Kopfplatzen ist ein Film von Savaş Ceviz mit Max Riemelt in der Hauptrolle, der seit Anfang April online streambar ist. Der Film zeichnet die Geschichte von Markus, einem 29-jährigen Architekten mit pädophilen Neigungen, dessen Fähigkeiten zur Selbstkontrolle auf eine harte Probe gestellt werden, als in eine Wohnung nebenan die alleinerziehende Mutter Jessica mit ihren achtjährigen Sohn einzieht.
Ruby, jochen und David haben bereits ausführliche Kritiken zu dem Film veröffentlicht, die ich im Großen und Ganzen nur unterschreiben kann, und in meiner Sonntagskiste #26 habe ich mich ein wenig mit dem Medienecho beschäftigt, das der Film ausgelöst hat. In diesen Beitrag möchte ich mich dem Film aus einer etwas anderen Perspektive nähern und genauer die einzelnen Charaktere, ihre Beziehungen und Rollen innerhalb des Films untersuchen.
Markus
Markus (gespielt von Max Riemelt), ist vor allem eins: schweigsam. Auf dem ersten Blick entspricht er so gar nicht dem üblichen Stereotypen eines Pädophilen: er ist attraktiv, hilfsbereit, beliebt und arbeitet als Architekt in einem gesellschaftlich angesehenen Beruf.
Den stereotypischen Pädophilen finden wir zwar nicht im Äußeren, dafür aber im Innenleben von Markus. Der Film offenbart Markus' pädophile Neigungen schon recht früh, und die ganze Geschichte über plagt sich Markus damit, ohne so wirklich zu einer Lösung zu finden. Er ist innerlich zerrissen und im ständigen Konflikt zwischen seinen sexuellen Trieben und seinen moralischen Ansprüchen, fotografiert heimlich Kinder und folgt ihnen auf den Weg nach Hause, aber findet im letzten Moment doch immer noch den Absprung, bevor er tatsächlich einen Missbrauch begeht. Er will seine Pädophilie loswerden und verzweifelt daran, dass dies nicht möglich ist. Seine Neigungen belasten ihn derart, dass er noch nicht einmal die Geburtstagsfeier seines kleinen Neffen ertragen kann, ohne sich zwischenzeitlich emotional komplett aufgelöst und überfordert auf die Toilette zu entschuldigen.
Außerhalb seiner Pädophilie scheint Markus kaum eine Persönlichkeit zu besitzen. Er lebt zurückgezogen, hat kaum soziale Kontakte, keine Freunde, und nur sehr oberflächlichen Kontakt zu seiner Familie. Einen wirklichen Grund gibt es dafür nicht, da er keine sozialen Ängste zu haben scheint, und trotz seines abweisenden und kalten Verhaltens anderen gegenüber sehr beliebt ist. Er scheint einfach kein wirkliches Interesse an Freundschaften oder sozialen Kontakten zu besitzen, und verbringt seine Zeit lieber alleine um sich mit seiner Kamera an Kinder heranzupirschen oder Filme mit Kindern von seinem Fernseher aus abzufotografieren.1 Zwar betreibt er Kampfsport als Hobby, aber scheint dies nur zu tun, um ein Ventil zu haben, über das er seine angestauten Energien abbauen kann. Und wenn er in seiner Freizeit mal ins Schwimmbad geht, dann nur um dort Bilder von halbnackten Jungen machen zu können. Alles, was Markus ausmacht, scheint letzten Endes auf seine Sexualität zurückzuführen, es gibt kaum etwas, was ihn als vollwertigen Menschen und nicht nur als Pädophilen auszeichnet, selbst grundlegende menschliche Bedürfnisse nach sozialer Einbindung berühren ihn kaum.
Markus' Sexualtrieb scheint ihn zu jeder Zeit fast zu übermannen, und der Film stellt mit einem gehörigen Mangel an Subtilität sicher, dass der Zuschauer dies auch mitbekommt. Regelmäßige Szenen, die Markus bei der Selbstbefriedigung zeigen, verdeutlichen unter welch großen Druck Markus steht. Besonders beklemmend sind die Szenen, in denen der Film uns die Welt direkt so zeigt, wie Markus sie sieht: dann fährt die Kamera langsam und unangenehm nahe über die nackte Haut von Jungen, die sich in der Nähe befinden. Auch hier bedient der Film Klischees und Vorurteile darüber, wie Pädophile Kinder sehen, nämlich nur als Objekte ihrer sexuellen Begierde.
