Anfang September veröffentlichte die finnische Kinderschutzorganisation Protect Children einen Abschlussbericht zum Projekt Knowledge to Prevent (2KNOW). Ziel dieses Projekts ist es, Informationen über Eigenschaften und Verhalten von Menschen zu erwerben, die sich Kinderpornografie und Missbrauchsabbildungen von Kindern im Internet ansehen, um mit dem gewonnenen Wissen Präventionsmaßnahmen zu verbessern. Dafür wurden unter anderem anonyme Befragungen unter vermeintlichen Täter:innen im Darknet durchgeführt. Das Projekt wurde 2022 gestartet und für einen Zeitraum von zwei Jahren von der EU-Kommission finanziert.
Der Abschlussbericht enthält einige durchaus spannende Aussagen, wird allerdings durch ernsthafte Mängel und fragwürdige Interpretationen der Ergebnisse zurückgehalten, sodass die Verwertbarkeit am Ende eher limitiert ist. Einige der Probleme mit der Studie möchte ich an dieser Stelle einmal hervorheben.
Konsument:innen von Kinder- und Jugendpornografie für eine wissenschaftliche Studie anzusprechen, ist sicherlich nicht ganz einfach. Für ihre Arbeit sind die Autorinnen wie folgt vorgegangen: Bei einer Suche nach nicht näher benannten Suchbegriffen, die auf ein Interesse an Kinder- oder Jugendpornografie hindeuten sollen, wurde den Suchenden auf einer Suchmaschine im Darknet anstelle von Ergebnissen ein Link auf ein Hilfsangebot und auf eine Umfrage ausgespielt, welche anonym ausgefüllt werden konnte. In dieser Umfrage wurden die Teilnehmer:innen nach ihren Motivationen für den Konsum illegaler Materialien gefragt. Die Befragung lief über einen Zeitraum von einem Jahr, in dem insgesamt 4549 Antworten gesammelt wurden.
Schon dieses Vorgehen ist nicht ganz unproblematisch. Einmal wird aus der Suche nach bestimmten Schlüsselwörtern unmittelbar abgeleitet, dass es die Intention des:der Beantwortenden ist, strafbare Kinder- oder Jugendpornografie abzurufen und die Person sich diesbezüglich auch schon strafbar gemacht hat. Dies ist zumindest fragwürdig. So gaben laut der Rohdaten der Studie mehr als ein Drittel der Befragten an, auf die Umfrage gestoßen zu sein, weil sie auf der Suche nach Hilfsangeboten und Ressourcen waren, um mit Pädophilie besser umzugehen oder gerade keine Kinder- oder Jugendpornografie zu konsumieren. Aus den Freitextantworten, von denen Ausschnitte in dem Abschlussbericht zitiert werden, zeigt sich exemplarisch, dass andere wiederum nach ganz anderen Sachen gesucht haben:
Suche eigentlich erwachsenen pornografie, die nicht einvernehmlich ist
Es scheint also einen gewissen Anteil der Befragten zu geben, denen es nicht nach sexuellem Material mit Minderjährigen ging. Wie hoch der Anteil ist, lässt sich nicht sagen. Es wirkt merkwürdig, dass die Umfrage keine Frage nach der tatsächlichen Motivation enthielt, und stattdessen einfach davon ausgegangen wird, dass das Eingeben eines bestimmten Schlüsselwortes direkt auf ein kriminelles Interesse hindeutet. Dies stellt auch eine Herausforderung für die Interpretation der Ergebnisse dar, da nicht klar ist, dass sich alle weiteren Aussagen wirklich auf Täter:innen beziehen.
Online-Umfragen, insbesondere wenn sie anonym sind, haben generell als wissenschaftliches Werkzeug starke Limitierungen (die von den Autorinnen des Berichts unerwähnt bleiben1). Es gibt keine Möglichkeit zu kontrollieren, dass die Teilnehmer:innen die Umfrage auch gewissenhaft beantworten, Antworten nicht mehrfach abgegeben werden, überprüfbare Angaben korrekt sind, Ergebnisse nicht gezielt von Individuen oder Gruppen manipuliert wurden usw. Dennoch können Online-Umfragen durchaus wertvoll sein, etwa um zahlenmäßig viele Antworten zu sammeln. In einem stark stigmatisierten Forschungsbereich wie Pädophilie sind anonyme Online-Umfragen darüber hinaus oft der einzige Weg, überhaupt an irgendwelche verwertbaren Daten zu gelangen. Dennoch müssen die Ergebnisse solcher Umfragen immer mit Vorsicht behandelt werden.
