"Versteckt hinter Nutzernamen, verborgen in der Datenflut im Netz, erweitern Pädokriminelle die Grenzen des Vorstellbaren." So jedenfalls beschreibt es ARTE, deren Dokumentation "Kinderschänder im Visier" wir uns angeschaut haben. Der 90-minütige Beitrag will über sexuellen Missbrauch von Kindern und Gefahren im Netz aufklären und bietet zum Schluss sogar eine vermeintlich einfache Lösung dieser Probleme an. Doch ob der Beitrag es dabei wirklich schafft, das Thema unaufgeregt, sachlich und vor allem ohne pädophile Menschen zu stigmatisieren, zu behandeln - und ob diese Lösung tatsächlich geeignet ist, Kinder effektiv zu schützen - dieser Frage möchten wir uns im folgenden Beitrag widmen. Immerhin behauptet ARTE auf seiner Webseite selbst "sich seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst" zu sein.
ARTE, ein seriöser Sender?
Bereits der Titel sagt eine Menge über die Intention der Dokumentation aus. Das Wort "Kinderschänder", das besonders in der rechtsextremen Szene sehr verbreitet ist, ist inzwischen gesellschaftlich verpönt, da es impliziert, das Opfer würde durch den Missbrauch Schande auf sich laden. Wieso nutzt also der Sender, der sich dessen sicherlich bewusst ist, dennoch diesen Begriff? Wenn man sich die Aufmachung der gesamten Dokumentation anschaut, kann die Antwort eigentlich nur lauten, dass es sich hierbei um eine Art "Clickbait" handelt. Ein reißerischer Titel, der schockieren und die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich ziehen soll.
Diese emotionalisierte Sprache wird im gesamten Beitrag fortgeführt. So werden Täter unabhängig von der konkreten Straftat als von grundauf böse dargestellt, oder es ist die Rede von "monströsem Material", das über Plattformen wie Google geteilt wird. Ein Gefühl für die Nuancen der Thematik geht so vollständig verloren. Denn natürlich gibt es diese Fälle - auch uns haben viele der in der Dokumentation erwähnten Fälle emotional aufgewühlt - dennoch gibt es beispielsweise einen Unterschied zwischen dem realen Missbrauch eines Kindes (sowie Aufnahmen davon) und der Nutzung von Bildern, die Kinder bekleidet in alltäglichen Situationen zeigen. Diese werden hier jedoch scheinbar auf eine Stufe gestellt.
Gleiches gilt für Sexpuppen mit kindlichem Aussehen und insbesondere KI-generierte Kinderpornografie, welche ausschließlich negativ konnotiert und als "pädokrimineller Inhalt" bezeichnet wird. Mit erneut stark emotional aufgeladenen Worten wird beschrieben, welche abscheulichen Inhalte mithilfe von Künstlicher Intelligenz erstellt werden könnten und dass diese das Internet bereits jetzt überschwemmen würden. Dass dies einen Beitrag zur Eindämmung realer Kinderpornografie leisten könnte, wird gar nicht erst in Erwägung gezogen. Völlig wahrheitswidrig wird zudem behauptet, solche Inhalte seien legal und würden nicht reguliert.
Die Frage der Seriosität stellt sich auch, wenn der Zuschauer gleich zu Beginn der Doku mit beihnahe unzensierter Kinderpornografie konfrontiert wird. Es werden gerade einmal Gesichter und Genitalbereiche der Personen auf den Bildern zensiert - Stellung und ein Großteil der Körper sind klar erkennbar. Dies wiederholt sich später an mehreren Stellen und wirft erneut die Frage auf, welchem Zweck dies dienen soll. Der einzige Grund der uns einfällt, ist wieder einmal, dass beim Zuschauer Ekel- und Schockgefühle ausgelöst werden sollen, um ihn gleich zu Beginn in einen emotionalisierten Zustand zu versetzen. Unserer Meinung nach ist dies auch aus ethischer Sicht mindestens fragwürdig, da sich Opfer auf den Aufnahmen selbst wiedererkennen können und somit zum Erreichen des gewünschten Effekts erneut ausgebeutet werden.
