Wenn man von Boystown hört, haben vermutlich die meisten direkt eine Assoziation im Kopf, da über den Fall seit Jahren berichtet wird und er immer wieder auch in anderen Dokumentationen als Beispiel herangezogen wird. Für diejenigen, die nicht wissen, worum es geht: es handelte sich hierbei um eine der größten bekannten Plattformen für den Austausch von Kinderpornographie und Kindesmissbrauchsabbildungen im Darknet. STRG_F hat es sich nicht nehmen lassen, einen der ehemaligen Admins der Plattform nach seiner Verhaftung zu interviewen.
Vorgestellt wird dieser ganz plakativ als "Chef der riesigen Pädo-Plattform: Boystown.", der im "Knast auspackt". Eine tolle Einleitung, die die BILD nicht besser hätte schreiben können. Wir haben STRG_F bereits in der Vergangenheit auf ähnlich missglückte Formulierungen per Mail hingewiesen, auf die uns sogar geantwortet wurde. Es gab kleinere Titeländerungen, nachdem wir z.B. erläutert haben, weshalb es stigmatisierend und oft auch einfach unzutreffend ist, das Wort "Pädo" zu verwenden, wenn man eigentlich über Straftaten und Straftäternetzwerke spricht und so eine zwanghafte Verbindung zum Wort "pädophil" herstellt, die nicht notwendig ist.
Wir haben auf unsere Unterseite Orientierungshilfen für Journalisten aufmerksam gemacht und unsere Unterstützung und Redebereitschaft angeboten, sollte STRG_F zukünftig an Dokus rund um dieses Thema arbeiten. Darauf sind sie selbstverständlich nicht zurückgekommen und der "ausgebügelte" Fehler (den Titel von "Pädoforen" zu "Pädokriminelle Foren" zu ändern) wurde direkt in allen folgenden Dokus, wenn auch nicht im Titel selber, wiederholt.
Auch das Unwort pädokriminell fällt in dieselbe Kategorie. Es mag verlockend sein, vorhandenes Stigma, das mit dem Wort verbunden ist, zu nutzen, um bessere Klickzahlen zu erzielen, manchmal sollte man aber doch lieber die journalistische Sorgfaltspflicht beherzigen.
Der Pflichtverteidiger Matthias Cramer bezieht selbst auch Stellung zu dem Fall und äußert Mutmaßungen zu den Beweggründen seines Mandanten, dem Interview zuzustimmen. Das alleine erscheint mir schon unproffessionell und wird durch seine weiteren Aussagen untermauert. So spricht er davon, wie schwer es ihm fällt, seine eigenen Gefühle in diesem Fall zur Seite zu legen und zu "versuchen, das Ganze professionell weiterzumachen". Mir ist bewusst, dass auch Pflichtverteidiger natürlich nicht ausnahmslos empathielose Menschen sind, die alles abschalten mit jedem Fall, den sie übernehmen, dennoch wirkt es hier eher so, als wenn er manche Fälle am liebsten gar nicht übernehmen würde (oder sollte?).
Aber nicht nur das. Da Andreas G. Revision eingelegt hat, ist das Verfahren noch immer in Gange. Ob offiziell genehmigt oder nicht: Sein Anwalt äußert sich hier also zu einem laufenden Verfahren, dessen Ausgang noch nicht einmal vollständig geklärt ist.
An mehreren Stellen im Video geht es um das TOR-Netzwerk, wie dieses funktioniert und auch wie man Andreas G. darüber ermitteln konnte, obwohl dieses als sicher gilt. Es wird zwar darauf hingewiesen, dass dieses für Menschen aus repressiven Ländern mit zensiertem Internet sehr wichtig ist und damit die Frage angedeutet, was diese mögliche Verfolgung für sogenannte Whistleblower bedeutet. Darauf wird aber nicht weiter eingegangen. Stattdessen möchte man noch einmal betonen, dass das Darknet dafür sorgt, dass "sich Pädokriminelle dort sehr sicher fühlen".
