Inhaltshinweis: in diesem Beitrag werden Fälle von Gewalt und Suizid geschildert.
Sie geben sich online als Jugendliche aus, gehen auf Chatplattformen und locken dort Männer (es sind im Grunde fast ausschließlich Männer) an, die vermeintlich Sex mit ihnen haben wollen. Stundenlang schreiben sie mit den Männern und arrangieren schließlich ein Treffen. Was bei diesem Treffen passiert, ist unterschiedlich. Manchmal übergeben sie die Männer einfach nur der Polizei. In anderen Fällen stellen sie diese vor laufender Kamera live auf sozialen Medien bloß, vernichten ihre Existenz lange bevor ein Richter ein Urteil hätte sprechen können. Wieder andere greifen zu härteren Methoden und nehmen das Gesetz selber in die Hand.
Die Rede ist von sogenannten „Pädojägern“: Gruppen, die sich seit Jahren überall auf der Welt bilden, um vermeintliche Pädophile zu „jagen“ und sie zu „bestrafen“. Es handelt sich um ein inzwischen globales Phänomen, das vor gut 20 Jahren mit der US-Sendung To Catch a Predator so richtig Fahrt aufgenommen hat. In dieser Sendung wurden Männer zu einem realen Treffen angelockt, die anzügliche Nachrichten mit einem Lockvogel ausgetauscht haben, das sich je nach Fall als 12-16-jähriges Mädchen ausgab. Anstelle der Minderjährigen erwartete den Männern am Treffpunkt der Moderator Chris Hanson, der sie vor laufender Kamera zu Rede stellte. Nach dem Gespräch wurden sie anschließend medienwirksam von mehreren Polizeibeamten überwältigt und vor laufender Kamera abgeführt.
Die Serie lief von 2004 bis 2007 auf dem Nachrichtensender MSNBC und fand in der Zeit eine Kult-Anhängerschaft.1 Abgesetzt wurde sie erst nach mehreren Kontroversen um die Arbeitsweise der Journalisten und dem Suizid eines der vor der Kamera bloßgestellten „Raubtiere“, woraufhin die Serie dem Sender selbst zu heiß wurde.2
Obwohl die Serie durchaus kontrovers war und kritische Stimmen hatte, traf sie dennoch einen Nerv bei einem gewissen Zuschauerkreis. Das Konzept bediente sehr effektiv voyeuristische Züge und ein archaisches Gerechtigkeitsempfinden des Zuschauers. Aus den Gesprächen mit den Überführten entstanden zwar selten tiefergehende Erkenntnisse, aber darum ging es auch nie wirklich. Es ist für den Zuschauer emotional befriedigend, diejenigen bloßgestellt und in Panik zu sehen, die sich vorher noch an eine Dreizehnjährige heranschmeißen wollten.
Da das Konzept also durchaus publikumswirksam war und ist, fanden sich nach Absetzung der Serie bald Nachahmer, die dieses Konzept für sich übernahmen und fortführten. Erst in den USA, aber bald auch überall in der Welt bildeten sich sogenannte „Pädojäger“-Gruppen, die nach Hansons Prinzip vorgingen und Menschen versuchten in eine Falle zu locken, von denen sie glaubten, dass sie Sex mit Minderjährigen haben wollen. Ohne die oftmals bereits sehr geringen moralischen Skrupel des klassischen Fernsehens sollte es nicht lange dauern, bis der Trend eskalierte und erste Todesopfer forderte.
Um zu sehen, wie weit der Trend des „Pädojagens“ gehen kann, ist es notwendig, ein paar Fälle exemplarisch zu beschreiben. Wer keine Darstellungen Gewalt lesen möchte, sei an dieser Stelle vorgewarnt und möge zur nächsten Überschrift vorspringen.
