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„Wir bedauern das sehr“

Von Sirius

Inhaltshinweis: in diesem Beitrag geht es um Suizid. Anlaufstellen für Betroffene in suizidalen Krisen sind auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention gelistet. Mitarbeitende von Anlaufstellen sind nicht unbedingt zum Thema Pädophilie informiert und haben möglicherweise selber stigmatisierende Vorurteile verinnerlicht. Einen Platz zum Reden für Pädophile gibt es im Selbsthilfechat Die P-Punkte.

And all the people said
"What a shame that he's dead
But wasn't he a most peculiar man?"

- Simon and Garfunkel, A Most Peculiar Man

„Wir bedauern das sehr“. Dieser Satz fiel in einem vor kurzem im Tagesspiegel erschienen Interview (Paywall) mit Prof. Klaus Beier, dem Chef der Sexualmedizin und Leiter des Projekts „Kein Täter Werden“ an der Charité in Berlin. Das, was Beier so bedauerlich findet: dass sich zwei seiner Patienten das Leben genommen haben, während sie bei seiner Anlaufstelle in Behandlung waren. Nach einem kurzen Moment halbherziger Selbstreflexion („wir haben uns gefragt, wo wir möglicherweise nicht aufmerksam genug gewesen sein könnten“) kommt Beier aber schnell zu dem Schluss, selber nichts falsch gemacht zu haben: „Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das [mit Pädophilie leben] nicht jeder schafft […] wenn ich Chirurg geworden wäre, hätte ich aber auch nicht jeden Menschen retten können.“ Frei nach dem Motto „ein bisschen Verlust ist immer“ hört man das gleichgültige Schulterzucken fast schon mitschwingen.

Obwohl ich von Beier, der die letzten Jahre Pädophilie öfter mal mit einem gefährlichen Virus vergleicht und sich erst vor kurzem für dystopische Überwachungsfantasien einsetzte inzwischen nichts Gutes mehr erwarte, hat mich dieser Mangel an Empathie und Mitgefühl für die Menschen, für die er schließlich therapeutische Unterstützung anbietet, ziemlich schockiert und mit einem sehr ekeligen Gefühl zurückgelassen. Unter anderem hat es mich auch an meine eigene Vergangenheit erinnert. Vor vielen Jahren, als ich selbst Klient bei KTW war (wenn auch nicht bei Beier in Berlin), stand ich auch an einem Punkt, an dem der selbstgewählte Tod wie der einzige verheißungsvolle Ausweg aus einem Leben schien, an dem nichts mehr wirklich lebenswert war. Hätte ich nicht Ruby genau dann kennengelernt, hätte ich vielleicht auch zu den Patienten gehört, die es in Beiers Worten „nicht geschafft“ hätten. Die Unterstützung bei KTW während dieser Zeit war wiederum eher so mittelmäßig: auf der einen Seite haben sich die Therapeutinnen durchaus Zeit genommen und zusätzliche Termine angeboten, aber gleichzeitig wurde auch versucht, mir unter dem Deckmantel einer Antidepressiva-Behandlung triebdämpfende Medikamente unterzujubeln.

Mit meiner Erfahrung bin ich nicht alleine. Suizidalität unter pädophilen Menschen ist ein äußerst drängendes Problem: In einer Online-Umfrage gaben fast 40 % aller befragten Pädophilen an, regelmäßig suizidale Gedanken zu haben. Eine Umfrage der US-Organisation B4U-Act ergab ähnlich erschreckende Zahlen, auch wenn es um konkrete Suizidversuche geht. Insgesamt ist Suizidalität unter pädophilen Menschen massiv gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht, wobei insbesondere Jugendliche, die ihre pädophile Sexualität gerade erst entdecken, besonders vulnerabel sind. Gleichzeitig führt das hohe gesellschaftliche Stigma dazu, dass Suizidalität pädophiler Menschen gar nicht erst als Problem erkannt wird und es dementsprechend fast keine Hilfsangebote und kaum Daten dazu gibt.