Es fällt zudem die wiederholte Nutzung übertrieben hoher Zahlen in verschiedenen Kontexten auf. So wird beispielsweise behauptet, einer von 6 Männern fühle sich sexuell zu Kindern hingezogen und jeder zehnte Mann habe bereits ein Kind missbraucht. Zahlen, die schockierend klingen. Wer sich die australische Studie, aus der diese Zahlen stammen, aber genauer anschaut, erfährt, dass mit Kindern dort alle Personen unter 18 Jahren gemeint sind. Sowohl in Deutschland (Schutzalter 14) als auch in Frankreich (Schutzalter 15) sind sexuelle Handlungen mit Minderjährigen jedoch nicht grundsätzlich strafbar. Entsprechend gelten hierzulande über 14-jährige rechtlich nicht mehr als Kinder, sondern als Jugendliche. Hinzu kommt, dass die Studie es schon als Missbrauch wertet, wenn die Befragten angaben, bereits mit einer Person unter 18 online geflirtet zu haben.
Als die Plattform "Boystown" zur Sprache kommt, wird - wie zugegebenermaßen in vielen Medienberichten - von 400.000 Nutzern gesprochen, auch wenn es sich tatsächlich erst einmal bloß um Hinweise auf Nutzer handelt, und nicht sicher ist, ob sich hinter jedem Hinweis auch wirklich ein Nutzer befindet. Es ist anzunehmen, dass viele Nutzer mehrere Accounts haben oder sich sogar jedes Mal einen neuen Account erstellen, wenn sie das Darknet und die Plattform betreten. Das Problem, das Kinderpornografie darstellt, ließe sich auch dann noch in seiner Schwere kommunizieren, wenn man sich auf realistische Angaben berufen würde.
Begriffliche Willkür
Wie in vielen Beiträgen zu dem Thema schafft auch ARTE es nicht, Begriffe korrekt zu definieren und ist selbst in seinen eigenen Definitionen nicht konsistent. Dies möchten wir am folgenden Zitat einmal zeigen:
"Die Nepiophilie, der sexuelle Missbrauch von Babys, ist eine Variante der Pädokriminalität, die online immer mehr zunimmt."
Wie auch hier spricht die Dokumentation bis auf wenige Ausnahmen von Pädokriminellen, wenn sie Täter meint. Eine konsistente Begriffsnutzung würde nun bedeuten, dass Täter, die Kleinkinder oder Babys missbrauchen, als Nepiokriminelle bezeichnet werden. Stattdessen entscheidet sich ARTE aber Nepiophilie, eigentlich die Neigung, als den Missbrauch von Babys und Kleinkindern zu definieren. Zudem ist der Missbrauch von Babys eine Handlung, die sich erst einmal abseits des Internets abspielt. Die Formulierung, diese würde online zunehmen, ist entsprechend fragwürdig, da - wenn überhaupt - die Verbreitung von Aufnahmen davon online zunimmt.
Aber auch der Begriff der Pädokriminalität selbst wird weit über seine eigentlichen Grenzen hinaus ausgedehnt und in zum Teil völlig unpassenden Zusammenhängen genutzt. So geht es im Laufe der Dokumentation nicht nur um sexuellen Missbrauch von Kindern, sondern auch um Sexting mit Jugendlichen (also über 14-jährigen, die hier grundsätzlich als Kinder bezeichnet werden), Mord oder auch Betrugsmaschen, um Geld zu erpressen. Bei letzterem ist Sexualität gar kein Motiv, ebenso wie das Alter der Opfer für die Betrüger nicht von Relevanz ist und diese Maschen ebenso auf Erwachsene angewendet werden können. Im Grunde verfehlt die Dokumentation wiederholt das Thema und spricht Dinge an, die für sich durchaus problematisch sind, mit dem selbst formulierten Thema des Beitrags jedoch wenig bis nichts zu tun haben.
Auch impliziert der Begriff pädokriminell, dass es sich bei den Tätern ausschließlich um Menschen handelt, die auch ein sexuelles Interesse an Kindern aufweisen. Diese Einschätzung scheinen auch die "Experten" zu teilen, die sich an verschiedenen Stellen äußern. Darunter der Kommissar Quentin Bévan, der von "pädophilen Aktivitäten" spricht, oder der Psychologe und Gerichtsgutachter Dr. Michael Bourke, der zuerst sehr detailliert die Empfindungen von Nepiophilen beschreibt und dann wie im folgendem Zitat...
