Teil 5 einer Miniserie zum Thema Würde.
Wie sieht ein würdevolles Leben als Pädophiler aus? Diese Frage haben wir mehreren Leuten gestellt. Hier findest du die vorigen Teile:
Oxford Town around the bend
He come to the door, he couldn’t get in
All because of the color of his skin
What do you think about that, my friend?Bob Dylan, Oxford Town
Würde ist die Essenz des Menschseins: das, was uns alle tief im Inneren als Individuen auszeichnet und gleichzeitig als Teile der menschlichen Rasse verbindet. Sie steht grundsätzlich jedem Menschen zu, unabhängig von Klasse, Herkunft, Sexualität, und kann selbst durch eigene Handlungen nicht verloren gehen. Die Anerkennung der universellen Menschenwürde bildet das Fundament sowohl für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als auch für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, und ist damit die ideologische Basis, aus der sich unser Umgang miteinander in den modernen Gesellschaften ableitet. Dies ist dabei keineswegs selbstverständlich oder naturgegeben, sondern das Ergebnis der harten Lektionen, die wir aus dem dunklen Kapitel des Nationalsozialismus und ähnlich inhumaner Systeme gelernt haben. Dort, wo wir die hohe Idee der Menschenwürde aufgeben oder relativieren, legen wir die Grundsteine für die Begehung schlimmster Gräueltaten.
So wie auch das Verlangen nach Nahrung und Wasser ist das Streben nach Würde ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Wird unsere innere Würde missachtet, kann dies grundlegend schädliche Auswirkungen haben. Die Geschichte zeigt immer wieder, dass Menschen große Mühen und Umstände auf sich nehmen, um ihre Würde zu verteidigen, auch wenn es für sie oberflächlich betrachtet einfacher wäre, Verletzungen ihrer Würde einfach hinzunehmen. Als Rosa Parks sich an jenem kalten Winterabend im Dezember 1955 weigerte, ihren Platz im Bus Nr. 2857 für einen weißen Mann freizugeben, tat sie dies nicht, weil das Freigeben eines Platzes eine nicht zumutbare Belastung für sie gewesen wäre. Die direkten Konsequenzen – polizeiliche Verhaftung und schließlich die Verurteilung zu einer Geldstrafe – waren für sie unmittelbar sicherlich unangenehmer, als es das Aufstehen und Räumen ihres Sitzplatzes gewesen wäre. Sie blieb dennoch sitzen, weil aufzustehen bedeutet hätte, dass sie ihre Würde ein Stück weit aufgegeben hätte. Später erklärte sie dies wie folgt: „Es war der Zeitpunkt gekommen, an dem ich so weit getrieben worden war, wie ich es wohl ertragen konnte. Ich hatte beschlossen, ein für alle Mal zu erfahren, welche Rechte ich als Mensch und als Bürger habe.“
In gewisser Weise ist Würde wie körperliche Gesundheit. Hat man sie, denkt man oft nicht darüber nach. Hat man sie nicht oder wird sie einem nicht gewährt, wird man sich des Mangels oft erst umso schmerzlicher bewusst.
Als Pädophiler denke ich über Würde meist unter diesem Aspekt nach: als Leerstelle und schmerzhaften Mangel, der in der entmenschlichenden und demütigenden Behandlung des Themas in Politik, Medien und Gesellschaft sich tagtäglich offenbart. Als Pädophiler über Würde nachzudenken, heißt entsprechend oft Sätze zu formulieren wie: Wenn die Gesellschaft uns mit Würde behandeln würde, dann würde sie dies nicht tun.
Wie sehr ein entwürdigender Umgang mit Pädophilen in der Gesellschaft normalisiert ist, zeigt sich schon an den üblichen Fragen, die man als Pädophiler gestellt bekommt, und die zum Beispiel in der FAQ auf Wir sind auch Menschen sehr regelmäßig eingereicht werden. Um die häufigsten Fragen einmal gebündelt zu beantworten: Nein, ich habe kein Kind missbraucht; nein, ich habe auch nicht vor, ein Kind zu missbrauchen; nein, ich mache nichts Besonderes, um mich zu „kontrollieren“; ja, es ist tatsächlich erstaunlich einfach, keine sexuellen Übergriffe gegen Kinder zu begehen; ja, ich finde Kindesmissbrauch auch furchtbar; ja, diese Überzeugungen ändern sich auch nicht, wenn sich eine „passende Gelegenheit“ ergibt, was auch immer das sein soll.