Berlin, 2022
Im März 2022 geht ein 30 Jahre alter Mann in Berlin mit einer jungen Frau spazieren, mit der er sich verabredet hat, und die er für eine 14-jährige Jugendliche hält. Plötzlich springen mehrere maskierte Männer aus dem Gebüsch, bedrohen ihn mit einer Schusswaffe und einem Elektroschocker. Sie demütigen ihn und schlagen ihm ins Gesicht, dann zwingen sie mehrfach einen Dildo tief in seinen Rachen. Erst nachdem sie ihm alle seine Besitztümer abgenommen haben, lassen sie von ihm ab, verschwinden mit seiner Geldbörse und seiner EC-Karte. Mehreren weiteren Männern passiert ähnliches. Als Täter werden schließlich Mitglieder einer Gruppe identifiziert, die sich selber die Pedo Hunters nennt. Die beiden Täter, die als einzige davon gefasst werden konnten, werden 2023 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Liverpool, 2022 / New York, 2024 / UK, 2018
2022 wird ein Mann, dem vorgeworfen wird, Sex mit einem Kind unter 14 gesucht zu haben in Liverpool von einer Gruppe „Pädojäger“ vor seinem Auto gestellt. Der Mann greift in sein Auto, holt ein Messer hervor und sticht sich damit selbst in den Nacken – der Suizidversuch wird live auf sozialen Medien gestreamt. Ein anderer Mann wird 2024 von einer Gruppe vor seinem Haus gestellt. Nachdem er ausführlich zugegeben hatte, Kinderpornografie zu besitzen und die „Jäger“ damit beschäftigt sind, die Polizei verständigen, geht er in sein Haus und schießt sich in den Kopf. Suizide sind nicht selten Folge der öffentlichen Bloßstellung, die ohne Achtung vor der Unschuldsvermutung die Beschuldigten live teils vor einem Millionenpublikum vorverurteilt. Schon Hansons TV-Serie endete mit einem Suizid. Alleine 2018 konnte nur in den UK acht Suizide ermittelt werden, die im Zusammenhang mit „Pädojägern“ gestanden haben.
Tessin, 2024
Ein Jugendlicher aus dem Raum Lugano in der Schweiz erfährt, dass eine Freundin sexuell übergriffige Nachrichten von einem unbekannten 35-jährigen Mann erhalten hat. Erzürnt fährt er zur Polizei, die ihn aber wegschickt. Daraufhin beschließt er, die Dinge selber in die Hand zu nehmen. Zusammen mit 18 weiteren Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren konfrontiert er in den folgenden Wochen insgesamt zehn Männer. Sie orientieren sich am russischen Neonazi Maxim Marzinkewitsch, der mit extremer Gewalt gegen vermeintlich Pädophile vorgegangen ist. Die jungen Menschen stellen die Männer bloß, die sie in die Falle gelockt haben, erpressen sie, schlagen und treten auf sie ein, urinieren auf sie, schmieren sie mit Exkrementen ein. Erst Anfang Oktober kann die Polizei die Machenschaften der Gruppe unterbinden, den Mitgliedern stehen nun Strafverfahren unter anderem wegen schwerer Körperverletzung, Raub und Freiheitsberaubung bevor. Trotz der erschreckenden Brutalität, mit der die Jugendlichen vorgegangen sind, erhalten sie in den sozialen Medien viel Zuspruch und Bewunderung aus der Bevölkerung.
Arnheim, 2020
Im Oktober 2020 wird im niederländischen Arnheim ein 73 Jahre alter Rentner halbtot vor seiner Wohnung aufgefunden. Wenig später verstirbt er im Krankenhaus. Der Mann wurde Opfer eines Gewaltverbrechens, als Täter wird eine Gruppe von sechs teils Minderjährigen identifiziert, die sich selbst als „Pädojäger“ bezeichneten. Der Rentner war das neuste Opfer einer Welle von Gewalt, die während der Corona-Zeit die Niederlande flutete: zahlreiche neu gebildete „Pädojäger“-Gruppen verübten innerhalb weniger Monate hunderte polizeilich registrierte Gewaltverbrechen, wobei die Opfer nicht selten auch erpresst und bestohlen wurden. Die Situation eskaliert dermaßen, dass sich die Polizei mit einem etwas verzweifelt klingenden Plädoyer an die Medien wendet: „Hört auf Pädophile zu jagen!“ Auch hier ist auffällig, dass es sich meist um sehr junge Menschen und teils um Jugendliche handelte, die diese Taten begangen haben.
