Ausnahmsweise gibt es diesmal etwas anderes von mir als einen rein persönlichen Text - eine Buchrezension. Genauer gesagt geht es um das Buch "Finnis Geheimnis", geschrieben von Caroline Link, mit Zeichnungen von Sabine Büchner, das ich hier gerne ein wenig vorstellen und analysieren möchte.
Es handelt sich um ein Buch, das Erziehungsberechtigten und Erziehern dabei helfen soll, das Thema sexueller Missbrauch den Kleinsten verständlich zu machen. Nun fragt ihr euch vielleicht, warum ausgerechnet eine pädophile Frau sich eines solchen Buches annimmt... Nun, weil ich dieses Buch für sehr wertvoll halte und auch ich möchte, dass Kinder ohne diese Erfahrung aufwachsen müssen - oder, in dem Fall, dass sie diese bereits machen mussten, zumindest in der Lage sind, dies zu erkennen und sich jemandem anvertrauen können.
Ich bin vor einigen Jahren eher zufällig in einem örtlichen Buchhandel auf dieses Buch gestoßen und bin wirklich erstaunt darüber gewesen, wie gut darin, im Gegensatz zu vielen anderen Büchern dieser Art, mit dem Thema Missbrauch umgegangen wird. Die Tatsache, dass die Charaktere als gezeichnete Tiere dargestellt werden, schafft einerseits ein wenig Abstand zu dem Kind, mit dem sich das Buch zusammen angeschaut wird und gleichzeitig können sich Kinder mit Tiercharakteren oft besser identifizieren. Der Zeichnstil ist kindlich, was dem düsteren Thema aber keinen Abbruch tut. Ich denke eher, es erleichtert den Einstieg.
Protagonist des Buches ist der Fuchs Finni, welcher mit seinen Eltern im Wald lebt und in den Waldkindergarten geht. Auch wenn Finni männlich ist, spielt das Geschlecht keine direkte Rolle für die Geschichte - er stellt ein typisches, durchschnittliches Kind dar, das neugierig und fröhlich ist, malt und bastelt und gern Zeit mit seinen Freunden verbringt, sodass sich wohl viele Kinder mit ihm identifizieren können, egal ob Junge oder Mädchen. Vielleicht ist es sogar ein Pluspunkt, dass Finni männlich ist, weil es gleichzeitig hervorhebt, dass auch Jungs Opfer sexueller Übergriffe sein können und somit eventuell die soziale Scham abgebaut wird.
Die Eltern sind offen und liebevoll zugewandt, also das was wohl im Allgemeinen als wünschenswerte, "normale" Eltern angesehen wird.
Frau Eule ist die Leiterin des Kindergartens und stellt eine außenstehende, jedoch pädagogisch einwirkende Person dar.
Der Täter ist, zugegeben etwas klischeehaft, der Wolf Wolfgang. Dieser ist nicht, wie so oft fälschlich angenommen wird, ein Fremder oder tritt merkwürdig oder aggressiv auf, im Gegenteil. Er ist ein guter Freund von Finnis Eltern und ist auch Finni gegenüber sehr freundlich zugewandt.
Dazu kommen ein paar andere Kindergartenkinder, wie z.B auch der beste Freund von Finni, der Hase, welche aber eher eine Nebenrolle haben.
Wolfgang verbringt gern Zeit mit Finni, schlägt sogar vor, ihm beim Bau eines Baumhauses zu unterstützen, was auch die Eltern freut. Er traut Finni Dinge zu, die ihm sonst keiner zutraut und sorgt damit dafür, dass Finni das Gefühl bekommt schon fast erwachsen zu sein. Die Beziehung zwischen den beiden ist also freundschaftlich, Finni mag Wolfgang und freut sich, wenn er zu Besuch kommt. Bis zu dem Zeitpunkt als Wolfgang beginnt sich Finni gegenüber übergriffig zu verhalten. Er betont wie lieb er ihn habe, küsst ihn gegen seinen Willen auf den Mund, setzt ihn sich auf den Schoß und streichelt ihn an Stellen, die Finni unangenehm sind. Es handelt sich hier also um niedrigschwellige Übergriffe, mit denen der Missbrauch oft beginnt, bevor er sich immer weiter steigert.
Interessant ist hierbei, dass Wolfgang damit wohl einen klassischen pädophilen Täter darstellt und keinen Ersatzhandlungstäter. Das ist deshalb so interessant, weil es einen für viele Menschen eher ungewöhnlichen Gedanken aufbringt, nämlich den, dass Übergriffe durch nahestehende Bezugspersonen und auch ohne physische Gewalt erfolgen können. Wenn ein Außenstehender ein Kind völlig aus dem Nichts in eine Ecke zieht und vergewaltigt, ist das etwas eindeutiges. Jedem ist dabei klar, dass es sich um Missbrauch handelt - bei "zärtlichen" Übergriffen, die durch enge Vertraute des Kindes begangen werden, ist dies nicht immer gleich als ein solcher erkennbar. Auch ist Wolfgang nicht das Schreckgespenst ("Böser Wolf") schlechthin, sondern innerhalb dieser fiktiven Welt ein gewöhnlicher Waldbewohner, wie alle Tiere in dem Buch. Die Tierart wirkt nebensächlich und enthält keine Implikation, dass Wölfe grundsätzlich gefährlich wären, dennoch wäre es aus meiner Sicht gut gewesen, ein anderes Tier, vielleicht sogar ein "Beutetier" als Täterfigur zu nutzen um bestehende Klischees nicht indirekt zu unterstützen.