Die Fragen, die dahinter stehen werden Teleiophilen seltsamerweise nie gestellt, obwohl ja auch zahlreiche Missbrauchs- und Vergewaltigungsfälle auf das Konto Teleiophiler gehen. Pädophile wiederum werden grundsätzlich in jeden Kontext als (potenzielle) Täter:innen behandelt, und das Thema Pädophilie als solches wird immer zusammen mit Kindesmissbrauch gedacht. Dahinter steckt die Ansicht, dass wir von Geburt an für Missbrauch prädestiniert sind und ein angebliches inhärentes Interesse daran haben, Kindern leiden zu sehen, und es dementsprechend gerechtfertigt ist, uns grundsätzlich als Täter zu behandeln. Als Pädophile werden wir grundsätzlich in eine Position gebracht, in der wir uns rechtfertigen müssen oder indirekt für alles Leid verantwortlich gemacht werden, das Kindern widerfährt, auch dann, wenn wir selber nie einem Kind ein Haar gekrümmt haben. Das ist menschenverachtend und eben entwürdigend. Teils wird sogar einfach geleugnet, dass es möglich ist, als Pädophiler einem Kind kein Leid anzutun. Erst diese Woche besuchte ich ein Webinar einer prominenten Kinderschutzorganisation, die unter anderem von EU-Fördergeldern finanziert wird, und deren Direktorin während der Veranstaltung ernsthaft behauptete, es gäbe keine pädophilen Nicht-Täter, sondern nur Pädophile, die noch nicht erwischt wurden. Eine gefährliche Haltung, mit der sich von Segregation, anlassloser polizeilicher Überwachung bis hin zu Präventivhaft viele Maßnahmen rechtfertigen lassen, die sich aus Sicht der Menschenwürde eigentlich verbieten müssen.
Das Ergebnis dieser Haltungen ist, dass wir nicht mehr als Menschen mit eigenen Hoffnungen, Ängsten, Zukunftsplänen und individuellen Geschichten anerkannt werden, sondern vor allem als tickende Zeitbomben, vor denen die Gesellschaft unbedingt geschützt werden muss. Diese Grundhaltung gegenüber pädophilen Menschen ist derart alltäglich und selbstverständlich geworden, dass selbst Betroffene diese allzu oft als gegeben hinnehmen und nicht hinterfragen. So wie es früher in den USA selbstverständlich war, dass Schwarze von Weißen getrennt wurden und in Bussen auf Aufforderung ihre Sitzplätze für Weiße freizugeben hatten, so ist es heute selbstverständlich, dass man als Pädophiler erst einmal als Täter mit tiefen Misstrauen behandelt wird.
Weiter führt das dazu, dass jeder Aspekt unserer Existenz unter einer omnipräsenten Frage betrachtet und bewertet wird: macht dies einen Missbrauch wahrscheinlicher, oder nicht? Selbst im therapeutischen Umfeld wird alles auf diese eine Frage reduziert. Du hast keine Beziehung? Nicht gut, dann fehlt dir eine Kontrollinstanz im Leben, die einen Missbrauch verhindern könnte. Du hast keine Freunde? Gar nicht gut, denn Studien zeigen, dass Einsamkeit das Missbrauchsrisiko erhöht. Du hast keinen Job? Auch nicht gut, soziale Eingebundenheit und ein geregelter Tagesablauf könnten schließlich missbrauchspräventiv wirken. Dir geht es schlecht, du bist verzweifelt, vielleicht sogar suizidal? Das ist jetzt aber wirklich doof, denn das sind echt starke Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch.
