Vor etwa 3 Jahren erschütterte eine der größten bekannten Missbrauchsfälle die Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Der Hauptbeschuldigte, Andreas V., hatte über viele Jahre hinweg Kinder auf einem Campingplatz in Lügde systematisch missbraucht. Möglich wurde dies nur dank massiven Behördenversagens insbesondere der zuständigen Jugendämter, welche auf zahlreiche Warnzeichen nicht oder nicht ausreichend reagiert hatten. Vor kurzem veröffentlichte das ZDF eine vierteilige Dokumentation mit dem Titel Die Kinder von Lügde, welche die Umstände des Falls versucht aufzuarbeiten. Zu jedem der vier Teile gibt es außerdem einen kurzen Begleittext, der das Thema der jeweiligen Folge kurz darstellt.

Bemerkenswert ist dabei vor allem der Text zum zweiten Teil, welcher das Versagen der Jugendämter thematisiert. Fehler gab es durchaus in erschreckender Anzahl. So hatten die Jugendamtsmitarbeiter etwa Andreas V. die Pflegschaft über ein sechsjähriges Mädchen gegeben, obwohl dieser keine festen Wohnverhältnisse hatte und lediglich in einem heruntergekommenen Campingwagen lebte, der allem Anschein nach kein gutes Umfeld für die Erziehung eines kleinen Mädchens darstellte. Dies kritisiert auch das ZDF. Die Kardinalsünde, die das ZDF den Jugendämtern vorwirft, lautet dabei jedoch: dass diese "trotz zahlreicher Hinweise, dass er pädophil sei" die Pflegetochter bei ihm ließen1. Andreas V sei "als Pflegevater völlig ungeeignet" gewesen, da "nicht nur aktuell Hinweise auf Pädophilie vorlagen."

Diese auf den ersten Blick harmlosen Sätze, die sich wie selbstverständlich in den Text einfügen, sind bei genauerem Hinsehen ziemlich ungeheuerlich. Wir erinnern uns: Pädophilie ist eine sexuelle Präferenz, die sich niemand aussucht, und die nicht bedeutet, dass jemand automatisch Täter:in ist oder prädestiniert ist, Taten zu begehen. Dennoch wird pädophilen Menschen hier grundsätzlich unterstellt, keine guten Eltern sein zu können - und mehr noch, für ihre eigenen Kinder gefährlich zu sein, sodass selbst ihre eigenen Kinder am besten von ihnen ferngehalten werden. Damit wird Menschen, die nichts falsch gemacht haben, außer mit einer gesellschaftlich verachteten Sexualität auf die Welt zu kommen, pauschal und ohne Einschränkung das Recht auf eine eigene Familie entzogen. Und das in einem beiläufigen Nebensatz, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

Ich muss zugeben, diese Selbstverständlichkeit, mit der diese Aussagen unkritisch und ohne Widerspruch übernommen werden und gesellschaftlich akzeptiert sind, macht mir Angst. Denn nach fast 1 1/2 Jahren Ehe ist der nächste große Schritt für Ruby und mich, der zur Familienplanung ansteht: eigene Kinder. Der Wunsch ist da.

Was passiert aber nun, wenn wir ein Kind haben und das örtliche Jugendamt erfahren sollte, dass nicht nur ein, sondern beide Elternteile pädophil sind? Wie wird der zuständige Jugendamtsmitarbeiter handeln, mit dem Wissen um Lügde im Hinterkopf, wo der größte Skandal nicht die zahlreichen Fehler und tatsächlichen Versäumnisse der Jugendämter war, sondern die einfache Tatsache, dass sie dem Pflegevater sein Kind nicht direkt weggenommen haben, als erfahren haben, dass er möglicherweise pädophil sein könnte?

Diese Sätze des ZDF, die im Zusammenhang mit Lügde auch an anderen Stellen immer und immer wieder gefallen sind, sind inzwischen so sehr Teil der dominanten Narrative geworden, dass sie an eigentlich keiner Stelle mehr so richtig hinterfragt werden. Es wirkt wie ein stiller, gesellschaftlicher Vertrag, der fordert: Pädophile dürfen nie, an keiner Stelle, die Bezugspersonen für Kinder sein. Und wenn das doch einmal passieren sollte, ist es Aufgabe der staatlichen Behörden, diesen Fehler zu korrigieren. Für mich sind solche Sätze damit vor allem eines: eine Drohung. Und der Inhalt ist vermutlich so ziemlich das schlimmste, was man (zukünftigen) Eltern sagen kann: "wir werden euch euer Kind wegnehmen." Ausgesprochen, noch bevor unser Kind überhaupt das Licht der Welt erblicken konnte.