Bei der vorliegenden Befragung ist die Wahrhaftigkeit der Antworten besonders fragwürdig. So gab lediglich ein Viertel der Befragten nach Abschluss des Fragebogens an, komplett ehrlich geantwortet zu haben. Viele haben zwar überwiegend oder halbwegs ehrlich geantwortet, was aber dennoch bedeutet, dass sie mindestens eine bewusste Falschangabe gemacht haben. Dies muss man bei der Interpretation der Ergebnisse immer im Hinterkopf behalten.
Die Bereitschaft, Falschangaben zu machen, zeigt sich in einigen Freitextantworten. Obwohl die Umfrage nur für Menschen geöffnet war, die mindestens 18 Jahre alt waren, gaben in den Antworten einige Teilnehmer:innen an, selber noch minderjährig zu sein. Ein Teilnehmer schrieb etwa, noch 15 zu sein. Minderjährige Teilnehmer:innen müssen aber mindestens bei der Abfrage des Alters eine Falschangabe gemacht haben, da es für unter 18-Jährige gar keine Auswahlmöglichkeit gab. Dass einige Teilnehmer:innen noch minderjährig war verändert zudem, wie wir sehen werden, auch die Interpretation einiger Ergebnisse und ist damit etwas, was man ebenfalls im Hinterkopf behalten muss.
Auffällig ist außerdem, dass bei den meisten Fragen ein relativ großer Anteil die Antwort verweigerte. Bei mehreren Fragen hat nur die Hälfte der Teilnehmer:innen eine Antwort gegeben. Auch deshalb kann es sein, dass die wahren Zahlenverhältnisse anders aussehen, als es sich unmittelbar aus der Umfrage ergibt. Wichtig ist es hier, diese „blinde Flecken“ nicht gemäß den eigenen Wunschvorstellungen auszufüllen, wie es die Autorinnen des Berichts an einer Stelle machen: Daraus, dass fast die Hälfte der Teilnehmer:innen auf die Frage, ob sie sexuelle Kontakte mit Minderjährigen eingehen würden, wenn sie sicher deswegen nicht verfolgt werden würden keine Antwort gab, schlossen die Autorinnen, dass der reale Anteil derjenigen, die dies tun würden noch höher sein muss. Das ist zwar durchaus möglich, aber als Schlussfolgerung unzulässig. Über fehlende Daten können wir nichts sagen, es ist keine Leinwand, auf der wir die Ergebnisse malen können, die am besten in unsere eigenen Vorstellungen passen.
Unter der Überschrift „Sexuelles Interesse in Kinder und Paraphilien“ berichten die Autorinnen, dass 58 % der Teilnehmer:innen ein sexuelles Interesse an unter 18-Jährigen angegeben haben. Ein unaufmerksamer Leser könnte somit leicht auf den Gedanken kommen, dass die Mehrheit der Befragten2 pädophil gewesen ist. Die Autorinnen selber schließen daraus, dass ein sexuelles Interesse in Kinder eine Hauptmotivation für Verbrechen im Bereich Kinderpornografie sei.
Pädophilie ist aber, auch wenn das oft verwischt wird, nicht das Interesse an Minderjährigen, sondern explizit an vorpubertären Kindern. Tatsächlich wurde in der Umfrage an dieser Stelle auch zwischen verschiedenen Altersgruppen differenziert. Danach gaben lediglich 19 % der Befragten an, ein sexuelles Interesse an Kindern bis 10 Jahren zu haben, was grob der Altersbereich der Pädophilie ist. Dazu kommen 16 % Hebephile (Alter 11–14) und19 % Ephebophile (Alter 15–17) — wobei sich hier die Frage stell, ob da überhaupt noch von einer Paraphilie gesprochen werden kann, oder ob ein Interesse an postpubertären Jugendlichen nicht relativ normal ist. Diese Frage stellt sich umso mehr, da fast die Hälfte der Teilnehmer:innen angaben, selber zwischen 18 und 24 Jahren alt und damit vom Alter her dem späten Jugendalter nicht so weit entfernt zu sein, und einige davon in Wahrheit wohl noch jünger waren.
