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Blind für die Wahrheit? Filmkritik zu „Blinder Fleck“

Von Sirius

Inhaltshinweis: in diesem Beitrag geht es um körperliche, psychische und sexuelle Gewalt gegen Kinder.

Gibt es geheime Organisationen, in denen Kinder in quasi-religiösen Ritualen vergewaltigt, gefoltert und vielleicht sogar getötet werden? Können solche Missbrauchsorganisationen deshalb ungehindert agieren, weil die Gesellschaft sie nicht wahrhaben will, einen riesigen blinden Fleck hat? Geht es nach dem vor wenigen Monaten uraufgeführten Film „Blinder Fleck“, ist beides mit „ja“ zu beantworten. Auf meinen Radar ist der Film vor allem aus zwei Gründen gelandet: einmal, weil er vom Verein Schicksal und Herausforderung e. V. unterstützt wird, und weil er von Liz Wieskerstrauch produziert wurde, die 2015 die eher durchwachsene Dokumentation „Der pädophile Patient“ produziert hat. So konnte ich es mir nicht nehmen lassen, eine Aufführung des Films zu besuchen, bei der Liz Wieskerstrauch selber anwesend war und anschließend Fragen beantwortete. Im Folgenden möchte ich meine Eindrücke zu dem Film schildern, wobei es zur Einordnung der im Film getätigten Aussagen notwendig ist, an einigen Stellen auszuholen und sich näher mit den behandelten Themen auseinanderzusetzen.

Inhaltlich beschäftigt sich der Film mit organisierter ritueller Gewalt gegen Kinder. Begrifflich ist nicht immer klar definiert, was damit überhaupt gemeint ist, daher möchte ich eine Einordnung versuchen. Bei organisierter Gewalt handelt es sich um Gewalt, die von mehreren Täter:innen oft innerhalb einer Organisation geplant und durchgeführt wird. Ein Beispiel hierfür ist der Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule. Organisierte Gewalt kann auch in einem religiösen Kontext oder in Sekten stattfinden, wie etwa die zahlreichen Missbrauchsfälle in den christlichen Kirchen oder die Sekte Colonia Dignidad in Chile gezeigt haben. Wenn von organisierter ritueller Gewalt die Rede ist, geht es aber meist um mehr: Nämlich um Erzählungen von mächtigen Geheimorganisationen oder satanistischen Sekten, die Kinder in Ritualen missbrauchen, foltern und teilweise auch töten, und die ihre Opfer über Gedankenkontrolltechniken auch noch im Erwachsenenalter beherrschen können. Um das vielleicht Wichtigste vorwegzunehmen: Während durchaus einige dokumentierte Fälle von organisierter Gewalt und Gewalt mit religiösem bzw. ideologischen Hintergrund existieren, gibt es für die Existenz von organisierten rituellen Missbrauch bis heute keinen einzigen empirischen Beweis, obwohl seit Jahrzehnten in dem Bereich intensiv geforscht wird. Tatsächlich erinnern Erzählungen um rituellen organisierten Missbrauch eher an Verschwörungsmythen, die schon seit Jahrhunderten erzählt werden – dazu aber später mehr.

Trotz dieser zweifelhaften Beweislage wird bei vielen Fachstellen, zum Beispiel auch bei der Bundesbeauftragten für sexuellen Kindesmissbrauch, oft der Eindruck erweckt, als handelt es sich dabei um ein Phänomen, dessen Existenz gesichert ist. So ist es auch in dem Film von Wieskerstrauch. Zwar wird immerhin erwähnt, dass alle Versuche, Erzählungen zu rituellem Missbrauch zu verifizieren gescheitert sind, trotzdem wird von der Thematik so geredet, als würde es rituellen Missbrauch definitiv geben und das Fehlen empirischer Beweise sei lediglich eine Detailfrage. Dabei arbeitet der Film mit Methoden, die ich durchaus als manipulativ bezeichnen würde. Dies fängt schon bei der Definition grundlegender Begriffe an, die schwammig und unbestimmt gehalten werden. Zur Frage, was ritualisierter Missbrauch eigentlich sei, heißt es etwa gleich zu Beginn von Kindertraumatherapeut Andreas Krüger, dass Missbrauch eigentlich immer ritualisiert sei, weil Täter oft die immer gleichen Abläufe zu ähnlichen Zeiten ausführen – eben wie ein Ritual. Das ist für sich genommen zwar richtig, allerdings überhaupt nicht das, was mit ritualisiertem Missbrauch in der Regel gemeint ist. Später im Film ist dann die Rede von einem halben Dutzend Kinder, die auf einem Altar dem Hohepriester einer nicht näher benannten Sekte angeblich zur Vergewaltigung angeboten wurden, so als sei dies im Wesentlichen dasselbe und damit gleich plausibel wie die Idee, dass ein Täter immer zur etwa gleichen Zeit Missbrauch begeht.

