf, die Pädophilie aus dem Patienten auszutreiben – oder, wenn das nicht geht, zumindest so weit wie möglich zu vermeiden. Indem Fahrten mit dem Schulbus schon als Risikosituationen definiert werden, wird außerdem das grundsätzliche Misstrauen gegenüber pädophilen Menschen weiter geschürt.
Das ZDF hat in der dritten Folge der "Serie Kindesmissbrauch" sich mit denjenigen beschäftigt, die sexuellen Missbrauch begehen, und dafür Sarah Allard (NB: die übrigens bis heute auf den offenen Brief von Ruby nicht geantwortet hat) als Expertin dazu gezogen.
Einige der Aussagen aus dem Video wirken teilweise äußerst merkwürdig oder sogar irreführend. So fängt das Video an mit der Aussage, dass die Täter mitten unter uns leben würden: Sie seien "Ehemänner, Väter, Nachbarn, Freunde". Auch später heißt es, die Täter seinen meistens männlich. Dass auch Frauen sexuellen Kindesmissbrauch begehen können, wird hier seltsamerweise völlig unter den Tisch fallen gelassen – was im schlimmsten Fall dazu führen könnte, dass von Frauen durchgeführter Kindesmissbrauch häufiger unentdeckt bleibt, weil es ja nur Täter, aber keine Täterinnen gibt.
Noch verwirrender wird es, wenn Frau Allard über die Zusammensetzung der Tätergruppen spricht. 20% der Täter seien exklusiv pädophil, behauptet sie, und bei 80% würde auch eine Ansprechbarkeit auf Erwachsene vorliegen. Unklar ist, ob sie damit meint, diese 80% seien alle nicht-exklusiv pädophil, oder ob sie die Gruppe der nicht-exklusiv pädophilen Täter (die also auf Kinder und Erwachsene ansprechen) und der nicht-pädophilen Täter (die nur auf Erwachsene ansprechen) zusammenfasst. Der Großteil der Menschen, die sexuellen Missbrauch begehen, sind allen bisherigen Erkenntnissen zu Folge jedenfalls überhaupt nicht pädophil – aber wenn man Frau Allards Aussagen hört, wenn sie zum Beispiel davon spricht, dass alle Täter "diese Störung" haben, bekommt man schnell den Eindruck, dass für sie alle Täter in irgendeiner Form pädophil sein müssen.
Immerhin, ganz zum Schluss heißt es: "Pädophilie bedeutet nicht, dass man Täter werden muss." Wobei die Wirkung dieser Aussage ein wenig dadurch verloren geht, dass sie über der animierten Zeichnung eines Mannes eingeblendet ist, der einen Jungen am Oberschenkel streichelt.
Nicht immer sind viele Worte vonnöten. Hier ist eine Liste von interessanten Fundstücken, die ich ohne groß Worte zu verlieren vorstellen möchte.
Der Hang zum sexuellen Missbrauch von Kindern (n-tv.de)
In Kassel muss sich der Biologie-Professor Ulrich Kutschera wegen homophoben Aussagen vor Gericht verantworten. Die Anklage bezieht sich unter anderem darauf, dass Herr Kutschera homosexuellen Menschen eine "grundsätzliche Neigung zum sexuellen Missbrauch von Kindern" unterstellen würde. Interessant daran finde ich, dass dies bei pädophilen Menschen ja tagtäglich gemacht wird, ohne dass dies groß angefochten wird. Ließen sich all diese Fälle auch grundsätzlich vor Gericht bringen – oder wird hier mit zweierlei Maß gemessen?
Keine Sympathie für Pädophile (deutschlandfunknova.de)
Bei aller Kritik an der gesellschaftlichen Stellung, die pädophile Menschen in Deutschland haben – in anderen Ländern ist es zum Teil noch wesentlich schlimmer. In Pakistan zum Beispiel. Dort hat kürzlich Ahmed Raza Quadri, Minister in Kashmir, öffentlich bekundet, dass Pädophile keine Sympathie und keine zweite Chance verdienen. Damit meint er natürlich eigentlich Sexualverbrecher, die in der Zukunft in Pakistan als Strafe physisch kastriert werden sollen.
Verantwortung (badische-zeitung.de)
Es ist schön zu hören, dass nicht jeder in pädophilen Menschen die schlimmsten Monster auf Erden sieht. Die Badische Zeitung hat einen Leserbrief veröffentlicht, in dem Sympathie gegenüber Menschen mit Pädophilie geäußert wird. Wenn mehr Menschen anfangen würden, in diese Richtung zu denken, könnten wir vielleicht in der Zukunft auf ein besseres Verständnis und einen konstruktiven Austausch hinarbeiten.