"Es ist fast so, als ob man das Kabel aus etwas völlig Normalem und Notwendigem rausgezogen und in etwas eingesteckt hätte, das völlig abnormal ist und in diesem Fall sexuell."
... den Fokus anstatt auf den Missbrauch, auf die Neigung und deren Abnormität legt und scheinbar glaubt, diese reiche aus, um die Tat zufriedenstellend zu erklären. Auch ist die Rede davon, dass "pädophile Onlinecommunities" Impulse und Fantasien fördern und es wahrscheinlicher machen würden, dass diese ausgelebt werden. Dies impliziert wiederum, dass Onlinecommunities von Pädophilen grundsätzlich den Missbrauch von Kindern befürworten würden und dass Pädophilie zudem eine inhärente Gefahr birgt. Der Gedanke, dass es auch Selbsthilfeforen und -chats gibt, die von Pädophilen betreut werden und den Missbrauch von Kindern strikt ablehnen, existiert überhaupt nicht.
Die Lösung für Kindesmissbrauch - presented to you by the European Commission
Die Dokumentation berichtet während der ersten Stunde also ausführlich von diversen Gefahren für Kinder und Jugendliche im Internet. Konstruktive Vorschläge, wie man mit diesen umgehen könnte, gibt es bis zu diesem Punkt jedoch so gut wie gar nicht. Lediglich an einer Stelle wird darauf hingewiesen, dass man Jugendliche über die Gefahren des Verschickens von Nacktbildern aufklären sollte. Stattdessen werden ähnlich harte Strafen wie etwa auf den Philippinen gefordert - man müsse "Härte zeigen, um neue Täter abzuschrecken". Auf therapeutische Hilfe für tatsächliche oder potenzielle Täter wird nicht eingegangen.
Allgemein wird das Internet als gefährlicher Ort für Kinder und Jugendliche dargestellt, gleichzeitig aber kaum auf die Verantwortung eingegangen, die Eltern und Bildungsinstitutionen in diesem Zusammenhang haben. Diese sollten Kindern die nötige Medienkompetenz mitgeben. In vielen Situationen besteht das Problem in erster Linie darin, dass diese Kinder völlig unvorbereitet sind und Gefahren nicht richtig einschätzen können, um angemessen damit umzugehen.
Nachdem der Zuschauer während der ersten Stunde also in die richtige Stimmung versetzt wurde, wird nun die vermeintlich einzige Lösung des Problems präsentiert: die Chatkontrolle. Eingeführt wird das Thema von der Leiterin der Zentralstelle Jugendschutz Frankreich, Gabrielle Hazan:
"Es wird Zeit, dass die Gesellschaft aufsteht und sich verstärkt für den Schutz von Kindern einsetzt. Wir müssen uns kollektiv fragen, ob wir bereit sind, einen kleinen Teil unserer persönlichen Freiheiten aufzugeben, um sicherzustellen, dass pädokriminelle Inhalte im Internet entdeckt und sexuell ausgebeutete Kinder geschützt werden."
Hier wird die Verantwortung an den Zuschauer abgegeben. Es wird der Eindruck erweckt, man sei an Missbrauch mitverantwortlich, wenn man seine persönlichen Nachrichten und Chatverläufe nicht offenlegen und durchsuchen lassen möchte. Zu diesem Zweck werden auch Missbrauchsopfer instrumentalisiert. An einer Stelle wird ein Video gezeigt, in welchem diese an Mark Zuckerberg appellieren, Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für Meta-Dienste wie WhatsApp oder Instagram zu deaktivieren. An einer Anderen bringt die belgische EU-Kommissarin Ylva Johansson Missbrauchsopfer ins EU-Palarment mit, um mit deren Unterstützung "ihre" Chatkontrolle durchzubringen. Dabei wird vergessen, dass (a) diese nicht automatisch für alle Missbrauchsopfer sprechen können und (b) auch Missbrauchsopfer nicht aufgrund ihrer Erfahrungen automatisch zu Experten für Kinderschutz werden, insbesondere bei einem Thema wie der Chatkontrolle, bei welchem auch ethische, rechtliche und nicht zuletzt technische Aspekte eine Rolle spielen.