Im Laufe des Films baut Markus eine Freundschaft zu Arthur auf, einem 8-jährigen Jungen. Aber auch diese Freundschaft bietet Markus keinen Ausweg aus seiner triebhaften Obsession, sondern treibt diese eher auf die Spitze, und in mehreren Szenen sehen wir wie er damit hadert, Arthur nicht an unangemessenen Stellen anzufassen. Mehrfach verliert sich Markus in seinen Impulsen, etwa wenn er den halbnackten Arthur ausführlich aus mehreren Perspektiven fotografiert, oder langsam und zärtlich seinen nackten Oberkörper unter der Dusche einseift, und kommt erst dann wieder zur Besinnung, wenn er sich selber durch die Augen anderer sieht.
Damit kann man durchaus sagen, dass Markus eine "tickende Zeitbombe" ist, also doch der stereotypischen Vorstellung eines pädophilen Menschen entspricht. Den ganzen Film über schlittert er mehrmals haarscharf an einem Übergriff vorbei, wechselt zwischen triebhafter Obsession und verzweifelter Scham. Zwar bricht der Film zwar ein Stück weit mit dem Klischee, indem Markus weder in der Vergangenheit noch während der Geschichte einen Übergriff begeht, aber die Möglichkeit eines zukünftigen Missbrauchs wird am Ende immer noch offen gelassen und ist eine durchaus plausible Möglichkeit dafür, wie es mit Markus in der Zukunft weitergeht.
Insgesamt malt der Film ein äußerst negatives Bild für Markus. Den ganzen Film über verzweifelt er an seiner Neigung, und schafft es bis zum Schluss nicht wirklich, diese zu akzeptieren. Auch diejenigen, die von seiner Neigung erfahren, akzeptieren ihn nicht. Es gibt keine Perspektiven für ihn, keine Unterstützung durch Andere, und letzten Endes keine Zukunft. Im Wesentlichen gibt es für Markus zum Schluss nur zwei mögliche Wege: Missbrauch, oder Suizid.
Für mich ist das leider eine große vergebene Chance, denn meiner Ansicht nach ist das Bild des Films unnötig negativ. Die Verzweiflung und innere Zerrissenheit, die Markus umtreibt, ist zwar durchaus etwas, das viele pädophile Menschen in ihrer Lebensgeschichte auch erfahren müssen. Aber dadurch, dass der Film keine möglichen Wege da heraus andeutet, wirkt diese Verzweiflung wie etwas Absolutes, was der Pädophilie inhärent ist. Des Weiteren ist der ständige Fokus auf die sexuelle Triebhaftigkeit, die Markus umtreibt, unnötig präsent. Es wird der Eindruck erweckt, als könne man als pädophiler Mensch Kinder nur als Objekte der eigenen sexuellen Begierde wahrnehmen. Während sich diese Begierde bei Markus noch zu steigern scheint, während er den privaten Kontakt zu Arthur aufbaut, ist es meiner Erfahrung nach (und der Erfahrung vieler anderer auch) eher so, dass im privaten Kontakt zu Kindern das Sexuelle in den Hintergrund rückt.
Sexualität und sexuelles Verlangen äußert sich bei pädophilen Menschen grundsätzlich nicht anders, als bei Hetero- oder Homosexuellen auch. Die Beschreibung von Markus, dass sich seine Pädophilie wie eine "Stimme im Kopf" äußert, die ihn dazu auffordert ein Kind zu missbrauchen wirkt vor allem realitätsfremd und unfreiwillig komisch, und lässt womöglich eher auf eine Psychose schließen. Es sind solche Szenen, die schmerzhaft deutlich machen, dass die Macher im Vorfeld nicht wirklich mit einem pädophilen Menschen gesprochen haben, bevor sie den Film produziert haben.
Jessica
Jessica ist die alleinerziehende Mutter von Arthur, die neu in Markus' Wohnungsblock einzieht. Arthurs Vater wiederum ist schon seit Jahren nicht mehr in ihren Leben. Jessica ist wahrscheinlich die Figur, mit der sich die meisten Zuschauer am ehesten identifizieren können, und sie spricht eine Urangst an, die viele Eltern haben: was, wenn ich mein Kind unwissentlich einen Pädophilen anvertraue? Sich ihren Charakter näher anzuschauen ist damit besonders interessant, da man hier am ehesten eine Botschaft finden kann, wie man mit pädophilen Menschen umgehen sollte.