Kommen wir aber zum Täter selbst. Das Interview gibt einen kleinen Einblick in seine Gedankenwelt und die Art, wie er von anderen wahrgenommen werden will. Was gleich deutlich wird, ist, dass er seine Kernpädophilie als Begründung vorschiebt, um seine Taten zu rechtfertigen - ganz so als könne er selber eigentlich gar nichts dafür - und damit habe ich, als selbst pädophiler Mensch, so meine Probleme.
Er vergleicht seine Pädophilie mit einer Drogensucht und das Darknet als einzigen Ort, an dem man Nachschub bekommen würde. Man könnte diese Stelle im Interview auch missverstehen, nämlich so, dass er damit eine Pornosucht beschreibt und nicht seine Neigung, aber nein, er fährt damit fort zu erklären, dass für ihn das Darknet die einzige Anlaufstelle ist, um Begegnungen mit Kindern besprechen zu können und sich "zu zeigen, wie man wirklich ist". Offenbar liegt darin, seiner Ansicht nach, auch ein Suchtcharakter.
Der Vergleich hinkt hier gleich an mehr als nur den üblichen Stellen. Einmal wird von ihm Selbsthilfe/normaler Austausch zwischen Gleichgesinnten damit gleichgesetzt, seine Sexualität auf die ein oder andere Art auszuleben. Dann beschreibt er eine pädophile Neigung als inneren Drang, dem man irgendwann nicht mehr widerstehen könne und bestätigt damit gängige Vorurteile - fraglich ist, ob er das wirklich so empfindet oder ob er viel eher denkt, dass er mit der Argumentation eine mildere Strafe erhält, da er ja gar nicht anders konnte. Pädophilie auf eine Stufe mit einer Suchterkrankung zu stellen, ist genau das was uninformierte Leute seit Jahren immer wieder nachplappern. Er selbst redet sogar von "pädophilen Inhalten", wenn er eigentlich Kinderpornographie und Missbrauchsabbildungen meint und verknüpft damit beides unweigerlich miteinander, ganz so als ginge das überhaupt nicht anders. Das ist zusätzlich deswegen inkorrekt, da ein Großteil der Konsumenten solcher Inhalte nicht einmal pädophil ist, was tatsächlich auch in der Doku Erwähnung findet.
Die No-Gos die er für seine Plattform festgelegt hat, geben einen kleinen Einblick in seine Gedankenwelt. Bildmaterial von Mädchen und Erwachsenen ist nicht erlaubt, Jungs nur in einem bestimmten Altersbereich, keine Gewalt und häufig tabuisierte Fetische, wie Kot, ebenfalls nicht. Ihm scheint es sehr wichtig zu sein hervorzuheben, dass er diese Grundsätze gegen "Extreme" auf seiner Plattform hat (und sieht Kleinkinder scheinbar nicht einmal als Jungs an, da er noch einmal dazuschreibt "Dies ist ein Nur-Jungs-Ort") und dass das Ausschließen solcher Inhalte dem Kinderschutz diene. All das zeigt, dass er sich einen Ort geschaffen hat, der genau auf seine persönlichen Vorlieben abgestimmt ist und Kinderschutz bloß ein vorgeschobener Grund für diese Eingrenzung ist. Anscheinend brauchen selbst Missbrauchstäter immernoch eine Gruppe, über die sie sich stellen und moralisch erheben können - an Ironie kaum zu überbieten.