Der Film besteht vor allem aus Interviews mit einer Reihe von Menschen, die zu dem Thema etwas zu sagen haben: unter anderem ein Traumatologe, zwei Rechtsanwälte, die Mitarbeiterin einer Beratungsstelle und mehrere Betroffene. Die Expert:innen wurden dabei so ausgewählt, dass sie überwiegend die Erzählungen über rituellen Missbrauch nicht infrage stellen. Lediglich zwei der zu Wort kommenden Expert:innen – eine Staatsanwältin und ein ehemaliger Profiler der Kriminalpolizei – äußern stellenweise leise Zweifel, zumindest wenn es um die extremeren Berichte über Blutopfer und Kindstötungen geht. Schon der Titel des Films denunziert Zweifler als Menschen, die das angeblich offensichtliche nur aus persönlicher Bequemlichkeit nicht wahrhaben wollen. Menschen denunziert, die das offensichtliche nicht wahrhaben wollen und damit Tätern in die Hände spielen.

Gespaltene Persönlichkeiten und Gedankenkontrolle

Zentral für moderne Erzählungen rund um rituellen Missbrauch ist die sogenannte Dissoziative Identitätsstörung (DIS), früher auch als multiple Persönlichkeitsstörung bekannt. In Blinder Fleck heißt es, dass Betroffene von ritueller Gewalt meistens mehrere Persönlichkeiten ausbilden, die innerhalb der Betroffenen existieren und abwechselnd die Kontrolle über sie übernehmen können. Teilweise werde diese Störung von den Tätern auch gezielt erzeugt, zum Beispiel über grausame Rituale, in denen sie Säuglinge foltern oder Kinder töten und dann wiederbeleben. Die auf diese Art abgespaltenen Persönlichkeitsanteile würden dann von den Tätern „programmiert“, um ihnen absolut zu dienen und bestimmte Aufgaben zu erfüllen, zum Beispiel die Strafverfolgung zu erschweren oder für bestimmte Missbrauchshandlungen besonders trainiert zu sein. Dieses auch als Mind Control bezeichnete Verfahren ist fester Bestandteil der meisten Erzählungen um rituellen Missbrauch und in meinen Augen der Punkt, an dem die Grenze von einer vielleicht schwer zu glaubenden, aber prinzipiell möglichen Geschichte zu einem pseudowissenschaftlichen Verschwörungsmythos überschritten wird. Wenig überraschend gibt es keinen einzigen Beweis dafür, dass so etwas überhaupt möglich ist. In der Realität reagieren Menschen sehr verschieden auf traumatische Erfahrungen, sodass es kaum möglich ist, gezielt ein bestimmtes Störungsbild herzustellen und nach eigenen Vorstellungen zu formen.

Gefährlich sind diese Erzählungen nicht zuletzt auch für die Menschen, die Hilfe und Unterstützung suchen, weil sie glauben, von ritueller Gewalt betroffen zu sein – also diejenigen Menschen, die der Film eigentlich bedingungslos unterstützen will. Im Film wird auch erzählt, dass Täter angeblich mit bewusst abgespalteten und „programmierten“ Persönlichkeitsanteilen auch im Erwachsenenalter Einfluss auf ihre Opfer nehmen, um so unter anderem die Strafverfolgung zu erschweren. Diese Annahme macht aus den Betroffenen im Grunde tickende Zeitbomben, die jederzeit gefährlich werden können, wenn ein von den Tätern kontrollierter Persönlichkeitsanteil die Kontrolle übernimmt. In einem vom Spiegel dokumentierten Fall führte diese Annahme dazu, dass einer Mutter das Sorgerecht für ihr Kind entzogen wurde. Ihre Therapeutin behauptete vor Gericht (selbstverständlich, ohne etwas beweisen zu können), dass die Mutter Opfer rituellen Missbrauchs geworden sei und ein von den Tätern kontrollierter Persönlichkeitsanteil jederzeit dazu führen könne, dass sie nun ihr eigenes Kind dieser Missbrauchssekte zuführt, wenn es ihr nicht vorher weggenommen wird. Jan Gysi, ein renommierter Traumatherapeut aus der Schweiz, schlägt sogar vor, Betroffene mit einer elektronischen Fußfessel zu überwachen, falls sogenannte „täterloyale Persönlichkeitsanteile“ die Kontrolle übernehmen.