Ich weiß nicht, wie realistisch dieses Szenario am Ende wirklich ist. Es ist beängstigend genug zu wissen, dass es da draußen eine überwältigende Menge an Menschen gibt, die jemanden, der uns unser Kind aus unseren Armen reißen würde noch anerkennend auf die Schulter klopfen würden, sobald sie nur erfahren, dass wir pädophil sind. Gut gemacht, wieder ein Kind aus den Fängen dieser Monster gerettet.

Es reicht schon, dass diese Möglichkeit im Raum steht und es absolut gar nichts gibt, was wir dagegen tun können. Wären wir Alkoholiker, drogenabhängig, gewalttätig oder überfordert, könnte es Maßnahmen und Interventionen geben, um an unserem Verhalten zu arbeiten und zu verhindern, dass eine Trennung von unseren Kindern notwendig ist.

Was aber können wir tun, wenn schon aufgrund unserer Pädophilie entschieden wird, dass wir als erziehungsberechtigte ungeeignet sind? Also nicht aufgrund von etwas, was wir tun, sondern aufgrund dessen, wie wir - ganz fundamental - sind.

Wir können nicht ändern, pädophil zu sein. Wenn dies schon reicht, um als "völlig ungeeignet" zu gelten, eigene Kinder groß zu ziehen, dann bedeutet dies, dass ein permanentes Damoklesschwert über uns hängen wird und wir ständig in Angst leben müssen, dass unsere Familie durch staatliche Behörden auseinandergerissen wird, ohne dass es irgendetwas gibt, was wir dagegen tun können. Eine Angst, die kein Mensch haben sollte. Und wenn, dann vielleicht in irgendwelchen Schurkenstaaten – aber doch nicht mitten in Deutschland?

Der einzige Schutz vor diesem Szenario ist unsere Anonymität, dass niemand weiß, wer wir wirklich sind. Und das ist ein sehr unzuverlässiger Schutz, der jederzeit durch einen einzigen Fehler, ein falsches Wort an falscher Stelle, verloren gehen kann. Auf dieser Basis eine Familie aufzubauen ist … schwierig.

Es gibt übrigens einen Satz an ethischen Standards, den Pressekodex, dem sich Journalisten und Verleger freiwillig verpflichtet haben. Dort steht in Ziffer 12.1, dass bei der Erwähnung der Zugehörigkeit eines Straftäters zu einer Minderheit besondere Sorgfalt gewährleistet werden muss, dass dies nicht zu einer diskriminierenden Verallgemeinerung individuellen Fehlverhaltens führt. Das ZDF macht es sogar noch schlimmer und liefert diese Verallgemeinerung direkt selber. Aus den zugegebenermaßen ungeheuerlichen Straftaten eines einzelnen (vermutlich) pädophilen Mannes wird als Konsequenz sämtlichen pädophilen Vätern und Müttern unterstellt, schädlich für ihre eigenen Kinder zu sein.

Ich habe das ZDF diesbezüglich schon am 17.11. angeschrieben und bis heute weder eine Antwort bekommen, noch eine Änderung an den fragwürdigen Texten beobachten können. Zwar ist es möglich, direkt eine Beschwerde beim Presserat einzureichen, dies geht allerdings nur unter Angabe des vollen Namens und der Wohnadresse, die im Laufe des Beschwerdeverfahrens darüber hinaus auch an den Beschwerdegegner (sprich: Das ZDF) weitergegeben und für drei Jahre gespeichert werden. Aus dem oben genannten Grund, dass Anonymität so ziemlich unser einziger wirklicher Schutz ist, wenn wir unsere eigenen Kinder sicher aufwachsen sehen wollen also keine wirkliche Option.


  1. Dies bestätigte Journalistin Dorthe Ferbe im Magazin "Volle Kanne", wo sie erzählte, eines der Versäumnisse der Jugendämter sei, dass diese bei Vermutungen von pädophilen Neigungen weggeschaut hätten.