Er sagt, er sei relativ spät auf das Darknet gestoßen und hätte 2019 Boystown gefunden. Leider ermöglicht das Interview jedoch nur einen sehr oberflächlichen Blick auf das eigentliche Thema und geht nicht in die Tiefe oder stellt Fragen, die wirklich interessant wären. Warum er sich z.B. dann nicht schon 2019 oder noch früher an "Kein Täter werden" gewendet hat, wenn er gemerkt hat, dass er in eine ungesunde Richtung abdriftet - schließlich wäre er der klassische Kandidat für eine Therapie dort. Auch eine (Online-)Selbsthilfegruppe wäre eine Option gewesen. Er beantwortet die Frage, ob er sich "damit" (vermutlich ist die Pädophilie gemeint) beschäftigt hätte, bevor es zu den Taten kam, damit, dass er "sein ganzes Leben nichts anderes gemacht hätte als darüber nachzudenken". Damit geht er allerdings nur auf die Fantasien und (sexuellen) Gefühle selbst ein, nicht jedoch auf sein Verhalten (insbesondere im Netz).
Man könnte nun natürlich argumentieren, er war zu diesem Zeitpunkt bereits "zu tief drin", um darüber angemessen reflektieren zu können. Dennoch hört sich das eher nach einem Abgeben seiner eigenen Verantwortung an. Um selbst eine solche Plattform, und noch dazu in einem solchen Ausmaß, mitzubetreiben und ein Kind zu missbrauchen, gehört schon mehr dazu als kernpädophil und neugierig zu sein und dazu kommt es auch nicht von heute auf morgen.
Mich würde z.B interessieren, ob er überhaupt jemals versucht hat, eine Community zu finden, die über "wie befriedige ich meine sexuellen Bedürfnisse" hinausgeht. Es macht auf jeden Fall nicht den Anschein, auch wenn er es so darstellt, als hätte er gar keine andere Wahl gehabt als ins Darknet zu gehen, um andere Pädophile zu finden. Oder wie es überhaupt zu dem realen Übergriff auf den Jungen kam, denn er behauptet, er habe durchaus Skrupel gehabt, worauf dann aber nicht weiter eingegangen wird. Ob es noch mehr Übergriffe gab, wird nicht genannt. Auch die angekündigte Meinung des Anwalts nach dem Gespräch, warum sein Mandant denn das Interview überhaupt gegeben hat, bleibt aus.
In einem Punkt hat Andreas G. allerdings Recht. Diese gedankliche Falle, sich Orte, die komplett aus dem Ruder laufen, schönzureden, einfach weil man dort eine Community gefunden hat, die in den schwersten Zeiten da war, ist eine sehr verlockende. Es ist sehr einfach, von außen darauf zu schauen und nur das Chaos zu sehen, jedoch nicht den Grund, warum sich jemand dort freiwillig aufhält. Die Eigenschaft Dinge auszublenden und schönzureden ist eine zutiefst menschliche. Das macht es nicht zu etwas positivem, aber es erklärt wie so etwas möglich ist.
Und auch seine Rechtfertigung, Leute müssten sich irgendwie abreagieren und ohne Videomaterial würde schlimmeres passieren, beinhaltet zumindest ein Fünkchen Wahrheit, auch wenn ich daraus andere Schlüsse ziehen würde als er. "Sich abreagieren zu müssen" halte ich zwar für übertrieben, schließlich kann man auch zu seinen eigenen Fantasien masturbieren, aber dass sich jemand irgendeine Form von Pornographie wünscht, um seine Sexualität befriedigender zu gestalten, wenn dies schon nicht im echten Leben möglich ist, halte ich für normal und nachvollziehbar. Und für manche Menschen ist es nicht so leicht auf sämtliche Reize von außen verzichten zu müssen. Langfristig kann sich hier große Frustration aufbauen, die widerum ein Risikofaktor für realen Missbrauch ist. Pornographie ist also nicht als "Stopper" von Missbrauch zu sehen, wohl aber als "Erleichterung" des Umgangs mit der eigenen Sexualität und damit einer Steigerung der psychischen Gesundheit. Da die Pädophilie jedoch leider die Besonderheit mit sich bringt, sexuell und romantisch nicht mit den bevorzugten Menschen umsetzbar zu sein, ergibt sich daraus ein Dilemma.