Auch wenn sich eine DIS wohl eher nicht gezielt erzeugen lässt und Geschichten über Mind Control strikt in den Bereich von Science-Fiction und Horrorgeschichten gehören, ist das Störungsbild der DIS selber keine Pseudowissenschaft; sowohl im ICD-10 als auch im ICD-11 ist das Störungsbild verzeichnet. In der Wissenschaft ist die DIS dennoch zumindest umstritten, kritisiert wird unter anderem ein ungenau definiertes Störungsbild und ein oft allzu sorgloser Umgang von Therapeut:innen mit der Diagnose. In jedem Fall gilt die Störung als sehr selten. Im Wieskerstrauchs Film wird dagegen der Eindruck erweckt, als sei die DIS eine fast schon zu erwartende Folge von Gewalterfahrungen im Kindesalter.

Auch an anderen Stellen wirft die Darstellung der DIS in Blinder Fleck Fragen auf. So kommt eine Betroffene zu Wort, die vorgibt, vor laufender Kamera fließend zwischen verschiedenen Persönlichkeitsanteilen zu wechseln und dies wie einen Partytrick vorführt, in einem Moment also wie eine Erwachsene spricht und sich im nächsten Moment wie ein stereotypisches Kind verhält. Das sollte zumindest stutzig machen, denn eine DIS ist eher dadurch charakterisiert, dass Wechsel zwischen einzelnen Persönlichkeitsanteilen durch bestimmte Trigger ausgelöst werden, die nicht bewusst kontrolliert werden können – häufig sind sie Betroffenen noch nicht einmal bewusst. Hinterfragt wird auch dies im Film nicht.

Im Kaufhaus verirrt

Insgesamt ist es also sehr unwahrscheinlich, dass derartige organisierte rituelle Gewaltstrukturen, wie sie im Film erzählt werden, tatsächlich existieren. Dennoch lässt sich nicht verleugnen, dass es zahlreiche Menschen gibt, die davon berichten, Opfer von organisierten rituellen Missbrauch zu werden. Einige davon kommen auch im Film zu Wort, so zum Beispiel eine Frau, die berichtet, als Kind bei einem Opferritual dazu gezwungen worden zu sein, ein anderes Kind mit einem Schwert zu töten.

Nun ist es eine sehr schwierige Angelegenheit, die Erzählungen von Gewaltbetroffenen kritisch zu hinterfragen und an ihrer Echtheit zu zweifeln. Ich werde hier nicht darum vorbeikommen, will aber einige Disclaimer voranstellen. Zweifel an der Wahrheit der erzählten Geschichten bedeutet nicht, dass ich ihnen unterstelle, pauschal zu lügen oder ihnen ihr Leid abspreche. Vielmehr sehe ich die Quelle für ihr Leid an einer anderen Stelle als da, wo sie und wohl auch ihre Therapeut:innen die Quelle suchen.

Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass sich dieser Ritualmord so abgespielt hat, wie die Betroffene im Film es berichtet. Berichte von Ritualmorden an Kindern gibt es immer wieder, aber bisher konnte kein einziger dieser Fälle bestätigt werden, obwohl Mord wohl eines der am schwersten zu versteckenden Straftaten überhaupt ist: 2024 gab es 20 Kinder, die Opfer von Morden wurden, wobei insgesamt 92,6 % aller Morde aufgeklärt werden konnten. Selbst Wieskerstrauch selber gab in der Diskussionsrunde nach Vorführung des Films zu, sich unsicher zu sein, ob sie derart heftige Erzählungen von Kindstötungen wirklich glaubt.

