Triggerwarnung: Gewalt an Kindern

Ich saß in meiner Zelle. Morgen Vormittag sollte es so weit sein. Ich hatte meinen Leuten noch einen Brief schreiben können. Verrückt – dafür, dass ich zu meinem Glauben hielt und niemanden umbringen wollte, sollte ich nun selbst sterben! Traurig, dass sich die Menschheit in einem neuen Weltkrieg wieder so weit herabließ.

Zudem hatten sie bei der Hausdurchsuchung rausgekriegt, dass ich…

Auf dem Flur wurde lautes Schimpfen hörbar und dazwischen eine flehende Kinderstimme. Dann stieß der Wachmann meine Tür auf.

„He, Jankovic, ich hab was für dich!“

„Lass mich los. Nein!“, hörte ich die Kinderstimme.

„Halt’s Maul du dämliche Göre!“, fauchte der Wachmann boshaft zurück und stieß das Mädchen in meine Zelle. „Da kannst du noch mal deinen Spaß haben, Drecksau! Der macht das nichts aus, die lebt Morgen eh nicht mehr.“

Damit schlug er die Tür wieder zu und verriegelte sie. Das nackte Kind war aufgestanden und trommelte mit den Fäusten gegen die Tür – nichts zu machen.

Mir war klar, dass sie wollten, dass ich mich an dem Mädchen verging damit sie einen Grund mehr hätten, ihren Hass auf mich zu rechtfertigen. Ich war sicher, sie sahen und hörten alles, was in den Zellen dieses Lagers geschah. Dem Aussehen nach war sie eine Roma, die man jetzt wieder jagte wie die Tiere. Wie bei den Nazis damals.

„Der macht das nichts aus…“, hatte der Kerl gesagt…

Sie stand mittlerweile vor der gegenüberliegenden Wand und sah mich mit Todesangst an. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, bemühte mich, sie nicht anzustarren. Ich setzte mich auf und wandte mich ihr zu, da schrie sie schon auf: „Bitte tun sie mir nichts, bitte!“

Sie hatte ein blutdurchtränktes Pflaster auf dem linken Oberarm.

Ich blieb eine Weile still sitzen und überlegte, wie ich auf sie reagieren sollte. Nach bestimmt 3-4 Minuten, die sie sich ängstlich an die Wand gedrängt hatte und weinte sah ich zu ihr auf und fragte: „Wie heißt du?“

Als keine Antwort kam, versuchte ich es anders: „Warum denkst du, dass ich dir was tun würde?“

„Die Wachleute haben gesagt, sie wären pädophil und würden mir sehr wehtun. Und ich weiß von meinen Eltern, was Pädophile sind!“

Ich wusste es! Sie hatten es herausbekommen und nutzten es gegen mich aus.

„Das eine stimmt, das andere nicht: ich werde dir bestimmt nichts tun! Da hast du mein Wort.“

Sie war an der Wand zusammengesunken, wie es aussah, um wenigstens nicht völlig bloß vor mir zu stehen.

„Wie heißt du?“, fragte ich nochmals.

„Vivien.“, kam die Antwort noch skeptisch.

„Gut Vivien, ich bin Martin.“, sagte ich und griff die eine Decke von meiner Pritsche, rollte sie zusammen und warf sie ihr zu. „Hier! Kannst du sich drin einwickeln.“

„Danke.“, sagte sie verwundert und folgte meinem Vorschlag.

„Weißt du, warum ich dir nichts tue?“, fragte ich weiter. Bevor ich fortfahren konnte schüttelte sie den Kopf und gab zurück: „Die Europäer haben unser Haus angesteckt und mich eingefangen, als ich zu meinen Eltern rennen wollte. Ich glaube ihnen nicht. Sie sind doch auch Europäer!“

„Ich tue dir aber trotzdem nichts, weil ich aus der Bibel gelernt habe, dass Gott nicht will, dass wir anderen schaden oder sie hassen. Glaubst du an Gott?“

„Meine Eltern haben gesagt, er wird uns an euch rächen!“

„Ja, er wird für Gerechtigkeit sorgen, dass die Bösen bestraft und die Guten belohnt werden.“

„Aber warum sind meine Eltern dann jetzt tot?!“

Ich atmete geräuschvoll aus

„Das tut mir leid.“, sagte ich. „Er hat aber auch versprochen, dass die Guten, die sterben, wieder lebendig werden, wenn er die Welt in Ordnung bringt.“

***

So ging die Unterhaltung noch eine Weile weiter. Ich versuchte ihr Hoffnung zu vermitteln. Schließlich sollte sie wohl auch Morgen hingerichtet werden.

Zum Abend gab es nochmal eine halbe Schüssel Brei. Bezeichnenderweise nur meine Schüssel.

Ich nahm einen Löffel. Schmeckte relativ gut – wenn man Hunger hatte. Dann sah ich zu Vivien rüber. Sah wie sie die Schüssel fixierte.