Ich erwarte ja gar nicht, dass Beier schlaflose Nächte bekommt, in eine berufliche Krise fällt oder selber Depressionen bekommt, weil einige seiner Klienten Suizid begangen haben. Aber ein Grundmaß an Mitgefühl, und Achtsamkeit für das immense Ausmaß dieses Problems, sollte für den Kopf des weltweit größten Therapienetzwerkes für Pädophile doch nicht zu viel verlangt sein. Stattdessen verliert Beier in dem ganzen Interview gerade einmal drei Sätze zu dem Thema, und mehr als ein „bedauern“ kommt dabei von ihm nicht. Bedauerlich ist es, wenn ich meinen Zug verpasse und eine Stunde auf den nächsten warten muss; wenn ein Mensch keinen Ausweg mehr sieht und sich aus Verzweifelung das Leben nimmt, ist das eine verdammte Tragödie.

Anstatt sich dem Thema angemessen zu gewinnen, weist Beier die Verantwortung für die Tode den Betroffenen zu, indem er sagt, dass seine verstorbenen Klienten es halt einfach „nicht geschafft“ hätten. Damit macht er die Pädophilie zur Ursache der Todesfälle, und zeichnet sie als eine Krankheit, die in einigen Fällen halt tödlich enden kann. Aus gesellschaftlicher Sicht ist dies eine sehr angenehme Sichtweise, wenn Suizide pädophiler Menschen als eine Folge ihrer als krankhaft gesehenen Pädophilie interpretiert wird, und keineswegs etwa als etwas, woran die Gesellschaft als Ganzes eine Teilverantwortung trägt. Unter den Tisch fällt dabei, dass ein Großteil der mit der Pädophilie einhergehenden Belastungen keineswegs naturgegeben sind, sondern menschengemacht, und vieles aus dem grauenvollen gesellschaftlichen Umgang mit pädophilen Menschen resultiert.

Wofür lohnt es sich zu leben?

Do not go gentle into that good night,
Old age should burn and rave at close of day;
Rage, rage against the dying of the light.

- Dylan Thomas, Do not go gentle into that good night

Menschen werden suizidal, wenn sie das Gefühl haben, keine lebenswerte Zukunft zu haben, keine Perspektive für ein erfülltes Leben, und keinen Platz in der Gesellschaft, wo sie gesehen und akzeptiert werden. Wenn sie sich die Frage stellen: „Wofür lohnt es sich eigentlich zu leben?“, und nur grauenvolle Leere spüren, wenn sie in sich hinein nach einer Antwort horchen. Gerade hier ist es umso wichtiger, Hoffnung zu vermitteln und positive Lebensperspektiven anzubieten. Genau das macht Beier aber nicht, im Gegenteil: Er unterstützt im Interview noch einen Umgang mit pädophilen Menschen, mit dem belastende Faktoren und suizidale Tendenzen wohl eher verschlimmert werden.

Dies fängt schon damit an, wie Beier Pädophile sieht, nämlich vor allem als „diejenigen, die diese Taten [also Missbrauch von Kindern] verursachen könnten.“ Ganz grundsätzlich stellt er damit Pädophile unter Generalverdacht und sieht sie nicht als Menschen, sondern vor allem als tickende Zeitbomben, die mit hoher Wahrscheinlichkeit explodieren, wenn sie nicht zu ihm in Therapie gehen. Obwohl er diesmal immerhin anerkennt, dass „die Hälfte der Personen, die sexuelle Übergriffe auf Kinder begehen, nicht pädophil“ ist, scheint er unfähig zu sein daraus die logische Schlussfolgerung zu ziehen: dass „diejenigen, die diese Taten verursachen könnten“ eben nicht nur pädophile, sondern grundsätzlich alle Menschen sind. Prävention spielt bei ihm dann nämlich doch nur noch eine Rolle, wenn es um Pädophile geht. Mal abgesehen von den Implikationen, die es für den Kinderschutz hat, wenn die Hälfte der Täter:innen bei Präventionsansätzen einfach ignoriert werden, stellt sich auch die Frage, was dieser ausschließlich an Prävention interessierte Umgang mit pädophilen Menschen macht – gerade auch der großen Mehrheit, für die es kein Problem darstellt, kein Kind zu missbrauchen.