Bei einer anderen Frage gaben 30 % der Teilnehmer:innen an, Missbrauchsabbildungen hauptsächlich wegen eines sexuellen Interesses an Kindern zu konsumieren. Anders als bei der Frage zuvor ist hier aber kein genauer Altersbereich angegeben, sodass unklar ist, was mit „Kinder“ genau gemeint ist. Da der Anteil hier deutlich höher ist, als der Anteil der sich als pädophil identifizierenden Teilnehmer:innen in der Frage zuvor, liegt die Vermutung nahe, dass einige der Antwortenden darunter auch ein Interesse an Jugendlichen oder Minderjährigen allgemein verstanden haben. Diese Diskrepanz wird von den Autorinnen weder diskutiert noch überhaupt erkannt. Das Problem ist hier eine unklare und nicht einheitliche Definition von „Kind“, was uns zum nächsten Punkt führt.
Klare Definitionen sind für wissenschaftliche Erhebungen von essenzieller Bedeutung. Ambivalenzen müssen so weit es geht ausgelöscht werden, um sicherzustellen, dass die Interpretation von Fragen bei den Teilnehmer:innen nicht abweicht von der Intention der Forschenden. Leider geht der Abschlussbericht an einigen Stellen nicht mit der gebotenen Sorgfalt vor, insbesondere, wenn es um das Wort „Kind“ geht.
Gut gelungen ist dies bei der Frage nach dem sexuellen Interesse der Teilnehmer:innen, wo genaue Altersangaben mögliche Ambivalenzen weitestgehend auslöschen. An anderen Stellen ist es weniger klar, wer gemeint ist, wenn von „Kindern“ die Rede ist: Kinder vor Erreichen der Pubertät, Kinder im juristischen Sinn (in Deutschland: unter 14-Jährige), oder doch Minderjährige ganz allgemein?
Diese Fragen vorab zu klären ist auch für die Interpretation der Umfrageergebnisse wichtig. So alarmieren die Autorinnen etwa, dass ein signifikanter Teil der Befragten sexuelle Kontakte mit einem Kind eingehen würden, wenn sie sich sicher sein könnten, dass sie nicht dafür verurteilt werden würden. Ein Blick in die entsprechende Frage zeigt: mit „Kind“ ist hier jemand im Alter von „17 oder jünger“. Und wir erinnern uns: fast die Hälfte der Teilnehmer:innen ist selber höchstens 24 Jahre alt, und die zitierten Freitextantworten lassen darauf schließen, dass einige Teilnehmer:innen selber Minderjährige auf der Suche nach pornografischen Material mit Gleichaltrigen waren. Eine 18-jährige, die Sex mit einem 16-Jährigen hat, oder ein 15-jähriger, der sich sexuelle Erfahrungen mit Gleichaltrigen wünscht, werden von den Autorinnen somit als gefährliche potenzielle Kindesmissbrauchstäter dargestellt und undifferenziert auf eine Stufe mit Menschen gestellt, die gerne Kleinkinder vergewaltigen würden.
Diese undifferenzierte Gleichstellung von Dingen, die nicht miteinander gleichgestellt gehören, findet sich auch an anderen Stellen. So wird in der Arbeit die folgende Freitextantwort eines Teilnehmers zitiert, der angab, reale Missbrauchsabbildungen zu verachten, sich aber zu gezeichneter Pornografie mit kleinen Mädchen (Lolicon) hingezogen zu fühlen und diese zu suchen:3
Ich suche keine Missbrauchsabbildungen. Mir ist klar, das ist illegal, und das zu Recht! Aber aus irgendeinem Grund fühle ich mich ein wenig zu Anime Lolis hingezogen, auch Fotorealistisches. Aber ich würde nie jemanden weh tun oder echtes Material sehen.
Die Autorinnen kommentieren dies wie folgt.
Einige Teilnehmer:innen versuchten, ihren Konsum bestimmter Arten von Missbrauchsabbildungen, die mithilfe von Technologie erstellt oder bearbeitet wurde zu rechtfertigen, indem sie behaupteten, diese wäre „weniger schädlich“ als andere Formen von Missbrauchsabbildungen.
Noch einmal: der Teilnehmer sprach von Zeichnungen, und nicht von Material, das durch den Missbrauch von Kindern erzeugt wurde. Selbst, wenn man gegen fiktive, gezeichnete Kinderpornografie eingestellt ist, sollte es absolut selbstverständlich sein, dass diese in einer anderen Kategorie liegt, als reale Missbrauchsabbildungen — schon alleine, weil bei der Erstellung von Zeichnungen im Gegensatz zu echten Missbrauchsdokumentationen keine Kinder zu Schaden kommen. Es ist besorgniserregend, dass dieser Unterschied für einen Kinderschutzverein eine irrelevante Nebensache zu sein scheint, und das absolut wichtige Differenzierungen als eine Form von gefährlicher Missbrauchsverharmlosung diskreditiert werden.