Es dauert nicht lange, bis Jessica sich in Markus verliebt. Was sie an ihm findet, ist nicht ganz klar2, da von ihm absolut nichts zurückkommt und er kein wirkliches Interesse an ihr zeigt. Tatsächlich wechselt er den ganzen Film über kaum ein Wort mit ihr. Dadurch wirkt ihre Beziehung auf mich nicht gerade realistisch, sondern eher unnatürlich und durch die Handlung erzwungen. Die Beziehung findet irgendwie ihren Anfang, weil das Filmskript dies verlangt, und danach bleibt Markus bei ihr, weil er Angst hat den Kontakt zu Arthur zu verlieren, wenn er die Beziehung zu Jessica beendet. Ähnlich wie Humbert Humbert aus dem Roman Lolita erträgt Markus also eine für ihn absolut uninteressante Beziehung zu einer erwachsenen alleinerziehenden Frau, weil er eigentlich Interesse an ihrem Kind hat, nur dass Humberts manipulative Gerissenheit durch eine Art eingeengte Passivität ersetzt wird, mit der Markus es dennoch irgendwie schafft Jessica für sich zu gewinnen.
Gegen Ende des Films hin erfährt Jessica von Markus' pädophilen Neigungen. Sie verlässt ihn, zieht um, unterbricht den Kontakt zwischen ihm und Arthur und informiert darüber hinaus auch noch das gesamte soziale Umfeld von Markus über dessen Pädophilie, was auch den letzten Rest seiner sozialen Kontakte auseinanderbrechen lässt. Eine interessante und zentrale Frage, die sich hier stellt, ist: war diese Reaktion richtig und angemessen, oder hysterisch und überzogen?
Der Film selber beantwortet diese Frage nicht direkt, und es sind hier mehrere Interpretationen möglich. Auf den ersten Blick scheint es die richtige Entscheidung zu sein. Den ganzen Film über sehen wir, wie Markus mit sich hadert und mehrfach kurz vor einem Übergriff steht. Als Zuschauer wollen wir Arthur in Sicherheit vor den Trieben von Markus sehen, die ständig kurz vor dem Überlaufen zu stehen scheinen, und atmen erleichtert auf wenn Jessica die Distanz herstellt, um Arthur vor Markus zu "retten".
Doch ist es wirklich so einfach? Nach Markus' gescheiterten Suizidversuch sehen wir, dass er Arthur zufällig noch einmal trifft. Und Arthur macht Markus ein verlockendes Angebot: dass sie sich heimlich treffen, ohne dass seine Mutter davon erfahren muss. Nach all dem, was wir bereits gesehen haben, ist es klar, dass so ein Treffen zu zweit höchst gefährlich sein muss. Ohne Jessica als "Kontrollinstanz", und nachdem sein Geheimnis zwangsweise schon ans Licht gezwungen wurde, fallen zwei wichtige Barrieren weg, die ihn in der Vergangenheit vor einem Übergriff bewahrt haben.
Wie würde es aber aussehen, wenn Jessica nicht so radikal den Kontakt zu Markus abgebrochen hätte und ihm weiterhin Kontakt zu Arthur erlauben würde, vielleicht erst einmal nur in ihrer Anwesenheit? Könnte das nicht sogar eine Perspektive für Markus sein, um zu lernen mit Kindern umzugehen, ohne dabei von seinen Trieben zerfressen zu werden? Hätte sie ihm nicht damit helfen können, das Schöne an dem Kontakt zu Arthur zu sehen, ohne dieses immer wieder auf das Sexuelle zu reduzieren?
Auf jeden Fall hätte Arthur nicht das Angebot an Markus machen können, sich heimlich ohne Wissen von Jessica zu treffen. Und damit wäre die große Versuchung, die Markus am Ende des Films heimsucht und ihn in erneute innere Konflikte stürzt, nicht möglich gewesen. Die gleiche Ambivalenz gibt es auch bei ihrer Entscheidung, Markus vor seiner Familie zu outen. Auf den ersten Blick "rettet" das Markus' Neffen davor, eventuell zu seinem Opfer zu werden, aber es raubt Markus auch das letzte bisschen Unterstützung, das er durch seine Familie womöglich hätte erfahren können.