Eine positive Lebensperspektive lässt sich aus einem rein auf Prävention fokussierten Umgang jedenfalls kaum ableiten. Die beste Perspektive, die Beier Pädophilen anbietet, ist, dass man mit viel Arbeit, jahrelanger Therapie und möglicherweise unter Einsatz von Medikamenten, die den Hormonhaushalt auf den Kopf stellen und ein gesundes Sexleben unmöglich machen es möglicherweise schaffen kann, kein Kind zu missbrauchen. Zwar mag es auch Fälle geben, in denen diese Botschaft suizidpräventiv wirken kann. Wenn pädophile Menschen glauben, für Missbrauch prädestiniert zu sein und diesem Schicksal nur durch den Tod entrinnen zu können, ist es wichtig zu zeigen, dass es bessere Wege gibt, ein Leben zu führen, ohne Kindern zu schaden, als dieses Leben vorzeitig zu beenden. Aber die Hoffnung, ein Leben ohne Taten führen zu können ist noch nicht die Hoffnung auf ein erfülltes, wirklich lebenswertes Leben – es ist lediglich die Hoffnung auf ein Leben, in dem das schlimmstmögliche nicht passiert ist. Kein Täter werden ist kein erfüllender Lebensinhalt.

Gefährliche Gefühle?

It's hard but you know it's worth the fight
Cause you know you've got the truth on your side
When the accusations fly, hold tight
Don't be afraid of what they'll say
Who cares what cowards think, anyway
They will understand one day, one day

- Yann Tiersen - Les Jours tristes

Pädophilie lässt sich nicht ändern. Diese Tatsache erkennt auch Beier an: Sie „manifestiert sich im Jugendalter und bleibt dann stabil.“ Die mit der Sexualität einhergehenden Wünsche sind also ganz natürlich da und lassen sich nicht „weg therapieren“. Entsprechend wichtig ist es, einen guten Umgang damit zu finden. Dazu gehört nicht nur, die Rechte anderer Menschen zu achten und zu wahren (sprich, insbesondere keinen Missbrauch zu begehen), sondern auch für sich selber einen gesunden und zufriedenstellenden Umgang zu finden. So wie die sexuelle Identität ein Teil des Lebens ist, ist ein gesunder Umgang ein Teil dessen, was das Leben lebenswert macht.

Auch hier hat Beier keine Antwort oder Perspektive anzubieten. Während der grundlegende Fokus darauf, dass pädophile Sexualität mit real existierenden Kindern nicht ausgelebt werden kann grundsätzlich noch nachvollziehbar und richtig ist, geht Beier einen Schritt weiter und greift auch Alternativen für einen Umgang mit Pädophilie an, die keinem Kind schaden. Über die Möglichkeit des Auslebens mit KI-generierten Inhalten sagt er pauschal, dass diese lediglich eine „zusätzliche Gefahr, und daher ganz falsch“ sei. Dies begründet er mit der (wissenschaftlich unbewiesenen) Hypothese, dass KI-generierte Inhalte die Konsument:innen dazu führen würden zu glauben, dass Kinder in der Realität Sex mit Erwachsenen haben wollten. Diese Alternativen würden damit für realen Übergriffe „enthemmen“.

Dass es Menschen gibt, die reale Übergriffe in jeder Form ablehnen und fiktive Inhalte suchen, gerade weil diese keine realistischen Darstellungen von Kindesmissbrauch sind, scheint Beier überhaupt nicht in den Sinn zu kommen. Anstatt Menschen zu unterstützen und Alternativen anzubieten, die nach Möglichkeiten suchen, eine zufriedenstellende Sexualität zu erleben, ohne dass dabei Kinder einen Schaden nehmen, problematisiert Beier diese Alternativen und diffamiert die Nutzenden als kognitiv Verzerrte auf dem direkten Weg zur Missbrauchstat.