Nicht jeder pädophile Mensch wird zum Straftäter, und die meisten Kindesmissbrauchstäter und Konsumenten von Kinderpornographie sind nicht pädophil.
Leider wird diese wichtige Unterscheidung in den Medien oft nicht gemacht, und Pädophilie mit Straftaten oft in einen Topf geworfen. Gerade das trägt aber massiv zur Stigmatisierung pädophiler Menschen bei, da die meisten Menschen so den Eindruck gewinnen, dass Pädophilie und Kindesmissbrauch ein und dieselbe Sache ist. Um auf dieses Problem aufmerksam zu machen, möchte ich hier jede Woche Beispiele für diese Behandlung des Themas Pädophilie in den Medien sammeln.
Zum Abschluss noch eine Ankündigung. Sich jede Woche aufs Neue mit den Medienerzeugnissen zu beschäftigen, die in geschätzt 90% der Fälle negativ, stigmatisierend und verletzend sind, ist nicht immer einfach. Und oft ist es auch einfach schwierig, neue Worte für Probleme zu finden, die immer und immer wieder aufs Neue auftauchen. Daher werde ich mit der Sonntagskiste erst einmal in eine Sommerpause gehen, um dann im September wieder mit neuer Energie die Serie fortzuführen. Ich hoffe aber, in den kommenden Wochen stattdessen ein paar neue Blogbeiträge zu veröffentlichen über Themen, die mir schon seit längerem auf der Seele brennen.
Genießt den noch verbleibenden Sommer, und bis zum nächsten Mal! :)
Sirius
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[Anmerkung Redaktion: Zitate stammen aus Artikel in Punkt 1]
„‚Kein Täter werden‘ versteht sich deshalb als präventiver Opferschutz.“
— Da hat aber jemand geschlafen. Das ist zwar nicht notwendigerweise Teil der Aussagen des Bamberger Projektleiters aber KTW betont seit Jahren, dass sie eine Art Re-Branding vorhaben, deswegen sogar ein Wechsel des Titels „Kein Täter werden“ im Raum stand und die Betonung ganz klar weniger auf „Wir wollen machen, dass ihr keine Kinder missbraucht“ liegen solle sondern mehr auf „Wir sehen in euch mehr als nur ‚potentielle Täter‘ und bieten euch Hilfe, wenn ihr sie braucht“. So jedenfalls die Gedankengänge hinter „Du träumst von ihnen“ und „Troubled Desire“ sowie der Neugestaltung ihrer Webseite als sie unser Team um Feedback baten. Der Artikel erweist dem Projekt einen Börendienst — oder die Haltungen, die Vertreter des Netzwerks an den Tag legen, sind bei weitem nicht so klar abgesprochen und einheitlich wie es bisher dargestellt wird.
[Anmerkung Redaktion: Zitate stammen aus Artikel in Punkt 1]
„Können Pädophile ihre sexuellen Neigungen ausleben, ohne Kindern und Jugendlichen zu schaden? Die einzige uns bekannte Möglichkeit ist die sexuelle Fantasie.“ — Lüge. Zeichnungen? Puppen? Sozialer nicht-sexueller Kontakt zu Kindern? Feige Antwort, falls dies die ganze Antwort war.
„Bei Patienten mit einem sehr stark ausgeprägten sexuellen Trieb kommt darüber hinaus die Möglichkeit einer medikamentösen Triebdämpfung ins Spiel. Das erleben viele Patienten auch als entlastend. Sie können dann wieder an einem Spielplatz vorbeilaufen, ohne sofort an Sex zu denken.“ — Das Problem mit diesem Interview ist großteils entweder die Art dieses Mannes, sich auszudrücken oder wie seine Worte zurechtgeschnitten wurden. Hier, wie an anderen Stellen steht zuerst einschränkend ganz klar „ Bei Patienten mit einem SEHR STARK ausgeprägten sexuellen Trieb“. Kurz darauf sind es dann aber wieder „VIELE Patienten“, die „dann wieder an einem Spielplatz vorbeilaufen [können], ohne sofort an Sex zu denken.“ Also jetzt doch VIELE der gerade einmal 100 Patienten, die sonst nicht am Spielplatz vorbei kommen ohne an Sex zu denken? Oder beispielsweise 10 von insgesamt 15 mit extrem starkem Sexualtrieb unter den 100? Die Aussagen widersprechen sich und haben sehr unklare Bezüge untereinander. Ein Wissenschaftler sollte auf klarere Aussagen im fertigen Artikel achten.
Bei mir hinterließ dieser Artikel einen vielschichtigen bitteren Nachgeschmack. So viele kleine Gemeinheiten und unsachliche Details. Traurig.