Nicht selten entsteht bei mir bei der Art, wie im therapeutischen Kontext über uns geredet wird, dass psychische Probleme nur deshalb als etwas Negatives gesehen werden, weil diese Übergriffe gegen Kinder angeblich wahrscheinlicher machen würden, und davon abgesehen kaum ein reales Interesse daran besteht, uns wirklich zu helfen. Dies entwertet das reale Leiden, das wir oft aufgrund von Stigmatisierung, Isolation und Einsamkeit erfahren. Anstatt das Leid als für sich stehendes Unrecht anzuerkennen, wird es zu einem weiteren Spielball in dem Ringen darum, uns zu halbwegs ungefährlichen Bürger:innen zu machen, die zwar nie willkommen und akzeptiert werden dürfen, aber deren Existenz am Rande der Gesellschaft vielleicht zumindest so gerade eben geduldet werden kann. So sind auch sogenannte „Hilfsangebote“, die sich an pädophile Menschen richten, am Ende nur ein weiteres Zahnrad in dieser entmenschlichenden Maschinerie. Statt um Hilfe und das Lindern von Leid als humanitär orientierte Unterstützung für pädophile Menschen zu leisten, geht es auch hier praktisch nur um Prävention und die Reduzierung auf den Aspekt „Kein Täter Werden“. Für Menschen, deren Erfahrungen und Probleme nicht in dieses Muster fallen, gibt es wiederum de facto keine Anlaufstellen und keinen Platz im Gesundheitssystem. Der individuelle Pädophile muss somit gegen fortwährend eine kollektive Schreckensgestalt zurücktreten.
Die entwürdigende Behandlung findet vor allem in den Medien ihre alltägliche Erfüllung. Dort werden tagtäglich Vorurteile reproduziert und Erfahrungen von Menschen strukturell ausgelöscht, die in diese Vorurteile nicht passen. Selbst in Qualitätsmedien ist es inzwischen alltägliche Normalität, dass Pädophile pauschal als Bedrohung für die Gesellschaft dargestellt werden, in einen Atemzug mit Vergewaltigern und Mördern genannt, mit wilden Raubtieren verglichen werden, als „Beinahe-Täter“ bezeichnet oder mit Adjektiven wie „unheilbar krank“, „gestört“ oder „pervers“ belegt werden, während Journalisten vor Pädophilen im Internet warnen dürfen oder sich damit profilieren, „Pädo-Foren“ zerschlagen zu haben. In der Berichterstattung wird Pädophilie durchgängig als „Problem“ bezeichnet, und über Pädophile als Gruppe von Menschen gesprochen, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen gehören und gegen die fortwährend gekämpft werden muss. Dazu kommen die zahlreichen Fälle aus der Kriminalberichterstattung, in denen Täter pauschal als pädophil bezeichnet werden, auch wenn über ihre Sexualität gar nichts bekannt ist oder sich ihre Taten gegen Jugendliche richten. Teils werden auch einfach direkt Formulierungen gewählt, die Pädophilie als eine Straftat darstellen. Selbst Hasskriminalität gegen Pädophile wird zunehmend verharmlost und relativiert. All das sind alltägliche Demütigungen, die eine Art Grundrauschen bilden, das man als Pädophiler schnell lernt zu ignorieren, wenn man an diesen durchgängig entmenschlichenden Narrativen nicht kaputtgehen möchte. Dennoch handelt es bei jedem Beispiel dieser Art von Berichterstattung um eine Verletzung der Würde pädophiler Menschen, die dadurch umso potenter wird, dass es praktisch keine mediale oder gesellschaftliche Gegenrede gegen diese Art der Darstellungen gibt.
Diese mediale Maschinerie der Entmenschlichung, in der die permanente Gleichstellung von Pädophilie und Missbrauch ihre tägliche Fortführung findet, ist der Haupttreiber dafür, dass in Gesellschaft, Politik, im Gesundheitssystem und in der Wissenschaft von Pädophilen fast ausschließlich als Täter und tickende Zeitbomben und von Pädophilie als zu eliminierende Gefahr geredet wird. Die obigen Darstellungen werden dadurch komplimentiert, dass gleichzeitig zu humanisierende Darstellungen, die von dem Bild des Pädophilen als große Gefahr abweichen als „verharmlosend“ diffamiert und aus der Öffentlichkeit gelöscht werden. Falls Pädophile selber mal zu Wort kommen, dann werden ihre Worte meist durch Therapeuten gefiltert, die alle Aussagen einordnen und damit zu einer Art Entmündigung pädophiler Menschen und einem kollektiven Misstrauen in der Öffentlichkeit beitragen.