Auch romantische Gefühle, die genauso wie die sexuellen in der Regel Teil der Pädophilie sind, sieht Beier in erster Linie als zusätzliche Gefahr, die es zu eliminieren gilt. Schon, wenn ein Pädophiler sich in ein Kind verliebt und gerne Zeit mit dem Kind alleine verbringen möchte, sei dies eine „sehr ernste und nicht hinnehmbare Situation“, bei der sogar das Brechen der Schweigepflicht in Betracht kommen könne (wenn auch nur als „letzte Option“, die angeblich noch nicht vorgekommen sei).

An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie man als Pädophile:r überhaupt mit der eigenen sexuellen Orientierung umgehen soll. Wenn sich diese nicht ändern lässt, aber selbst Alternativen, bei denen niemand zu Schaden kommt, inakzeptabel sind, was soll man dann machen? Beiers Ansatz besteht hier vor allem aus Unterdrückung und Kontrolle: im ganzen Interview redet er immer wieder von „Impulskontrolle“, „Verhaltenskontrolle“ und „soziale Kontrolle“; von „Gefahrensituationen“ und „Risikoeinschätzungen“. Der Fokus liegt also immer darauf, was man nicht möchte und was auf keinen Umständen passieren darf. Statt Wege zu suchen, pädophile Sexualität auf eine gesunde Art auszuleben, ist diese in Beiers Sicht als gefährlicher Gegner zu sehen, den es zu bekämpfen und permanent zu kontrollieren gilt.

Besonders bedrückend ist diese Sichtweise für junge Menschen, denen damit gesagt wird, dass sie jeden einzelnen der nächsten etwa 20.000 Tage ihres Lebens gegen ihre Sexualität ankämpfen müssen, sich dabei keinen einzigen Fehltritt leisten dürfen und darüber hinaus von allen positiven Erfahrungen ausgeschlossen sind, die Gleichaltrige mit Sexualität machen dürfen. In der Umfrage von B4U-Act war das am häufigsten genannte Alter eines ersten Suizidversuchs 14 Jahre. Ist das angesichts der düsteren Perspektiven, welche die Erwachsenenwelt ihnen anbietet, verwunderlich?

Zuckerbrot und Peitsche

Though here at journey’s end I lie
In darkness buried deep
Beyond all towers strong and high
Beyond all mountains steep
Above all shadows rides the Sun
And Stars for ever dwell
I will not say the Day is done
Nor bid the Stars farewell

- J. R. R. Tolkien, Sam’s Song in the Orc-Tower

Beier sagt zwar, er lehne „niemanden wegen einer pädophilen Sexualpräferenz ab“, aber auch hier geht es eher darum, Pädophile „anzulocken“ um sie in Therapie zu bringen und damit kontrollieren zu können, als um wirkliche Akzeptanz. Ähnlich sieht es auch bei Outings im sozialen Umfeld der KTW-Patienten aus, auf die Beier und seine Kolleg:innen in Situationen hinwirken, die sie als kritisch bewerten. Dabei geht es in erster Linie nicht darum, das Wohlbefinden der Patienten durch Stärkung sozialer Beziehungen zu verbessern, sondern darum, eine „soziale Kontrolle“ zu erreichen. Anders gesagt: Pädophile sollen sich in ihrem Umfeld outen, damit es andere Menschen gibt, die ihnen auf die Finger schauen können. Auch hier gesteht Beier Pädophilen also nur ein Leben unter Generalverdacht und permanenter Überwachung zu. Das nicht einschätzbare Risiko für potenziell existenzbedrohende Folgen, falls ein Outing mal schiefgeht, wischt er damit zur Seite, dass Vertrauenspersonen ja „in der Regel unterstützend“ reagieren würden. Offen bleibt die Frage, was passiert, wenn dies einmal nicht der Fall ist. Statt darauf einzugehen, legt Beier allen Betroffenen ein Outing nahe („deshalb raten wir immer dazu, sich Vertrauenspersonen gegenüber zu öffnen“), was auf unverantwortliche Weise mit den Leben Betroffener spielt.