Wenn wir also davon ausgehen, dass dieser Ritualmord nicht passiert ist, aber gleichzeitig annehmen, dass die Betroffene nicht lügt, stellt sich natürlich die Frage, warum sie dennoch davon überzeugt ist, tatsächlich ein Kind erstochen zu haben. Die Wissenschaft hat hier eine mögliche Erklärung: Scheinerinnerungen. Eine Wissenschaftlergruppe, die sich kritisch mit ritueller Gewalt auseinandergesetzt hat, beschreibt dieses Phänomen wie folgt:

Scheinerinnerungen können entstehen, wenn sich Menschen auf die Suche nach Erklärungen für psychisches Leiden machen, dabei die Überzeugung entwickeln, ein bislang nicht-erinnerliches Trauma erlebt zu haben und anschließend – ggf. unter Zuhilfenahme imaginativer Techniken – Bilder und im weiteren Verlauf ganze mentale Episoden ausbilden, die sie fälschlicherweise für Erinnerungen halten. […] Scheinerinnerungen können durch bestimmte psychotherapeutische Rahmenbedingungen erheblich begünstigt werden; es gibt Verläufe, bei denen Scheinerinnerungen erst in der Psychotherapie induziert wurden.

Die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen ist schon lange wissenschaftlich bewiesen, in mehreren Studien konnten Menschen zum Beispiel sogar gezielt falsche Erinnerungen eingepflanzt werden. Die Studienteilnehmer:innen waren hinterher etwa der festen Überzeugung, sich daran erinnern zu können, wie sie als Kind im Kaufhaus verloren gegangen sind, obwohl dies nie real passiert ist.

Scheinerinnerungen sind die Achillesverse des Glaubens an organisierte rituelle Gewalt. Da Ermittlungen und Nachforschungen zu organisierter ritueller Gewalt regelmäßig ins Leere laufen und keine stichhaltigen Beweise zu Tage fördern können, sind die Erinnerungen Betroffener der einzige Anhaltspunkt dafür, dass es so etwas überhaupt geben könnte. Auch der Film nennt abgesehen von den Erzählungen der angeblich betroffenen Protagonistinnen keine Beweise – weil es eben keine Beweise gibt. Nach Ockhams Rasiermesser wäre aber die These, dass es sich bei den Berichten Betroffener um Scheinerinnerungen handelt, die ihnen zum Teil von Therapeut:innen eingeredet werden gegenüber der These zu bevorzugen, dass die Erinnerungen stimmen und es wirklich solche Netzwerke gibt, die trotz intensiver Ermittlungen mit unzähligen Folter- und Tötungsdelikten gegen Kinder seit Jahrzehnten unbemerkt davonkommen.

Diese alternative Erklärung wird in Blinder Fleck überhaupt nicht in Betracht gezogen, zumindest nicht ernsthaft. Es kommt kein Experte zu Wort, der das Konzept der Scheinerinnerungen ernsthaft vertritt oder die Forschung dazu einordnet. Auf verdrehte Art wird die Unzuverlässigkeit der Erinnerungen sogar als Beweis dafür umgedeutet, warum Erzählungen über rituelle Gewalt stimmen müssen, obwohl alle Ermittlungen bisher im Sande verlaufen sind: so liege es an der Unzuverlässigkeit und Ungenauigkeit von Erinnerungen, dass Details nicht so erinnert werden, dass sie überprüft werden können. Warum aber ausgerechnet der unglaubliche Rest stimmen und ohne hinterfragen geglaubt werden soll, wenn schon zum Teil einfache Details nicht verifiziert werden können, lässt der Film unbeantwortet.

Statt sich ernsthaft mit diesem Erklärungsansatz zu beschäftigen, wird es Traumatherapeut Andreas Krüger überlassen, diese Erklärung ins Lächerliche zu ziehen. Er behauptet, die Erklärung der therapeutisch induzierten Scheinerinnerungen sei selber eine Art des Verschwörungsdenkens, bei dem Therapeut:innen unterstellt wird, sich konspirativ zu verabreden, um ihren Klient:innen zu schaden. Dies sei irrational, da Therapeut:innen ihren Klienten doch in der Regel helfen und nicht schaden wollen. Dieser Einwand ist allerdings nichts anderes als ein Strohmannargument, denn für das Einreden von Scheinerinnerungen braucht es weder eine abgesprochene Verschwörung, noch überhaupt schlechte Absichten seitens der Behandelnden.