Jessicas Reaktionen sind also erst einmal verständlich, vor allem wenn man bedenkt, dass sie von Markus' Neigungen auf denkbar ungünstige Art erfährt, als sie einen Schrank voller Schwimmbad-Bilder von Jungs in seiner Wohnung findet, unter denen sich auch Bilder ihres Sohnes befinden, der gerade mit Markus in der Badewanne sitzt. Aber eine besonnenere Reaktion wäre wahrscheinlich die einzige Chance gewesen, die Markus auf ein Happy Ending gehabt hätte, und die einzige Möglichkeit, wie er vielleicht hätte lernen können, besser mit seiner Neigung zu leben. Durch ihre Reaktionen hat sie nur seine schlimmsten Ängste bestätigt, und ihn indirekt weiterer Versuchung ausgesetzt. Gerade durch ihre Bemühungen, Arthur zu schützen, hat sie ihn vielleicht überhaupt erst einer weiteren Gefahr ausgesetzt.
Leider bezweifel ich allerdings, dass diese Sichtweise beim Zuschauer so ankommen wird. Zu viele Szenen vorher, in denen Markus kurz vor dem Übergriff oder in triebhafter Obsession gezeigt werden lassen nur den Schluss übrig, dass der Kontaktabbruch der einzig richtige Schritt ist, und zwischen Arthur und Markus vor allem eines herrschen muss: Distanz.
Arthur
Arthur ist acht Jahre alt und tritt in Markus' Leben, als er mit seiner Mutter in die Wohnung nebenan einzieht. Obwohl Markus in den ersten Szenen mit Arthur steif, überwältigt und verängstigt wirkt, fasst Arthur ihn sehr schnell ins Herz und möchte mehr Zeit mit ihm verbringen. In seiner kindlichen-naiven Unwissenheit reizt er dabei immer wieder ungeahnt die Grenzen von Markus aus, und stürzt ihn fast schon wie in einer Art Sitcom von einer misslichen Lage, die ihn an den Rand seiner Selbstbeherrschung bringt in die nächste. Das ganze kulminiert in einer Szene, in welcher er Markus anfeuert mit ihm ins Bad zu steigen, und laut aufjubelt als dieser nach anfänglichen Zögern endlich seine Unterhose fallen lässt, was zumindest für mich eher unfreiwillig komisch war.
Auch hier ist nicht ganz klar, wie sich diese intensive Freundschaft zwischen den beiden überhaupt entwickelt. Arthur hat zwar keinen Vater, und es ist offensichtlich, dass er genauso verzweifelt nach einer männlichen Vorbildfigur sucht, wie Jessica verzweifelt nach einem Partner sucht. Und Markus zeigt durchaus mehr Interesse an Arthur als an Jessica, aber dennoch verhält er sich recht abweisend ihm gegenüber. Auch hier wirkt es so, als ob sich die Freundschaft zwischen ihnen nicht natürlich entwickelt, sondern weil es das Skript so vorgibt, dass Arthur als "große Versuchung" die wesentlichen Konflikte in Markus anstößt und damit die Handlung vorantreibt. Entsprechend werden wir auch nicht Zeuge davon, wie sich diese Freundschaft langsam aufbaut, sondern werden mitten in ihre Beziehung reingeworfen, als diese schon vollständig etabliert ist.
Den ganzen Film über schwebt Arthur in Gefahr von Markus missbraucht zu werden, während dieser mit ihm von einer erregenden Situation in die nächste schlittert. Die Grundfrage, ob Markus Arthur missbrauchen wird, ist das wesentliche Element, mit dem der Film Spannung aufbaut. Und so ist es in erster Linie eine Erleichterung, dass Arthur von Markus getrennt wird. Aber in der letzten Szene, in der wir Arthur sehen, bietet er von sich aus an, sich heimlich weiterhin mit Markus zu treffen. Daraus lässt sich etwas Wesentliches schließen: Arthur braucht Markus. Er ist zu einer wichtigen Bezugsperson für ihn geworden, die mit ihm Aktivitäten unternimmt, die seine Mutter wahrscheinlich eher nicht mit ihm macht. Und Arthur bewertet die Freundschaft zu Markus insgesamt offenbar als positiv. Er ist nicht erleichtert darüber, endlich von Markus getrennt zu sein und nicht mehr mit ihm zusammen sein zu müssen, sondern vor allem enttäuscht und verletzt.