Wenn die soziale Kontrolle nicht ausreicht, setzt Beier auf absolute technische Überwachung. Wie schon im vergangenen Monat erklärt Beier, dass er am liebsten eine künstliche Intelligenz auf allen technischen Endgeräten installieren möchte, welche sämtliche Nutzeraktivitäten überwacht und bei erkanntem vermeintlich problematischen Verhalten Alarm schlagen kann. Während Beier also pauschal gegen den Einsatz von KI ist, wenn sie genutzt wird, um Pädophilen etwas sexuelle Selbstbestimmung zu ermöglichen, entpuppt er sich wiederum als großer Befürworten von KI, wenn sie zum Zweck der Überwachung Pädophiler eingesetzt wird.

Wer nun in Beiers Augen „keine Verantwortung für seine Ausrichtung übernimmt“, soll die volle Härte des Rechtsstaats zu spüren bekommen. Hier plädiert Beier dafür, dass die „Ermittlungsbehörden besser auszustatten seien.“ In Gerichtsverfahren soll wiederum mehr Aufwand investiert werden, um „deutliche Hinweise auf die Präferenzen des Täters“ zu erkennen, etwa „ob es eine ausschließliche Präferenz für Kinder gibt.“ Unklar ist, wofür diese Information in einem Gerichtsverfahren benutzt werden soll. Wahrscheinlich ist, dass diese Information diskriminierend eingesetzt wird, um vermeintlich pädophile Täter:innen härter zu bestrafen als solche, bei denen kein Hinweis auf eine Pädophilie gesehen wird. Dieses Diskriminierungsrisiko wird von Beier im besten Fall nicht gesehen, und entspricht im schlimmsten Fall sogar seinen Wunschvorstellungen.

Selbst dann, wenn die Grenzen des Rechtsstaates verlassen werden, äußert Beier noch Verständnis, nämlich wenn es um selbsternannte Pädophilenjäger geht. Zwar sei ihr Ansatz laut Beier der „falsche Weg“, grundsätzlich könne er aber ihren „Unmut”, wie er es verharmlosend nennt, durchaus verstehen. Zur Erinnerung: es geht dabei um gewaltbereite Banden mit teils rechtsextremen Hintergrund, die auch schon unschuldige Menschen zu Tode geprügelt haben. Diese kriminellen Gruppen rechtfertigen ihre Verbrechen damit, dass sie gegen Pädophile gerichtet seien, die ihrer Ansicht nach generell kein Recht auf körperliche Unversehrtheit verdient haben. Gesellschaftlich erfahren diese Gruppen breite Unterstützung, und ihre Gewaltexzesse werden, wenn überhaupt, oft nur dann als Problem gesehen, wenn sie statt vermeintlich Pädophiler andere Minderheiten treffen. Schon die Idee des „Pädophile jagen“ an sich ist fundamental menschenverachtend, und wertet Pädophilie als grundsätzlich unwertes Leben ab, vor dem die Gesellschaft geschützt werden muss. Diese Ideologie wird von Beier mit keinem Wort verurteilt. Dass sich der Kopf des weltweit größten Therapieprojekts, das sich explizit an Pädophile wendet, derart gefühlskalt und gleichgültig dazu äußert, dass da draußen gewaltbereite rechtsextreme Banden durch die Straßen ziehen und Pädophile zusammenschlagen wollen, ist vielleicht der größte Beweis dafür, dass Pädophile keinen Platz in der Gesellschaft haben, quasi vogelfrei sind und keinen Schutz vor Gewalt erwarten können.

Beiers Vision für den Umgang mit Pädophilie ist im Grunde so etwas wie eine offene Drohung: entweder man verhält sich „verantwortungsvoll“ (wobei Beier derjenige ist, der sich das Recht herausnimmt alleine zu bestimmen, was als verantwortungsvoll gilt), oder man bekommt gnadenlos die volle Ablehnung der Gesellschaft und des Rechtsstaates zu spüren, die dabei gerne noch härter sein darf, als sie es jetzt schon ist. Es ist ein Umgang, der sich in Beiers eigenen Worten nur „zwischen Prävention und Repression“ bewegt und für ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben keinen Platz lässt. Insbesondere gegenüber pädophilen Menschen, die sich nicht zu Schulden haben kommen lassen, ist dieser Ansatz schlimm und baut zusätzlichen Druck da auf, wo Verständnis und Unterstützung angebracht wäre.