Australien, 2018
2018 hält der 30-jährige Australier Bradley L. gerade einen Mittagsschlaf, als seine Frau vier Mitglieder der „Pädojäger“-Gruppe Freedom Fighters in die gemeinsame Wohnung hineinlässt. Den Männern hatte sie vorher erzählt, ihr Ehemann habe ihre beiden gemeinsamen Töchter sexuell missbraucht. Die Gruppenmitglieder, welche diesen Anschuldigungen ohne Hinterfragen Glauben schenkte, fesseln und transportieren ihn im Kofferraum eines Autos auf ein abgelegenes Grundstück, wo sie ihn über Stunden mit einer Kettensäge und einer Tattoo-Nadel foltern. Die Tortur endet erst, als der Anführer der Gruppe ihn mit einer Schrotflinte in den Hinterkopf schießt und damit tötet. Vor Gericht stellt sich heraus, dass die Anschuldigungen der Frau frei erfunden waren.
Die Machenschaften der „Pädojäger“ dürfen nicht verharmlost werden, nur weil sie sich gezielt Opfer heraussuchen, für welche die Gesellschaft wenig Empathie übrig hat. Zunächst einmal gilt die Unschuldsvermutung. Und auch, wenn einige der „Pädojäger“ gerne mit einer Anzahl von Anzeigen bei der Polizei prahlen, die in die Hunderte geht, sind Berichte über tatsächliche Verurteilungen eher rar gesät. Meistens sind die „Beweise“, welche die verschiedenen „Pädojäger“-Gruppen sammeln vor Gericht nicht verwertbar, oder es stellt sich heraus, dass gar kein strafbares Verhalten vorgelegen hat. Gewaltbereite Mobs, die „Pädophile bestrafen“ wollen, haben schon öfter Menschen krankenhausreif geschlagen oder auch zu Tode gefoltert, bei denen sich hinterher herausgestellt hat, dass die Personen sich weder strafbar gemacht haben, noch (vermutlich) pädophil waren. Und auch dann, wenn es sich um tatsächliche Straftäter handelt, haben sie immer noch grundlegende Menschenrechte, worauf auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit und einen fairen Gerichtsprozess gehört.
Es lässt sich also nicht leugnen, dass ein signifikanter Teil der „Pädojäger“ aus gewaltbereiten Schwerkriminellen besteht. Teils begehen sie selber sexualisierte Gewalt gegen Kinder, wenn sie glauben, damit mehr Personen „fangen“ zu können. Fälle von Gewalt und Erpressung durch „Pädojäger“ werden auch im deutschsprachigen Raum immer zahlreicher, es gab zum Beispiel Vorfälle in Lippstadt, Paderborn, Lüttich. Dabei ist von einer großen Dunkelziffer auszugehen, da sich die Opfer eher selten selber bei der Polizei melden – zum Teil aus Scham, zum Teil aber auch, weil sie sich (in Deutschland) seit einer Gesetzesverschärfung von 2020 selber strafbar gemacht haben. Auch dann, wenn sie nie tatsächlich mit einer Minderjährigen Kontakt hatten, sondern immer nur mit einem erwachsenen Lockvogel, reicht es aus, dass sie lediglich annahmen mit einer Jugendlichen zu schreiben, um sich wegen Grooming strafbar zu machen. Diese Gesetzesverschärfung hat sich in der Praxis für Polizeibehörden als wenig hilfreich erwiesen, gibt aber den kriminellen „Pädojägern“ nun das Druckmittel, das sie brauchen, um mit ihren Taten unbescholten davonzukommen. Einige nutzen diesen Umstand geschickt zur persönlichen Bereicherung mittels Erpressung aus, andere um ihre aufgestaute Wut einfach mal ungehemmt an jemanden auszulassen, der danach vermutlich nicht zur Polizei rennen wird.
Die Täter wiederum sehen sich auch dann, wenn sie doch mal gefasst werden als moralische Helden. Als die „Pädojäger“ Ahmed und Hussen B. schließlich wegen räuberischer Erpressung und schwerem Raub von der Polizei abgeführt werden, sollen sie empört gefragt haben, ob die Polizei denn wisse, um „um was für eine Art Menschen es da geht“ und ob die Beamten „den Pädophilen“ auch festgenommen habe. Ansgar S., der sich vor Gericht wegen Raub und gefährlicher Körperverletzung verantworten musste, ließ von seinem Verteidiger ausrichten, es sei ihm nie um finanzielle Interessen gegangen, sondern darum, „Pädophilen eine Abreibung zu verpassen“, weshalb sein Verteidiger den Täter sogar zum „moralischen Sieger“ ernannte.
Die Täter fühlen sich in ihren Taten gerechtfertigt, weil es gegen eine Gruppe geht, die in ihren Augen keinen Schutz durch das Gesetz verdient hat und damit quasi vogelfrei ist: Pädophile.
