“Habe ich dir eigentlich jemals von meiner großen Liebe erzählt?”, frage ich dich unvermittelt.
Du überlegst eine Weile, aufgeschreckt aus deinen eigenen Gedanken. Der See, an dem wir entlang spazieren und in dem sich das orangene Licht der untergehenden Abendsonne spiegelt lädt durchaus zum nachdenken ein. Oder dazu, in Erinnerungen zu schwelgen. “Nein, ich glaube das hast du noch nie.”
Wir gehen eine Weile schweigend weiter den Weg entlang, du abwartend, ich meine Gedanken sortierend.
“Ich war damals etwa 18”, beginne ich schließlich. “Sie war meine erste große Liebe, ich habe mich damals Hals über Kopf in sie verliebt so wie in keinen anderen Menschen seitdem. Ich träume heute noch oft von ihr, obwohl ich sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Im Grunde hat sie mir gezeigt, dass ich überhaupt in der Lage bin Liebe zu empfinden.”
“Wir hatten leider nur etwa ein Jahr lang Kontakt, aber in diesen einen Jahr haben wir unglaublich viel miteinander unternommen. Sie hat mir eine ganz neue Welt gezeigt, die ich bis dahin gar nicht kannte. Im Sommer waren wir im See baden, im Winter Schlitten fahren. An verregneten Tagen haben wir gemeinsam Filme geschaut, wenn die Sonne schien sind wir oft durch den Wald spaziert.”
Ich betrachte die stille Wasseroberfläche des Sees und unsere Spiegelungen darin, lasse die Erinnerungen auf mich einwirken. Nach einer kurzen Pause fahre ich fort.
“Zum ersten mal traf ich sie im Sommer auf einem Nachbarschaftsfest. Sie war gerade erst mit ihren Eltern in eine Wohnung zwei Stockwerke über uns eingezogen. Ich saß etwas abseits für mich alleine während die Anderen in lebhafte Gespräche vertieft waren und dachte schon daran, wieder nach Hause zu gehen da mich der laute Trubel nur noch nervte. Da kam sie einfach auf mich zu und sprach mich an. Fragte mich, wer ich denn sei, und blickte mich neugierig und erwartungsvoll mit ihren tiefblauen Augen an. Ich war direkt überwältigt von ihrer unfassbaren Schönheit, mein Herz pochte als hätte ich einen Marathon gelaufen, und ich fühlte mich plötzlich seltsam schwach als könnten mich meine eigenen Beine nicht mehr tragen."
"Ich muss wie ein Idiot gestammelt haben, während sie da vor mir stand. Doch sie schien das alles gar nicht zu stören, sie nahm mich einfach bei der Hand und gewährte mir Eintritt in ihr Leben. Sie erzählte mir, dass sie vorher mit ihrer Familie in einem Haus am Meer gewohnt hat, aber dass sie umziehen mussten weil ihr Vater eine neue Arbeit gefunden hat. Sie sprach davon, dass sie sich einsam fühlte weil sie noch keine neuen Freunde gefunden hatte, und dass sie traurig war die Freunde, die sie kannte zurücklassen zu müssen. Ich hörte ihr fasziniert zu, konnte ihre Traurigkeit erahnen und fühlte plötzlich ein brennendes Verlangen danach, ihr diese Traurigkeit zu nehmen."
Ein leichter Wind bringt die nahestehenden Bäume zum Rascheln. In der Ferne ist das bitterliche Weinen eines Kindes zu hören, das noch nicht aus dem Wasser möchte. Irgendwo bellt ein Hund aufgeregt, als würde sein Leben davon abhängen. Wir spazieren weiter am Ufer des Sees entlang, während ich dir meine Geschichte erzähle.
“In den Wochen nach dem Nachbarschaftsfest liefen wir uns gelegentlich immer mal wieder über den Weg. Und jedes mal hatte sie mir etwas Neues zu erzählen oder zu zeigen. Sie behandelte mich, als ob wir uns schon Jahre kennen würden, und bald schon schloss ich sie vollends in mein Herz und aus der ersten Schwärmerei wurde Liebe. Das war das erste Mal, dass ich mich in einen anderen Menschen verliebt habe. Sie war einfach so ganz anders als die Frauen, mit denen ich sonst zu tun hatte und für die ich nie mehr als Freundschaft empfinden konnte. Einfach unglaublich lebensfroh, unverstellt, heiter und voller Energie. Ihr Lachen erfüllte mich mit unbändiger Freude, und sie lachte gerne und viel."
“Sie schien mich genauso zu mögen, und so fingen wir an zunehmend mehr Zeit miteinander zu verbringen. Dabei bekam ich immer mehr von ihren Leben mit. Sie hatte leider überhaupt kein gutes Zuhause und war wohl auch einfach froh jemanden zu haben, mit dem sie ihrem problematischen Familienleben entkommen konnte. Ihre Eltern waren ständig im Streit, standen kurz vor der Scheidung. Von ihnen wurde sie oft nur noch beachtet, wenn ein Elternteil durch sie dem anderen eins auswischen wollte, davon abgesehen waren sie froh wenn sie ihnen Zuhause nicht in die Quere kam. Meine Eltern bekamen das auch mit, und luden sie oft zu uns nach Hause ein. Bald schon verbrachte sie fast mehr Zeit bei uns als in ihrer eigenen Wohnung.”