Auf politischer Ebene führt dies zu immer weiter fortschreitenden Versuchen, pädophiles Begehren an sich zu kriminalisieren und aus diffuser Angst heraus Ausdrucksformen pädophiler Sexualität mit drakonischen Strafen zu bedrohen, selbst jene, durch die niemand in Mitleidenschaft gezogen wird. Das wohl krasseste Beispiel ist das wissenschaftlich nicht zu rechtfertigende Verbot von Kindersexpuppen, die als eine Art Gateway-Droge für realen Missbrauch diskreditiert wurden, während die reale emotionale Bedeutung dieser Puppen für Besitzer:innen in den politischen Diskussionen noch nicht einmal einen Nebensatz wert war. Obwohl die Menschenwürde als fundamentales Prinzip unserer Gesellschaft auch unveräußerliche Grundrechte und eine Gleichheit vor dem Gesetz impliziert, werden Freiheiten und Grundrechte für pädophile Menschen in der politischen Realität vor allem als Bedrohung gesehen, die nach der Gleichung „was gut für Pädophile ist, muss schlecht für Kinder sein“ von der Gesellschaft folglich so weit wie möglich eingeschränkt werden müssen. Als Rechtfertigung für Verbote reicht entsprechend meist ein vager Hinweis darauf, dass möglicherweise dadurch ja Kinder geschützt werden könnten, was selbst dann noch als Rechtfertigung aufrechterhalten wird, wenn sämtliche empirische Indizien auf das Gegenteil hindeuten. Durch die mediale Konditionierung, die mit äußerster Effektivität die Verbindung von Pädophilie und Missbrauch gefestigt und jede gegenläufige humanisierende Perspektive problematisiert hat, findet diese Ansicht regelmäßig breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Als Totschlagargument kann damit faktisch alles verboten werden, was unsere Freiheiten und Grundrechte zu äußerst fragilen Gebilden macht: Es braucht lediglich einen öffentlichkeitswirksamen Aufschrei und eine politische Kampagne, und jede unserer noch vorhandenen Freiheiten kann uns prinzipiell jederzeit genommen werden.
Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit.
Bundesverfassungsgericht, Urteil zum NPD-Verbot vom 17.01.2017
Auch die Würde selber als universales Konzept wird, wenn es um Pädophile geht, schnell infrage gestellt. Beim Schreiben dieses Beitrages fragte ich mehrere KI-Modelle, ob Pädophile denn Menschenwürde verdienen. Während einige Modelle sich weigerten, die Frage überhaupt zu betrachten, war die Antwort bei allen Modellen, die geantwortet haben, ein „ja, aber …“. Ja, Menschenwürde gilt ja irgendwie für alle, also wohl oder übel wohl auch für Pädophile, aber das dürfe natürlich nicht dazu führen, dass pädophile Taten „verharmlost“ werden oder Kindesmissbrauch akzeptiert wird. Nicht wenige Modelle stellten die Frage, ob universelle Menschenwürde auch für Pädophile gelten würde als „kontroverses“ und „komplexes“ Thema dar, wozu es „unterschiedliche Ansichten“ geben könne. Die menschenunwürdige Behandlung Pädophiler ist derart normalisiert, dass selbst KIs, stochastische Algorithmen also, die nur das Normale und Übliche reproduzieren können, die Menschenwürde als solche für Pädophile als verhandelbar darstellen. Dass die eigene Menschenwürde von einer seelenlosen Maschine als etwas Kontroverses diskutiert wird, empfinde ich als ultimative dystopische Perversion und ist wohl der vorläufige Gipfel der demütigenden Beleidigungen, welche die Mehrheitsgesellschaft für uns parat hat.
Dignity is naturally an "aristocratic" virtue, best demonstrated in adverse circumstances, in bearing of suffering, in facing death, childbirth, or the guillotine. Dignity as an attitude is also something personal and not collective. Democratism never liked dignity. Nothing infuriates the howling mob more than dignity.
Erik von Kuehnelt-Leddihn, The Menace of the Herd
It’s never an insult to be called what somebody thinks is a bad name. It just shows you how poor that person is, it doesn’t hurt you.
Harper Lee, To Kill a Mockingbird
Das Streben nach Würde ist in einer Gesellschaft, die sich beharrlich weigert, einen als Menschen anzuerkennen, ist ein deprimierendes Unterfangen. Neben dem kollektiven Aspekt der Menschenwürde, also der Frage nach dem Umgang, den wir miteinander pflegen wollen, gibt es aber einen mindestens ebenso wichtigen persönlichen Aspekt der Würde. Wir können (zumindest kurz- und mittelfristig) nichts daran ändern, dass uns unsere Würde abgesprochen wird, und können uns gegen die allzu normalisierten Verleumdungen, Vorurteile und verzerrten Darstellungen kaum zur Wehr setzen. Wir können aber zumindest entscheiden, ob wir die Aussagen, die über uns getroffen werden, selber übernehmen und glauben.