Auf Basis dieser teils sehr zweifelhaften Interpretationen von unklar gestellten Fragen, leiten die Autorinnen dann Zusammenhänge ab, die sich aus den vorliegenden Daten keinesfalls ergeben. So schließen die Autorinnen daraus, dass ein Großteil der Teilnehmer:innen zumindest gelegentlich legale Erwachsenenpornografie konsumieren, dass legale Pornografie ein Einstieg zu illegaler Kinder- und Jugendpornografie sein kann.
Hier zeigt sich ein fundamentales Missverständnis: die fehlende Unterscheidung zwischen Korrelation und Kausalität. Korrelation heißt, dass zwei Sachen (zum Beispiel der Konsum von legaler und von illegaler Pornografie) zusammen auftreten. Kausalität heißt, dass eine Sache eine andere begründet. Aus einer Korrelation kann man nicht unmittelbar einen Kausalzusammenhang ableiten. Beispiel: wenn im Winter öfter Menschen in dicken Jacken unterwegs sind, heißt das nicht, dass der Winter Jacken erzeugt.
Ähnlich ist es beim Zusammenhang zwischen legaler und illegaler Pornografie. Pornografiekonsum dürfte in der Allgemeinbevölkerung derart weit verbreitet sein, dass man in jeder Gruppe einen großen Anteil von Menschen findet, die Pornografie nutzen. Die Autorinnen gehen aber sogar noch weiter und behaupten, legale Pornografie, in der Erwachsene als Teil eines Rollenspiels einvernehmlich so tun, als wären sie jünger als 18 würde die Konsument:innen für reale Kindesmissbrauchsabbildungen desensibilisieren. Hier spielen die Autorinnen wohl auf Age Play an. Soweit mir bekannt, gibt es keinen erwiesenen Zusammenhang zwischen derartiger Pornografie und dem Konsum von Missbrauchsabbildungen, und die Autorinnen liefern selber auch keine weiteren Daten, die einen solchen Zusammenhang belegen könnten.
Aus der Umfrage lassen sich durchaus ein paar interessante Beobachtungen ableiten. So scheint Pädophilie tatsächlich nur bei einer Minderheit der Konsument:innen von Kinder- und Jugendpornografie eine Rolle zu spielen. Motivierende und begünstigende Faktoren für illegales Verhalten sind davon abgesehen unter anderem Emotionsregulierung, eine eskalierende Sucht nach Pornografie, die Verarbeitung eigener Missbrauchserfahrung wie auch Jugendliche, die auf der Suche nach Pornografie mit Gleichaltrigen sind.
Leider lässt der Bericht an vielen Stellen dringend notwendige Differenzierung vermissen. Für die Autorinnen macht es oft keinen Unterschied, ob es um dreijährige oder um 17-jährige „Kinder“ geht, ob man nach Suchbegriffen zu strafbarem Material sucht oder tatsächlich strafbares Material konsumiert, und selbst komplett legales Verhalten wird mehr als einmal mit schwersten Straftaten auf eine Stufe gestellt. Zudem leidet die Aussagekraft der Umfrage an einem hohen Anteil verweigerter Antworten sowie der fragwürdigen Ehrlichkeit der Teilnehmer:innen, die selbst meist zugaben nicht immer ehrlich geantwortet zu haben. Dazu kommen immer wieder fragwürdige Schlussfolgerungen der Autorinnen, die sich jedenfalls aus der vorliegenden Arbeit nicht direkt ergeben.
Insgesamt ist die Arbeit daher am besten als qualitative Übersicht der Komplexität zu verstehen, die einige der Faktoren beleuchtet, welche dazu führen können, dass manche Menschen beim Konsum illegaler Abbildungen landen. Mit quantitativen Aussagen aus der Arbeit sollte man allerdings vorsichtig sein.
Der sonst in wissenschaftlichen Studien übliche Abschnitt, in dem die Grenzen des gewählten Forschungsansatzes erläutert werden, fehlt in dem Bericht tatsächlich vollständig. ↩
Die eine Antwort gegeben haben, siehe Abschnitt davor. ↩
Alle Zitate aus dem Bericht wurden von mir aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. ↩