Wie so etwas nämlich ablaufen kann, illustriert interessanterweise ausgerechnet Wieskerstrauchs Dokumentation über Pädophilie aus dem Jahr 2017. Dort erzählt Traumatherapeut Dr. Ralf Vogt, dass für ihn Pädophile „selbst traumatisierte, verdrehte Opfer-Täter“ seien. Das macht er daran fest, dass angeblich viele Pädophile keine Erinnerungen an ihre Kindheit hätten, woraus er das Resümee zieht: „wenn der nichts weiß, dann kann dem alles passiert sein“. Therapeut:innen sollten hier „die Alarmglocken klingeln“, sie sollen in der Vergangenheit ihrer Klienten nach möglichen traumatischen Erlebnissen bohren. Dies zeigt, wie Scheinerinnerungen therapeutisch induziert werden können: aus einer inneren Überzeugung des Therapeuten (Pädophilie entsteht aus Kindheitstraumata) heraus wird ein Behandlungsansatz abgeleitet, der von einer Traumatisierung der Klienten schon ausgeht, selbst wenn diese sich an derartige Erlebnisse überhaupt nicht erinnern können. Der Verein False Memory Deutschland e. V. beschreibt diesen Ablauf wie folgt:

Allein, wenn die Möglichkeit eines sexuellen Missbrauchs als Problemursache seitens der Therapeuten nur erwähnt wird, steigt die Möglichkeit, dass sich falsche, also nicht erlebnisbedingte Erinnerungen bilden, dramatisch an, wie Wissenschaftler gezeigt haben. Noch schlimmer wird es, wenn die betreffenden Therapeuten der (in keiner Weise wissenschaftlich belegten) Meinung sind, dass bestimmte psychische Symptome auf einen erlittenen Missbrauch hindeuten, an den sich der Patient erinnern müsse, um geheilt zu werden. Dann wird solange gebohrt, und der Patient beschäftigt sich solange mit dieser Frage, bis irgendwann nach und nach falsche, nicht erlebnisbasierte Erinnerungen an sexuellen Missbrauch entwickelt werden, von denen der Betreffende aber fest überzeugt ist.

Damit so ein Mechanismus abläuft, braucht es keine abgestimmte Verschwörung eines Therapeutenrings mit dubiosen Absichten, es braucht nur schlechte Therapeut:innen, die ihre eigenen Ansichten und Interpretationen ihren Klient:innen überstülpen, anstatt ihnen empathisch und vorurteilsfrei zuzuhören. Selbst Dr. Vogt unterstelle ich trotz seiner ekelhaften Aussagen zur Pädophilie nicht unbedingt schlechte Absichten – vielleicht glaubt er wirklich, dass er seinen Klienten am besten helfen kann, wenn er vermeintlich verborgene Traumata, an die sich seine Klienten gar nicht erinnern können, an die Oberfläche holt und bearbeitet. Und im Gegensatz zu organisierten rituellen Missbrauchsnetzwerken gibt es tatsächlich Fälle, in denen nachweisbar Menschen von ihren Therapeuten falsche Erinnerungen eingepflanzt wurden. In der Schweiz kam es zum Beispiel zu Kündigungen und Strafanzeigen gegen Ärzte der Traumastation einer Klinik, die im Rahmen ihrer Tätigkeit Verschwörungserzählungen über rituellen Missbrauch verbreitet und unethische Behandlungsmethoden angewandt haben.

Blinder Fleck verbreitet Verschwörungsmythen

Einige Male habe ich den Film und seine Inhalte nun schon in die Nähe von Verschwörungserzählungen gerückt. Es ist ein Vorwurf, gegen den sich Wieskerstrauch selber energisch wehrt: so betont sie in der Filmvorstellung, der Film bediene „keine Verschwörungstheorien“, und bei der taz beschwert sie sich darüber, dass sie eine Verschwörungstheoretikerin genannt werde. Nur leider gibt es für die Erzählungen, denen sie im Film einen Raum gibt, einfach keine bessere Bezeichnung.