Auch die technische Unwissenheit vieler Zuschauer wird ausgenutzt, indem die Chatkontrolle verharmlost und deren Umsetzung irreführend, bzw. unvollständig dargestellt wird. So erklärt der Technikleiter der Internet Watch Foundation England, Dan Sexton, dass bereits jetzt Technologien genutzt werden, welche die Privatsphäre nicht gefährden würden (gemeint ist die freiwillige Chatkontrolle) und befürwortet die Ausweitung dieser. Es gehe nicht darum, private Nachrichten zu lesen und Bilder anzuschauen. Dies würde ein Algorithmus erledigen, der automatisch über Bilder läuft und illegale Inhalte blockiert. Dies ist allerdings nur die halbe Wahrheit, da diese Technologie nur bereits bekanntes Material erkennen würde. Bei der Chatkontrolle ginge es darum, KI zu nutzen, die auch bisher unbekannte kinderpornografische Aufnahmen erkennen soll. Die falsch positive Fehlerquote wäre bei diesem Vorgehen allerdings bedeutend größer. Selbst die EU-Kommission schätzt, dass diese bei etwa 10% liegen dürfte, was bei der Masse an gesendeten Nachrichten effektiv dazu führen dürfte, dass Milliarden an Falschmeldungen an die einzelnen Polizeibehörden versendet würden. Zudem ließe sich die Suche nach Kinderpornografie extrem einfach auf andere Inhalte ausweiten (woran Europol und einige EU-Politiker bereits jetzt Interesse bekundet haben). Die Technologie bietet somit auch das Potenzial, unliebsame politische Meinungen auszufiltern und im schlimmsten Fall polizeilich zu verfolgen. Der Großteil der geteilten Kinderpornografie wird außerdem über das Darknet verbreitet und viele Täter wären somit kaum von der Chatkontrolle betroffen.
Wir haben nun also - wie zahllose echte Experten vor uns - festgestellt, dass die Chatkontrolle äußerst kritisch zu betrachten, ihr Beitrag zum Kinderschutz mindestens fraglich ist, sie maßivst in die Privatsphäre unbescholtener Bürger eingreifen würde und zudem ein großes Missbrauchspotenzial birgt. Wieso äußert sich ARTE also dann dermaßen unkritisch? Nur einmal kommt kurz eine Gegnerin der Chatkontrolle zu Wort, deren Argumente im Anschluss sofort scheinbar widerlegt und lächerlich gemacht werden. Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, müssen wir uns "Memento Distribution", die Produktionsfirma der Dokumentation etwas genauer ansehen. Auf deren Webseite findet sich nämlich der Hinweis "Co-funded by the European Union". Genauer gesagt kommen die Gelder, mit denen der Film finanziert wurde, von "Creative Europe Media", einem Projekt der EU-Kommission. Diese steht also in Wirklichkeit hinter dieser Dokumentation.
Nun stellt sich nur noch die Frage, welche Interessen die EU-Kommission verfolgt, wenn sie auf diese Weise versucht, die öffentliche Meinung bezüglich der Chatkontrolle zu manipulieren. Dank eines internationalen Rechercheteams wissen wir, dass hinter dem Vorschlag Lobbygruppen von US-amerikanischen KI-Startups stehen, deren Netzwerke bis in die höchsten Ränge der europäischen Politik gehen. Es ist in deren Interesse, dass die Chatkontrolle durchkommt, weil dies bedeutet, dass sich auf einmal ein neuer Milliardenmarkt für deren KI-Lösungen öffnet, die sie kommerziell anbieten. Diese Akteure haben einen sehr großen Einfluss, vor allem auf die EU-Kommission.
Im Grunde handelt es sich bei der vorliegenden Dokumentation also um einen mit Steuergeldern finanzierten 90-minütigen Werbefilm der EU-Kommission, der mithilfe von emotionalisierter Sprache und übertrieben hohen Zahlen eine Drohkulisse aufbaut, als deren einzige Lösung zum Schluss die Chatkontrolle präsentiert wird. Die Frage, ob sich ARTE seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist und dieser auch gerecht wird, kann vor diesem Hintergrund nur mit "Nein" beantwortet werden.