„Hast du Hunger?“, fragte ich.

„Hmm!“, kam die zustimmende Antwort.

Ich stand auf und ging zu ihr rüber.

„Darf ich?“, fragte ich bevor ich mich neben sie setzte. Sie machte Platz. Und gierig löffelte sie die Schüssel aus.

Dann fiel mir das Pflaster wieder ins Auge. „Sag mal, was hast du denn da am Arm?“ Schlagartig wurde sie traurig und ängstlich.

„Was ist denn?“

„Da haben sie mir heute Morgen eine TSA eingesetzt und… gesagt…“, sie stockte, „‚Heut’ Abend, wenn du einschläfst, vergiftet die dich.‘“

Ich erschrak: Sowas hätte ich ahnen müssen! Aufgrund der Gewissensbisse, die doch manche Soldaten den Kindern gegenüber hatten, brachten sie Roma-Kinder nicht einfach mit einer Kugel um sondern pflanzten ihnen oft einen Chip ein, der sowas wie ein vereinfachtes EEG aufnahm und ein Gift freisetzte, sobald das Kind einschlief.

Genau so einen hatte Vivien bekommen!

„Oh das tut mir leid.“, sagte ich, völlig niedergeschmettert.

„Ich will aber nicht sterben!“, rief sie flehentlich.

Ich überlegte kurz. Die Dinger waren meines Wissen leider auch so gebaut, dass sie zündeten, wenn man versuchte sie zu entfernen. Sonst hätte ich vielleicht mit einem Stück Draht was versuchen können.

Ich streichelte ihr über den Kopf. „Weißt du, ich werde Morgen auch umgebracht. Ich habe nämlich gesagt, dass ich nicht in die Armee gehe, wo ich dann andere wie euch zum Beispiel hätte umbringen müssen. Das will ich nicht, weil ich, wie Gott auch, andere Menschen liebe und sie nicht hasse.“

Sie guckte mich groß an.

„Ich hatte zuerst auch große Angst davor. Aber jetzt eigentlich gar nicht mehr. Ich hab nämlich darüber nachgedacht, dass Gott allen Schaden wiedergutmachen kann. Und wenn sie mich erschießen, dann bin ich eben eine Weile tot, fühle nichts mehr. Als ob ich ganz tief schlafen würde. Und dann – spüre ich wieder etwas, und wache auf und liege vielleicht auf einer grünen Wiese und meine Familie steht dabei und begrüßt mich. Dann bin ich gesund und kann endlich wirklich leben!“

Sie wirkte nachdenklich.

„Meinst du, das geht mit mir auch?“

„Klar geht das! Gott möchte, dass die Menschen glücklich werden. Und er hat alles erschaffen, was es gibt. Meinst du, er wird da nicht ein kleines Mädchen auch noch wieder zum Leben bringen können? Und deine Eltern dazu?“

Anscheinend hat ihr das geholfen. Wir haben noch viel weitergeredet und erzählt. Sie fragte viel und ich bemühte mich, aus den Bibeltexten, die ich im Kopf hatte, zu zitieren und zu erklären.

Dann aber begann sie müde zu werden.

„Ich will nicht einschlafen, hilf mir wach zu bleiben!“ – Es krampfte mir den Magen zusammen: es war ganz egal, was wir getan hätten, irgendwann wäre sie doch eingenickt… Wir versuchten noch etwas zu spielen. In der kahlen Zelle war Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst jedoch schnell erschöpft. Dann malte sie mit einem Stein eine Hopse auf den Betonfußboden. Wir spielten, bis sie sich vor Müdigkeit nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

Sie saß wieder an der Wand. „Mir ist kalt.“, meinte sie müde.

Ich nahm die zweite Decke, die mir sonst als Laken diente, und legte sie ihr auch noch um und setzte mich neben sie. Sie lehnte sich an meine Schulter. Immer wieder fielen ihr die Augen zu und sie riss sie erschrocken wieder auf. – Es konnte jeden Moment passieren!!! Ich war mit einem Mal total kaputt, zitterte innerlich wie Espenlaub.

Ich legte den Arm um sie. Wie sollte ich sie trösten, sie stärken? Da legte sie den Kopf in meinen Schoß und ich hatte einen Gedanken: „Wollen wir nicht zusammen beten?“, fragte ich und sie nickte.

Ich faltete die Hände über ihren und fing an zu beten, wiederholte einiges, was ich ihr erzählt hatte, bat Gott darum, auf sie und ihre Eltern aufzupassen, dankte für die Auferstehungshoffnung und sprach vom Paradies und dem Frieden unter gottergebenen Menschen.

Als ich fertig war und „Amen“ sagte, war sie ganz ruhig. Mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken herunter!

„Vivien?“, fragte ich mit bebender Stimme.

„Ich …bin …noch da.“, antwortete sie ganz leise.