Ein beliebtes Element von Verschwörungsmythen ist die Erzählung von mächtigen Organisationen, die im geheimen die Welt regieren und Staat und Justiz kontrollieren. Dies wird im Film zwar nicht explizit behauptet, aber zumindest sehr stark impliziert: So ist vage die Rede von großen Organisationen, die immun gegen rechtliche Konsequenzen seien, und an anderer Stelle davon, dass Ermittlungen regelmäßig eingestellt werden oder in Freisprüchen enden. Teils wird auch auf eindeutige Falschaussagen zurückgegriffen, um das Narrativ der vermeintlich die Täter schützenden Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Im Film wird etwa behauptet, wenn Ärzte Verletzungen feststellen, die auf Gewalt und Missbrauch hindeuten sei es ihnen verboten, nach deren Ursachen auch nur zu fragen. Unausgesprochen bleibt die Implikation, dass dies von mächtigen Missbrauchsorganisationen so eingefädelt wurde, um dadurch ihre Taten zu decken. In der Realität dürfen Ärzte seit 2012 bei Verdacht auf Kindesmisshandlung die Schweigepflicht brechen und das Jugendamt informieren, und machen sich unter Umständen sogar strafbar, wenn sie so eine Meldung unterlassen.

Geschichten um rituellen Missbrauch, also von okkulten Organisationen, widernatürlichen Ritualen und unvorstellbaren Grausamkeiten gegen Kinder und Säuglinge wiederum ähneln Verschwörungsmythen, die zum Teil seit Jahrhunderten erzählt werden. Es gibt Parallelen zu antisemitischen Ritualmordlegenden, zu den Hexenverbrennungen, zur Satanic Panic der 80er und 90er, und zu neurechten Verschwörungserzählungen wie QAnon oder Pizzagate. Immer wieder wurden solche Geschichten auch benutzt, um Gewalt gegen Minderheiten zu begründen, vor allem Gewalt gegen jüdische Menschen. Auch wenn der Film selber nicht so weit geht und keine Menschengruppe als Feindbild benennt, können die dort verbreiteten Erzählungen schnell als Brückenideologie für verwandte Verschwörungsmythen dienen, die von Fundamentalisten und Rechten zur vermeintlichen Rechtfertigung ihrer menschenfeindlichen Ansichten erzählt werden.

Typisch für Verschwörungserzählungen ist ebenfalls, dass mangelnde Beweise als vermeintlicher Beweis dafür umgedeutet werden, wie mächtig und einflussreich die Verschwörung in Wahrheit sei. Anders gesagt: dass es bisher keine Verurteilung wegen organisierten rituellen Missbrauch gibt, könne nicht daran liegen, dass es so etwas einfach nicht gibt, sondern daran, dass diese Organisationen so einflussreich und mächtig sind, um Verfahren zu ihren Gunsten manipulieren zu können. Seltsamerweise sind sie aber gleichzeitig wieder nicht einflussreich genug, um die Entstehung des Films zu verhindern oder, dass sich angebliche Opfer öffentlichkeitswirksam zu Wort melden. Zweifler werden gleichzeitig diskreditiert als diejenigen, die auf der Seite der vermeintlichen Täter stehen, zu naiv sind oder aus Bequemlichkeit nicht wahrhaben wollen, was angeblich direkt vor ihren Augen passiert. Mit diesem klassischen Scheinargument lässt sich jede auch noch so absurde Verschwörungserzählung scheinbar validieren.

Was sind schon rechtsstaatliche Grundsätze?

Wenn wir darüber reden, ob Erinnerungen real oder eingeredet sind, und Erzählungen über Missbrauch real oder Verschwörungsdenken sind, geht es im Kern auch um die schwierige Frage, ab wann wir Erzählungen über sexuellen Kindesmissbrauch glauben. Manche tatsächliche Täter können sich die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen zu Nutze machen, um Aussagen ihrer Opfer zu diskreditieren und vor Gericht straffrei davonzukommen. Andererseits so zu tun, als seien auf Erinnerungen basierende Erzählungen immer verlässlich und wahr, kann wiederum dazu führen, dass Unschuldige aufgrund nicht überprüfbarer Anschuldigungen, gegen die sie sich nicht realistisch verteidigen können, verurteilt werden. Es ist schlimm, wenn Betroffenen sexualisierter Gewalt nicht geglaubt wird, andersherum hat erst vor kurzen der Fall Gelbhaar gezeigt, dass es auch schlimm ist, wenn Anschuldigungen nicht ausreichend hinterfragt werden. Es gibt hier keine einfache, pauschale Antwort. Genau das suggeriert der Film aber, was einer der Gründe ist, was ihn so problematisch macht.