Die Beziehungsebene und die Beiläufigkeit der Übergriffe die, teils direkt, teils bloß angedeutet, beschrieben werden, lenken die Aufmerksamkeit darauf, auch kleinere Grenzüberschreitungen als solche zu erkennen und benennen zu können. Finni scheint dies im Ansatz bereits von seinen Eltern mitbekommen zu haben, denn er kann Wolfgang klar sagen, dass er all das nicht möchte, was diesen jedoch nicht davon abhält, damit fortzufahren. Er setzt Finni unter Druck den Missbrauch geheimzuhalten, indem er ihm sagt, seine Eltern würden traurig werden, wenn sie davon wüssten, außerdem würde er das Baumhaus nicht mehr mit ihm weiterbauen. Finni zieht sich daraufhin immer mehr zurück, mag nicht mehr essen oder spielen.
Das Buch verwendet keinerlei stigmatisierende Sprache, es wird sich darauf konzentriert beim Thema zu bleiben und Kindern verständlich diese "unangenehme" Ebene zu verdeutlichen. Finni wird hierzu verängstigt, traurig und mit Bauchschmerzen dargestellt. Die Übergriffe durch Wolfgang häufen sich schließlich, er kommt sogar nachts in sein Zimmer und fasst ihn an, wenn die Eltern abends ausgehen. Er sieht überall gruseligen Schatten und träumt von den rauen Pfoten die ihn ständig anfassen und erschrickt beim kleinsten Geräusch. Auf vielen der Seiten sind kleine, fast unauffällige Details versteckt, wie z.B eine kleine Puppe in Wolfsform, die Finni an seinen Bettpfosten gebunden hat oder Zeichnungen, auf denen ihm selbst der Mund zugeklebt ist - wahrscheinlich um stumm auszudrücken, wie es ihm geht, so wie das auch viele Kinder, die Missbrauch erleben mussten, tun. Seinem besten Freund fällt die betrübte Stimmung von Finni auf und er fragt ihn geradeheraus ob "ihm etwas doofes passiert" sei, was Finni jedoch verneint. Es wird deutlich gemacht, dass es Finni schwerfällt über das Erlebte zu sprechen und er sich schämt und ängstigt.
Auch Frau Eule fällt Finnis Zustand auf und sie erzählt dem Fuchs schließlich eine Geschichte. Sie handelt von einem Menschenkind, das ein Geheimnis mit sich herumträgt, welches ihm Bauchschmerzen macht. Als Analogie wird dafür eine stachelige Pflanze im Bauch beschrieben, die immer weiter wächst, solange es keinem erzählt wird und somit die Bauchschmerzen verursacht und verschlimmert. Der Sinn ist selbstverständlich, das Kind, mit dem sich das Buch gemeinsam angeschaut wird, zum Nachdenken anzuregen und ihm den Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen zu vermitteln - also jenen, die einem Bauchschmerzen verursachen und jenen, die Freude machen. Die schlechten sollte man unbedingt weitererzählen, damit die Bauchschmerzen nachlassen, die guten darf man für sich behalten. Das gibt dem Kind die Möglichkeit selbst einzuschätzen, was davon auf die eigenen Geheimnisse zutrifft. Eine gute und leicht verständliche Faustregel sozusagen und gleichzeitig erweckt diese nicht den Eindruck, man müsse seinen Eltern absolut alles erzählen, sondern sagt klar aus, auch Kinder dürfen Geheimnisse haben.
Letztlich endet das Buch damit, dass Finni trotz seiner Angst zuerst Frau Eule von seinem Geheimnis erzählt und später zusammen mit Frau Eule auch den Eltern. Sowohl Frau Eule als auch seine Eltern loben ihn dafür, dass er ihnen erzählt hat, was los ist, betonen, dass das, was Wolfgang mit ihm gemacht hat, falsch war und versprechen Finni, dass Wolfgang nie mehr zu Besuch kommt. Es wird nicht geschrien und keine Gefühle von Rache oder Bestrafung hineingebracht. Auch das finde ich gut gelöst. Es wird nicht darauf herumgeritten, dass Wolfgang "der Böse" ist, ob und wenn ja, wie er bestraft wird, sondern der Fokus liegt auf Finni und darauf, dass dieser wieder aufatmen kann - so wie es auch im echten Leben sein sollte. Das sind schließlich nicht die Themen, mit denen sich das Kind beschäftigen muss, sondern das Umfeld.
Auch gut finde ich, dass es sich bei Frau Eule um eine außenstehende Person handelt, somit schließt es auch Eltern oder andere nahe Vertraute nicht als Täter aus und schafft mehr Gefühl dafür, dass die Beziehung keine Rolle dabei spielt, wer eine Vertrauensperson sein kann und wer nicht. Es schärft den Sinn dafür, auf seine eigenen Gefühle zu achten.
Stellenweise könnte das Buch etwas beängstigend für Kinder sein, je nach Charakter, Alter und Erfahrungen des Kindes, aber alles in Allem wurde hier meiner Ansicht nach sowohl inhaltlich, als auch von den Illustrationen her, sensibel und verantwortungsvoll mit dem Thema Missbrauch umgegangen. Ich kann daher dieses Buch nur wärmstens empfehlen, wenn man ein solches Thema mit jüngeren Kindern besprechen möchte.