Wir selber müssen das Licht am Ende des Tunnels sein

Ihr, die ihr euch unverzagt
Mit der Verachtung plagt
Gejagt an jedem Tag
Von euren Traumata

Die ihr jede Hilfe braucht
Unter Spießbürgern Spießruten lauft
Von der Herde angestielt
Mit ihren Fratzen konfrontiert

Die ihr nicht mehr weiter wisst
Und jede Zuneigung vermisst
Die ihr vor dem Abriss steht
Ihr habt meine Solidarität

- Toctronic, Solidarität

Als Zyniker könnte man fragen, warum es für Beier, dessen Fokus (wie er immer wieder betont) die „verursacherbezogene Prävention” von Kindesmissbrauch ist, es überhaupt ein Problem darstellt, wenn sich Pädophile das Leben nehmen. Tote Menschen können schließlich keine Kinder missbrauchen. Auf der einen Seite möchte ich Beier ein derart abscheuliches Maß an Menschenverachtung nicht unterstellen. Gleichzeitig tut er wenig, um diesen Eindruck zu widerlegen. Im Interview erzählt er viel über die psychischen Folgen von Kindesmissbrauch, über die Gefahr, die von pädophilen Menschen angeblich ausgeht, und wie Pädophile am besten kontrolliert und überwacht werden sollten, verliert aber gleichzeitig kaum ein Wort über die psychischen Belastungen, mit denen Pädophile etwa aufgrund des Stigmas tagtäglich umgehen müssen. Dabei hat er in mindestens zwei Fällen direkt erlebt, dass diese Belastungen auch zum Tod führen können, wobei er auch darüber auf eine Art redet, die nicht den Eindruck erweckt, als ob ihn der Tod seiner Patienten sonderlich nahe geht.

Pädophilen Menschen, die keinen Missbrauch begehen sagt Beier somit, dass ihr Schmerz und ihre Probleme egal und irrelevant sind im Vergleich zu dem Schaden, den sie ja anrichten könnten, alleine dadurch, dass sie pädophil sind. Selbst der Suizid als schlimmstmögliche Folge ist für Beier lediglich sehr bedauerlich, mehr aber auch nicht.

Trotz dieser düsteren Aussichten möchte ich aber versuchen, auf einer hoffnungsvollen Note zu enden. Ich weiß, was es bedeutet, in Dunkelheit gefangen zu sein, keinen Ausweg zu sehen, wenn das, was einem fehlt, so massiv ist, dass jede Hoffnung auf ein lebenswertes Leben unerreichbar scheint. Ebenso habe ich aber auch die Erfahrung gemacht, dass das Leben manchmal komplett unvorhersehbare Wendungen nehmen kann. Das Leben ist nicht immer einfach, und das gilt doppelt und dreifach für Pädophile, und vermutlich noch mehr für exklusiv Pädophile. Hätte ich der Verzweiflung damals nachgegeben, hätte ich aber vieles nicht erlebt, wozu auch Trauriges und Schlimmes gehört, aber auch viel Schönes und Wunderbares, was ich mir früher in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Solange wir noch atmen können, gibt es immer Hoffnung, so zerbrechlich und schwach sie auch manchmal erscheinen mag.

Die Schlussfolgerung, die ich aus dem Interview ziehe, ist, dass wir uns nicht auf vermeintliche Hilfsangebote oder sogenannte Experten verlassen dürfen, wenn es darum geht, einen Sinn im Leben zu finden. Weder Beier noch KTW sind Hoffnungsspender. Das ist tragisch, denn Fürsprecher und Unterstützer können wir sehr dringend gebrauchen. In Ermangelung dessen müssen wir selber einander unterstützen, und selber zu dem Licht am Ende des Tunnels werden.

Peer Support für pädophile Menschen gibt es bei den P-Punkten.