Missbrauchserzählungen, die vielleicht nicht stimmen, gibt es im Film nicht. Stattdessen wird radikal und pauschal davon ausgegangen, dass jeder Bericht, jede Erinnerung zumindest einen wahren Kern enthält und irgendwie so wirklich passiert ist. Stattdessen wird das Zweifeln und Hinterfragen von Erzählungen an sich zu einer Art Übergriff gemacht, der Täter davonkommen und Opfer weiter leiden lässt. Die Botschaft ist: wird ein Beschuldigter freigesprochen, liegt das nicht daran, dass er unschuldig ist, sondern daran, dass die Gesellschaft seine Schuld nicht wahrhaben will, nicht „sehen will, was wirklich ist“. Unterschwellig wird dabei impliziert, dass womöglich Polizei und Justiz von mächtigen Geheimorganisationen infiltriert wurden, die dafür sorgen, dass Verfahren nicht zu einer Verurteilung führen. Unverhohlen wird in dem Film eine „Umstrukturierung des Rechtsstaats“ gefordert, was nichts weniger bedeutet als die Aufgabe der Unschuldsvermutung: sobald jemand von einem Missbrauch erzählt, egal wie unwahrscheinlich und unplausibel diese Erzählung ist, soll dieser Person geglaubt und die Beschuldigten unverzüglich wie ein Täter behandelt werden.

Wozu das führen würde, konnte ich während der Filmvorführung direkt beobachten. Den Rahmen des Films bildet die Geschichte eines vierjährigen Mädchens, die ihrer Mutter erzählt habe, dass sie von ihrem Vater zu fremden, in schwarzen Kapuzenumhängen gekleideten Männern gebracht wurde, die sich ihr sexuell übergriffig verhalten haben. Erzählt wird diese Geschichte aus der Perspektive der Mutter, andere Sichtweisen kommen nicht zu Wort. Im Laufe des Films wird berichtet, dass der Vater im Laufe der Ermittlungen von den Anschuldigungen freigesprochen wurde, und die Mutter sich in einem Sorgerechtsstreit mit dem Vater befand – also durchaus ein Motiv hatte, ihrer Tochter derartige Geschichten einzureden. Im Film wird diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen: auch hier gilt der Grundsatz, dass jeder Bericht von Missbrauch immer stimmen muss, und kritische Rückfragen nicht gestellt werden dürfen. Dass der Vater nicht sofort und unverzüglich weggesperrt wurde, wird zu einem schier unerträglichen Skandal gemacht.

Als gegen Ende des Films schließlich erzählt wird, dass das Mädchen sogar ganzheitlich bei ihrem Vater untergebracht wurde, geht ein entsetztes Raunen durch den Kinosaal. Das Publikum hat sich offenbar die Meinung darüber, wer Täter und wer Opfer ist, schon gebildet, und das, ohne die Gegenseite je angehört zu haben oder die genauen Gründe für die Einstellung des Verfahrens zu kennen. Wenn es nach den Menschen im Kinosaal ginge, dürfte der Mann seine Tochter nie wieder sehen, aufgrund von Anschuldigungen, die sich im Rahmen eines Strafverfahrens offenbar nicht erhärtet haben. Schuldig bis zum Beweis der Unschuld.

Ich sage damit nicht, dass die Mutter definitiv gelogen oder ihre Tochter manipuliert hat. Das Problem liegt vielmehr darin, wenn sich Menschen ein Urteil aufgrund von Hörensagen und einseitiger Berichterstattung bilden, glauben definitiv zu wissen, was passiert ist und auch Urteile der Justiz nicht akzeptieren, wenn diese ihre Vorurteile nicht bestätigen. Diese Art des Denkens ist brandgefährlich und bildet die Grundlage für Lynchmobs. Wozu das, zeigt zum Beispiel ein Fall aus Koblenz, in der Mitarbeiter einer KiTa aufgrund erfundener Missbrauchsvorwürfe einer Welle an Drohungen und Hass ausgesetzt waren, und ein beschuldigter Erzieher deswegen fast an einem Herzinfarkt gestorben wäre.