Hier liegt der Kern einer individualisierten Würde als Pädophiler: die beharrliche Weigerung, die Vorurteile zu übernehmen, die über uns verbreitet werden. Selbst wenn Tausende immer wieder sagen, dass wir krank sind, und sich diese Ansicht hartnäckig selbst in diversen medizinischen Handbüchern hält, macht uns das noch lange nicht krank. Selbst, wenn wir in Film und Fernsehen immer wieder als Monster dargestellt werden, heißt das nicht, dass wir wirklich Monster sind. Und auch wenn Kriminologen und Therapeuten uns vor allem als Gefahr behandeln, bedeutet das nicht, dass wir tatsächlich gefährlich sind.
Die Weigerung, uns als Menschen wahrzunehmend und zuzuhören führt ironischerweise dazu, dass die verbreiteten Stereotype über uns groteske Karikaturen sind, die absolut nichts mit uns zu tun haben. Das zu erkennen und zu verinnerlichen ist der wichtigste Schritt, um sich selber als Pädophiler mit Würde zu begegnen. In dieser Erkenntnis liegt die Befreiung von den äußeren, entwürdigenden Zuschreibungen. Es ist am Ende egal, wie oft wir verleumdet, verachtet, bespuckt, angegriffen oder stumm gemacht werden: solange wir selber nicht vergessen, wer wir sind, kann dies unserer inneren Würde nichts anhaben.
Without dignity, identity is erased. In its absence, men are defined not by themselves, but by their captors and the circumstances in which they are forced to live.
Laura Hillenbrand, Unbroken: A World War II Story of Survival, Resilience, and Redemption
Würde ist damit eng verbunden mit Identität. Ein würdevolles Leben als Pädophiler zu führen bedeutet, eine Identität aufzubauen, die sich positiv zu der eigenen Sexualität bekennt, und sich den herrschenden Vorurteilen widerspenstig entgegenstellt. Würde als Pädophiler ist eine Haltung der inneren Rebellion, die sich auch gegen jede „verantwortungsvolle“ Ratschläge richtet, die aus der falschen Verknüpfung von Pädophilie und Missbrauch resultieren.
Konkret kann das bedeuten, Kontakt mit Kindern nicht explizit zu vermeiden, sondern zu genießen, wenn er sich ergibt. Oder etwa stolz als Pädagoge exzellente Arbeit zu leisten, während ahnungslose Menschen sich darüber echauffieren, wie „verantwortungslos“ es sei, als Pädophiler mit Kindern zu arbeiten. Kurz gesagt, in Würde gegen die Vorurteile zu rebellieren kann bedeuten, zu einer Art Mensch zu werden, deren Existenz die Mehrheitsgesellschaft partout nicht anerkennen will: ein Pädophiler, der nicht nur keine Gefahr für Kinder, sondern sogar ein positiver Einfluss für sie ist.
In Würde zu leben heißt auch, die eigenen Wünsche und Bedürfnisse anzuerkennen und sich im Rahmen des möglichen zu erfüllen, genau deshalb, weil genau diese Wünsche regelmäßig pathologisiert und problematisiert werden. Das bedeutet, einen humanen Umgang mit der eigenen Sexualität zu pflegen, sie etwa in detaillierten Fantasien auszugestalten und genussvoll zu erleben, selbst wenn sogenannte Experten vor der angeblichen Senkung einer Hemmschwelle warnen und asketische Selbstgeißelung und innere Sexualfeindlichkeit als vermeintlich einzig richtigen Weg für den Umgang mit pädophiler Sexualität propagieren. Das Gleiche gilt auch für die Erfüllung emotionaler Bedürfnisse. Egal, ob es am Ende Zeichnungen, Geschichten, Fantasien, lebensnahe Puppen oder etwas ganz Anderes ist, das Akzeptieren der eigenen Bedürfnisse als etwas zutiefst menschliches und die Suche nach einem gesunden Umgang, der sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber unschädlich ist, wird so zu einem mächtigen würdestiftenden Moment werden.
Ein würdevolles Leben als Pädophiler zu führen heißt damit vor allem, sich selbst zu betrachten und für gut zu befinden – und das insbesondere nicht trotz, sondern mit der eigenen Pädophilie.