Das wiederum stellt Jessicas Entscheidung, den Kontakt zu Markus so radikal abzubrechen, nochmal infrage. Nicht nur, dass sie paradoxerweise Arthur dadurch womöglich umso größerer Gefahr aussetzt, sie verletzt ihn auch noch ganz direkt, da sie Arthur eine wichtige Bezugsperson nimmt. Aber auch hier habe ich meine Zweifel, dass dies die meisten Zuschauer auch so sehen werden und nicht eher die Erleichterung darüber überwiegt, dass Arthur von dem offenbar gefährlichen Markus getrennt wurde.
Dr. Jawad
Dr. Jawad ist der Therapeut, den Markus im Laufe der Geschichte aufsucht in der Hoffnung, mit seiner Hilfe von seiner Pädophilie geheilt zu werden. Markus wird auf Dr. Jawad aufmerksam, weil dieser sein Therapieangebot in einer Zeitung mit einem ähnlichen Motto bewirbt, mit dem das real existierende Therapieprojekt "Kein Täter Werden" sein Angebot in Werbespots auch bewirbt. Dr. Jawad steht damit in der Geschichte offensichtlich als stellvertretend für KTW und ähnliche Therapieangebote, die sich an pädophile Menschen richten, auch wenn er nicht direkt als KTW-Therapeut eingeführt wird.
Um eines deutlich zu sagen: Dr. Jawad ist kein guter Therapeut.
Er äußert kein Wort des Mitgefühls an Markus, und scheint gleichgültig oder sogar leicht genervt von dessen Anwesenheit zu sein. Er geht nicht wirklich auf dessen Sorgen und Ängste ein und bietet ihm keine Perspektiven an. Nahezu ungerührt reagiert er auf Markus' emotionale Ausbrüche, die aus seinem zerrissenen Geisteszustand resultieren. Anstatt auf die Fragen und Kommentare von Markus einzugehen und mit ihm gemeinsam seine Gefühle und Gedanken zu bewältigen, stellt er absolute Forderungen an ihn und verschreibt ihm triebdämpfende Medikamente, ohne nachzufragen, ob Markus das überhaupt möchte.
Diese Art des Umgangs ist im besten Fall unempathisch und inkompetent, im schlimmsten Fall grob fahrlässig. Medikamente zu verschreiben, ohne Markus vorher über die Wirkungen und Nebenwirkungen aufzuklären3 oder ihn überhaupt erst einmal näher kennenzulernen um besser abschätzen zu können, ob Medikamente überhaupt sinnvoll und notwendig sind, ist ein absolutes No-Go. Das Gleiche gilt auch dafür, Markus vor die absolute Unveränderbarkeit seiner sexuellen Präferenzen zu stellen, ohne ihn dabei zu unterstützen, dies zu verarbeiten und die Wucht dieser Erkenntnis aufzufangen. Markus ist während des Gesprächs offenbar zutiefst aufgewühlt, und der Therapeut entlässt ihn einfach ohne weitere Unterstützung zu geben oder wenigstens abzuklären, ob er suizidale Gedanken hat. Es hat den Anschein, als sei Dr. Jawad das Schicksal von Markus komplett egal.
Mir kommt es so vor, als sei der Therapeut nicht wirklich ein organischer Charakter innerhalb der Geschichte, sondern ein konstruiertes Sprachrohr für das Publikum – jemand der Markus das sagt, was der Zuschauer ihm vermutlich sagen möchte: du musst dich von allem Illegalen trennen, steig aus dem Bus sobald Kinder dort einsteigen, lass dich kastrieren, und du musst einfach akzeptieren, dass sich die Neigung nicht ändern lässt. Wie, du kommst damit nicht klar und der Gedanke, bis zum Lebensende damit umgehen zu müssen macht dich innerlich fertig? Tja, so ist das halt. Pech gehabt, nicht mein Problem.
In der Figur des Therapeuten offenbart sich die Hilflosigkeit, mit der sich der Film dem Thema Pädophilie nähert. Zwar werden einige Fragen und Probleme aufgeworfen, aber bis auf Medikation werden keine möglichen Lösungsansätze auch nur angedeutet. Dr. Jawad ist in der Geschichte gewissermaßen die höchste Autorität zum Thema Pädophilie, und selbst er kann Markus nur vor endgültige Forderungen stellen, aber keine Wege anbieten, die Markus zu diesem Ziel führen könnten. Am Rande der Verzweiflung fragt Markus, wie er es schaffen soll ein Leben lang seine Sexualität nicht ausleben zu können. Eine Antwort darauf kann Dr. Jawad ihm natürlich nicht geben, bis auf: "es ist nun einmal Ihr Schicksal".