Fazit und Bewertung

Wenn ich eine Sache nennen müsste, die mich an dem Film positiv überrascht hat, dann, dass er wenigstens nicht explizit von Pädophilie redet. Dabei ist die Verknüpfung zwischen Pädophilie und Missbrauch, und die Verschwörungserzählungen über angeblich die Welt regierende „pädophile Eliten“ derart präsentiert und verbreitet, dass er das aber eigentlich auch gar nicht muss, die Zuschauer werden den Zusammenhang schon selber herstellen. So wurden in der Diskussion nach der Filmvorführung die Verschwörungserzählungen zum Teil von Mitgliedern der Publikums weitergesponnen, bis plötzlich doch wieder die Rede von den „Pädophilen“ war, die angeblich massenweise in Katastrophengebiete fahren um dort Kinder für den „Eigengebrauch“ zu entführen. Bestürzend ist dabei vor allem, dass solche Debatten unter dem Namen des deutschlandweit einzigen Pädophilen-Vereins Schicksal und Herausforderung e. V. stattfinden, dessen Logo prominent im Abspann des Films platziert ist.

Davon abgesehen halte ich Blinder Fleck für einen manipulativen Film. Wieskerstrauch ist bemüht, den Film als objektive und differenzierte Dokumentation zu verkaufen, die lediglich die Position der Betroffenen einnimmt. In der Realität ist schon die Auswahl der zu Wort kommenden Stimmen höchst einseitig, gleichzeitig werden wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert und pseudowissenschaftliche Erklärungen als fundierte Tatsachen präsentiert. Der Film verbreitet Erzählungen, die im Kern Verschwörungsmythen sind, und versucht sich gleichzeitig ein Maß an scheinbarer Seriosität dadurch zu behalten, dass vieles nur subtil angedeutet, aber nicht explizit ausgesprochen wird. Wenn Fragen gestellt werden, erweist sich dies meist als rhetorisch – an der Existenz von rituellen organisierten Missbrauch wird grundsätzlich kein Zweifel gesät. Lediglich, wenn es um die extremsten Erzählungen geht – Geschichten über Kindstötungen und Blutrituale – wird ein leises Fragezeichen gesetzt. In der Diskussionsrunde, die der Vorführung des Films folgte, gab Wieskerstrauch direkt zu mit unlauteren Mitteln gearbeitet zu haben und die wenigen halbwegs kritischen Stimmen vor allem deshalb in den Film eingebaut zu haben, damit er seriöser wirkt und eher ernst genommen wird.

Verschwörungserzählungen wie solche über geheime satanistische Sekten, die Kinder missbrauchen sind vor allem für die beruhigend, die daran glauben: Sie erlauben es, das Phänomen des sexuellen Kindesmissbrauchs einzubetten in eine einfache „gut vs. böse“ – Geschichte, in der „wir“, die aufrechten Menschen, gegen „die da“ kämpfen, also die eigentlich schon nicht mehr als menschlich zu bezeichnende Mitglieder mächtiger skrupelloser Kulte und Geheimorganisationen. Wer an satanistische Sekten, okkulte Rituale und Mind Control Techniken glaubt, muss sich nicht damit auseinandersetzen, dass der Nachbar, die beste Freundin oder sogar der eigene Partner Täter:in sein kann, und zwar nicht, weil sie zu geheimen Missbrauchskulten gehören, sondern aus Motivationen heraus, die uns vielleicht manchmal allzu bekannt vorkommen können. In der Realität wird sexualisierte Gewalt meist durch Einzeltäter:innen aus dem sozialen Nahfeld des Kindes begangen; der Haupttatort ist nicht die Satanistengruft, sondern die eigene Familie, und meistens spielt auch Pädophilie keine Rolle. Selbst Fälle von organisiertem Missbrauch sind relativ selten. Hier ist der tatsächlich existierende Blinde Fleck in der Gesellschaft: Das Nicht-Anerkennen wollen, dass Täter:innen mehrheitlich „ganz normale Menschen“ und akzeptierter Teil der Gesellschaft sind, und prinzipiell jeder auch selber Aspekte in sich trägt, die missbrauchsbegünstigend sein können.

Durch das Verbreiten von Hollywood-tauglichen Geschichten von extremer Folter und unvorstellbarer Gewalt trägt der Film in einem Fall von bitterer Ironie dazu bei, diesen blinden Fleck zu vergrößern. Damit schadet der Film nicht zuletzt gerade auch Betroffenen sexualisierter Gewalt, für die er eigentlich schonungslos Partei ergreifen möchte. Der Religions- und Politikwissenschaftler Dr. Michael Blume beschreibt dies in seinem Buch Verschwörungsmythen wie folgt: „Vermeintliche Befreier aus Platons Höhle sind nicht selten solche, die Menschen erst recht tief in die Höhle hineinführen und das als Freiheit verkaufen.“