Hier greift die Verantwortung der Gesellschaft, die in der gesamten Dokumentation keine Erwähnung findet. Orte zu bieten die unterstützend und positiv bestärkend wirken, auch abseits von Therapien, und Alternativen zu erlauben, die die Möglichkeit bieten seine Sexualität auf unschädliche Art und Weise erleben zu können, wäre verantwortungsvoll und letztlich auch hilfreich für die Eindämmung von Missbrauchsabbildungen und Übergriffen auf Kinder.
Menschen an den Rand der Gesellschaft zu drängen, sorgt nicht dafür, dass diese Menschen oder die Probleme, die sie haben, verschwinden. Sie sorgen dafür, dass sich überhaupt erst solche ungesunden Strukturen wie die Plattform Boystown entwickeln können. Die Antwort auf die Frage, die man stellen müsste, geht eben tiefer als "böse Menschen begehen Strafteten, weil sie böse sind". Ja, letztlich liegt es an jedem Einzelnen, sich gegen das Begehen von Straftaten zu entscheiden, aber der Weg dahin ist auch mitgeprägt davon, welche Möglichkeiten man überhaupt hat und wie die Gesellschaft mit einem umgeht. Es ist leicht gesagt, dass man sich ja einfach nur an die Gesetze halten muss und dann ist alles gut, wenn diese Gesetze z.B selbst reine Fiktion in Form von Geschichten, virtuellen Rollenspielen und Zeichnungen unter Strafe stellen. Gemeinschaft hat in einer Welt, in der man automatisch der Buhmann ist, sehr starkes Gewicht und so gut wie jeder Mensch sucht den Austausch mit Gleichgesinnten. Es ist also sehr einfach, in die falschen Kreise zu geraten.
Was mich etwas verwundert hat, war die nicht ganz korrekte Aussage des Sexualtherapeuten Dr. Christoph J. Ahlers. Mir ist nicht ganz klar, ob er sich hier versprochen hat oder ob das absichtlich gesagt wurde, um die Zuschauer nicht gänzlich zu verlieren, aber es ist eben nicht 1/3 bis die Hälfte an Kindesmissbrauchstätern die nicht pädophil sind, sondern das ist der Anteil der tatsächlich pädophil ist - also der kleinere Anteil, der je nach Studie natürlich schwankt, aber in so gut wie keiner der größere Anteil ist.
Auf bestehende Communities pädophiler Menschen, die sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen klar ablehnen, wird in der gesamten Doku leider, trotz besseren Wissens, nicht ein einziges Mal eingegangen. Herr Moßbrucker, der maßgebend an dieser Doku beteiligt ist, ist uns z.B kein Unbekannter. Wir haben uns in der Vergangenheit in einem längeren Gespräch mit ihm u.A. über die korrekte Nutzung von Begriffen ausgetauscht, er weiß also um unsere Existenz und unsere Ansichten. Und auch dem Team von STRG_F insgesamt haben wir, wie anfangs bereits erwähnt, schon die ein oder andere E-Mail mit Hinweis auf unsere Projekte geschrieben. Von uns abgesehen gibt es neben SuH/GSA außerdem einige englischsprachige Anti-C Communities.
Fazit: Die Doku bleibt leider effekthascherisch und oberflächlich. Die Botschaft, die ich daraus mitnehme, scheint eher darauf ausgelegt zu sein, Nutzern des Darknets mit der Tatsache, dass die Polizei teilweise auf fragwürdige Weise in der Lage ist, das TOR-Netzwerk aushebeln zu können, Angst einjagen zu wollen. Und auch wenn ich kein großer Fan von Therapien als Pauschalantwort bin, fehlt diese Option hier komplett, was ich angesichts des Falles seltsam finde. Die Frage bleibt, welchen Mehrwert dieses Interview für den durchschnittlichen Zuschauer hat, außer dessen Sensationsgier zu befriedigen.