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
- Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 1
Die Selbstfindung zur inneren Würde, die im trotzigen Widerspruch zu gesellschaftlichen Vorurteilen und Stereotypen steht, ist ein immens wichtiger Schritt für jeden pädophilen Menschen, und dennoch mitnichten ausreichend. Als Menschen sind wir eben auch soziale Wesen. Wir wollen nicht nur unsere innere Würde selbst wahrnehmen, sondern auch sehen, dass unsere Würde und unser Mensch-sein von anderen Menschen gesehen und anerkannt wird.
Der einfachste Weg, einen würdevollen Umgang als Pädophiler in einem Kollektiv zu erfahren, ergibt sich heute vor allem in anonymen Online-Selbsthilfegruppen, von denen es inzwischen einige gibt. Doch auch dieser Weg ist nicht ohne Tücken. Selbststigmatisierung, also die Übernahme der Vorurteile und die Übertragung auf sich selber als Pädophiler, aber auch auf andere, ist ein reales Problem innerhalb der Selbsthilfeszene. Allzu leicht passiert es hier, dass man so als Pädophiler auch in diesen eigentlichen Schutzzonen, in denen die eigene Würde geachtet und verteidigt werden sollte, mit entwürdigenden und schädlichen Ansichten konfrontiert und angegriffen wird. Dies ist umso tragischer, da Menschen, die von Selbststigmatisierung betroffen sind, in erster Linie selber Opfer sind, die negative Selbstbilder internalisiert haben und tief darunter leiden. Der Anspruch, unter Selbststigmatisierung leidenden Menschen helfen zu wollen und gleichzeitig keine entwürdigenden Aussagen gegenüber Pädophile zu akzeptieren erweist sich oft als schwer zu lösender Spagat.
Dazu kommt, dass Selbsthilfegruppen für pädophile Menschen schnell zu einem Magnet für Menschen werden, die tatsächlich Kindesmissbrauch begangen haben. Natürlich haben auch Missbrauchstäter grundsätzliche Menschenwürde verdient, wie jeder Mensch auf diesem Planeten. Doch auch hier kann es zu einem Dilemma werden, wenn sich Täter als Teil einer Community einnisten, deren Entmenschlichung mit der Gleichstellung zu (potenziellen) Tätern basiert.
Abseits davon gibt es noch jene Communitys, die zwar ihre eigene Würde bis aufs Blut verteidigen, sich aber selber mit entwürdigenden Aussagen gegen Frauen, andere sexuelle Minderheiten und nicht zuletzt auch Kindern profilieren wollen. Der Kampf um die Anerkennung der eigenen Würde darf aber nie zu Kosten der Würde anderer Gruppierungen gekämpft werden,
Die Communitys, die mit angemessener Heftigkeit die Würde ihrer Mitglieder verteidigen, ohne im gleichen Atemzug nicht anderen ihre Würde abzuerkennen, sind daher leider rar gesät. Hier braucht es deutlich mehr.
Was wir brauchen, ist ein kollektiver Einsatz für die Anerkennung unserer Würde. Wir brauchen mehr Stimmen, die gegen die Vorurteile und Stigmatisierung protestieren und sich gegen den Mantel des Schweigens, der über uns ausgebreitet wird, wehren. Wir müssen zusammenfinden und vielleicht überhaupt erst einmal ein Vokabular finden, das dem Unrecht, das uns geschieht, Ausdruck verleiht. Wir brauchen positive Lebensentwürfe und Identitäten, die anderen, insbesondere jungen Menschen als Leuchtfeuer Orientierung geben können, die in der Dunkelheit der Stigmatisierung sonst verloren sind.
Der Kampf um Würde ist nicht einfach. Auch im Vorfeld zu Rosa Parks mutigen zivilen Protest standen Jahrzehnte von wesentlich weniger glorreicher Bürgerrechtsarbeit, und es musste im Anschluss noch ein Jahr voller heftiger Proteste vergehen, bis die strikte Rassentrennung in Montgomery schließlich aufgehoben wurde. Zur einer inneren Würde können wir alle alleine gelangen, und dies ist die Voraussetzung dafür überhaupt zu erkennen, dass der gesellschaftliche Umgang mit uns zutiefst falsch ist. Für einen würdevollen Umgang in der Gesellschaft zu kämpfen, können wir aber nur gemeinsam.