Eine allgemeine Notiz zu den Charakteren in Kopfplatzen
Ich hatte beim Ansehen des Films leider einige ziemlich große Probleme mit den Charakteren der Geschichte. Alle wirkten für mich irgendwie unnatürlich. Die Dialoge sind starr und unangenehm. Sympathien zwischen den Charakteren bestehen, weil die Handlung dies erfordert, aber ich hatte nie den Eindruck, dass wirklich eine Chemie zwischen ihnen existiert. Viele Situationen sind einfach da, ohne dass erklärt wird, wie diese entstanden sind. Markus spielt plötzlich Fußball mit Arthur oder liegt in den Armen von Jessica, ohne dass wirklich klar ist, wie diese Beziehungen sich trotz des sehr distanzierten und kühlen Auftretens von Markus überhaupt so vertiefen konnten.
Fast alle Charaktere haben ambivalente Rollen und lassen sich auf mindestens zwei Arten verstehen. Markus ist entweder eine triebgesteuerte Zeitbombe, oder ein zurückgezogener Außenseiter der aufgrund seiner gesellschaftlichen Isolation sich selber in Gedankenspiralen verrennt, die ihn innerlich zerstören. Jessica ist entweder eine leicht überforderte Mutter, die ihren Sohn aber konsequent vor Schaden beschützen kann, oder aber naiv und hysterisch mit einem Hang zur Überreaktion. Und den Therapeuten kann man als unempathischen Holzklotz sehen, oder als jemanden der harte aber notwendige Wahrheiten ausspricht. Die gleiche Doppeldeutigkeit kann man auch in den Beziehungen zwischen den Charakteren finden. Ist die Beziehung zwischen Jessica und Markus ein ernsthafter Versuch von Markus, eine Partnerschaft zu führen, eine berechnend subtile Manipulation von ihm oder einfach nur Schockstarre und Überforderung? Führt er eine echte, tiefe Freundschaft zu Arthur oder ist es eine dysfunktionale Beziehung, die auf der verzweifelten Suche Arthurs nach einer Vaterfigur gründet?
Die Art, wie man die Charaktere und deren Rollen interpretiert, sagt also eine Menge über die eigene Haltung zum Thema Pädophilie aus. Aber auch hier habe ich leider das Gefühl, dass diese Mehrdeutigkeit nicht in letzter Konsequenz umgesetzt wurde. Die zahlreichen Szenen, in denen wir Markus kurz vor einem Übergriff, bei der Masturbation oder beim Begaffen von Kindern sehen machen es schwer, in ihm – und damit stellvertretend auch in allen Pädophilen – nicht eine Gefahr zu sehen. Mein abschließender Eindruck ist es, dass der Film im Kern die Saat für verschiedene Interpretationen und Sichtweisen liefert und damit durchaus zum Nachdenken anregen kann, aber diese spannende Ambivalenz aus einer massiven Angst vor einer wie auch immer gearteten "Verharmlosung" des Themas zum großen Teil geopfert hat.
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Es sind Szenen wie diese, welche mich immer wieder aus der Handlung gerissen haben, weil sie einfach absurd unrealistisch sind. In keinem Schwimmbad würde es toleriert werden, wenn jemand mit einer großen Kamera halbwegs offen anfangen würde, die Badegäste zu fotografieren, aber abgesehen von einer verwunderten Nachfrage erntet Markus keine Reaktionen. Genauso wenig realistisch ist es, dass Markus mit einer sehr auffälligen Kamera seine Bilder macht und diese selber in einem eigenen Fotolabor entwickelt, anstatt einfach eine Handykamera zu benutzen. ↩
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Sexuelle Frustration mag ein hinreichender Grund für ein One-Night-Stand trotz fehlendem sexuellen Interesse seitens Markus sein, kann aber kaum die Basis für eine umfängliche Partnerschaft sein. ↩
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Mir ist klar, dass eine ausführliche Aufklärung über die Medikamente für den Zuschauer stinklangweilig wäre. Aber ich hätte mir gewünscht, dass zumindest angedeutet wird, dass eine solche Aufklärung stattgefunden hat. Und wenn Dr. Jawad Markus einfach ein paar Info-Zettel in die Hand gedrückt hätte. ↩