“Manches Mal lag ich nachts noch wach und konnte wieder mal das Geschrei ihrer streitenden Eltern hören, das so laut war dass ich zwei Stockwerke tiefer fast jedes Wort verstehen konnte. Ihr hat die Situation so sehr zugesetzt. Auch ihre schulischen Leistungen litten, wofür sie auch nur Ärger von ihren Eltern bekommen hat. Dieses Jahr war sehr schwer für sie, und ich hoffe sehr dass ich ihr zumindest etwas Halt und einen Ausgleich in dieser schwierigen Zeit geben konnte."
Du gehst in Gedanken versunken neben mir her. Die orangenen Reflektionen der Sonne auf der spiegelgleichen ruhigen Seeoberfläche werden unterbrochen von einem einsamen Segelboot, das sich seinen Weg durch die nasse Fläche pflügt.
“Was ist passiert nach dem Jahr?”, fragst du schließlich.
“Ihre Eltern haben sich schließlich tatsächlich scheiden lassen. Sie zog mit ihrer Mutter weg in eine andere Stadt. Ich habe sie danach nie mehr gesehen.”
Ein weiteres kurzes Schweigen. Ein Junge kommt uns mit seinem Vater entgegen, sieht einen großen Stein auf dem Weg liegen, sammelt ihn auf und wirft ihn mit aller Kraft ins Wasser. In mir toben die Erinnerungen an ein voll bepacktes Auto, an ihren letzten Blick zurück als sie in den Wagen stieg und an ihre winkende Hand in einer kleiner werdenden Heckscheibe. Die Bilder erzeugen einen stechenden Schmerz in meiner Brust, der sich pulsierend durch meinen Körper auszubreiten scheint wie die kreisförmigen Wellen, die durch den ins Wasser geworfenen Stein erzeugt werden. Ich überlege kurz, ob ich dir den Rest auch erzählen will, und hole schließlich einen Briefumschlag aus meiner Tasche hervor, den ich dir überreiche.
“Das hier hat sie mir zum Abschied geschenkt. Seitdem trage ich es immer bei mir.”
Du öffnest den Briefumschlag und entfaltest das darin enthaltene Blatt, betrachtest lange die bunte Zeichnung. Rechts ein simples Haus mit rauchendem Schornstein unter einer lachenden Sonne, davor ein Männchen mit zum Abschied erhobenen Arm. Links ein Auto und eine ausdruckslos stehende zweite Gestalt. Dazwischen eine dritte Figur, kleiner als die beiden anderen, den Arm ebenfalls erhoben winkt sie mit traurigem Gesichtsausdruck dem Männchen vor dem Haus zu.
Wir gehen eine ganze Weile weiter schweigend am See entlang. Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu. Das Kind in der Ferne hat aufgehört zu weinen, auch der Hund ist des Bellens müde geworden. Das Segelboot ist aus der Sicht entschwunden, die Seeoberfläche ist wieder glatt und ruhig.
“Wie alt ist sie heute?”, fragst du nur. Ich rechne kurz.
“Sie ging vor zehn Jahren. Damit müsste sie heute etwa achtzehn Jahre alt sein. So alt wie ich damals.”
“Würdest du sie heute immer noch lieben können? Wenn sie nicht weggezogen wäre, damals?”
“Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch gut so, wie es gekommen ist. Dass ich sie ein kurzes Stück ihres Weges begleiten durfte, und sie heute so in Erinnerung behalten kann, wie sie damals war.”
Wir reden noch eine ganze Weile weiter. Die Sonne verschwindet schließlich langsam unter dem Horizont, es wird merklich kälter. Zeit für den Heimweg. In mir vermischen sich die Erinnerungen an den Tag mit anderen, älteren Erinnerungen. Ein Boot fährt auf einem See, und ein blondes Mädchen da drin das vor Stolz strahlend mit all ihrer Kraft das Ruder betätigt. Wellen, die sich kreisförmig ausbreiten nachdem das gleiche Mädchen vergnügt kreischend mit Anlauf ins Wasser gesprungen ist. Ein Kind, das weint, weint weil sich ihre Eltern schon wieder gestritten haben und Zuhause nur ein kaltes Niemandsland zwischen zwei verfeindeten Parteien auf sie wartet. Ein Hund, der aufgeregt bellt und einem Mädchen hinterherrennt, das lachend im Gras mit ihm herumtollt.
An einem See irgendwo steigen zwei Gestalten in ein Auto und fahren fort, lassen die Erinnerungen an einen angenehmen Sommertag hinter sich, wohl wissend, dass die Vergangenheit nie ganz vorbei ist sondern auf ewig in uns weiter lebt.