An der Stelle ein längst überfälliger Einschub. Die Gruppen, um die es geht, bezeichnen sich zwar selber oft als „Pädojäger“, und geben an, „Pädophile“ jagen zu wollen. Tatsächlich hat das, was sie tun, aber herzlich wenig mit Pädophilie zu tun. Einmal, weil die Strategien der Gruppen in der Regel darauf ausgelegt sind, Menschen in eine Falle zu führen, die sexuelle Handlungen mit Minderjährigen eingehen wollen, während Pädophilie keine Straftat ist. Davon abgesehen posieren die Lockvögel dieser Gruppen meist als Jugendliche, die selten jünger als dreizehn sein sollen.3 Pädophilie hat aber nichts mit einer Präferenz für Jugendliche zu tun (die wiederum auch nicht automatisch zu übergriffigen Verhalten führt), sondern ist ganz konkret die sexuelle Ansprechbarkeit auf vorpubertäre Kinder. Dass die „Pädojäger“ mal einen tatsächlich pädophilen Menschen gegenüber stehen, dürfte eine seltene Ausnahme sein.
Wenn die „Pädojäger“-Gruppen also davon sprechen, „Pädophile“ zu jagen, meinen sie dieses Wort nicht in dem Sinne, wie es eigentlich definiert ist, sondern als Beleidigung gegen Personen, die sich (vermeintlich) sexuell übergriffig gegen eine vage definierte Gruppe „junger Menschen“ schuldig gemacht haben sollen. Doch auch, wenn die Gruppen mit ihren Handlungen eigentlich gar keine Pädophilen ins Visier nehmen, schüren sie dadurch, dass sie sich „Pädojäger“ nennen und davon sprechen, „Pädophilen“ eine Abreibung verpassen zu wollen, Vorurteile gegen Pädophile. Insbesondere stellen sie pädophile Menschen als wilde Tiere dar, die nach Belieben „gejagt“ werden dürfen, und gegen die jegliches noch so moralisch fragwürdige Verhalten gerechtfertigt ist.
Es geht damit letzten Endes darum, eine einfache „Gut gegen Böse“ – Weltsicht aufrechtzuerhalten, die so ziemlich alle „Pädojäger“-Gruppen teilen. Schon Chris Hanson bezeichnete die ihm in die Falle gegangenen Menschen im Titel seiner Sendung als „Raubtiere“ und sprach ihnen damit jegliche Menschlichkeit ab. Das Gleiche versuchen kriminelle „Pädojäger“, wenn sie ihre Opfer als „Pädophile“ bezeichnen. Es handelt sich dabei um eine Entmenschlichung, die den gesellschaftlichen Hass und die Stigmatisierung pädophiler Menschen zu ihrem logischen Schluss führt, mit der sie ihre eigene Gewalt glorifizieren. Sie konstruieren ein Weltbild, in dem Pädophile abscheuliche Untermenschen und sie die Rächer der Gesellschaft sind, die diesen ihre gerechte Strafe zuführen. Dieses Weltbild dürfte es auch sein, was einige von ihnen dazu befähigt Menschen krankenhausreif schlagen und abends mit dem Gefühl ins Bett zu gehen, etwas Gutes getan zu haben.
Neben den „Pädojägern“, die ohne Frage kriminell handeln und zum Teil dafür zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, gibt es auch solche, die sich noch im rechtlichen Graubereich aufhalten. Diese „Pädojäger“ beschränken sich darauf, die Männer, die ihnen in die Falle gehen, der Polizei zu übergeben. Oftmals filmen sie die Konfrontationen vorher oder streamen sie direkt live für teils Tausende von Zuschauern. Zu dieser Kategorie gehören zum Beispiel der Kölner Marvin und sein Team „404“, oder auch der Ex-Bundespolizist Nick Hein, der sich in aufwendig produzierten und millionenfach angeschauten Videos als eine Art paramilitäre Truppe für den Kinderschutz präsentiert.
Diese Gruppen begehen keine direkte physische Gewalt, sondern beschränken sich darauf, die ihnen in die Falle gegangenen Männer an der Flucht zu hindern, sie einzuschüchtern dabei eine Atmosphäre zu erzeugen, die nahe legt, dass eine gewaltsame Eskalation zumindest nicht total abwegig wäre. Teils nutzen sie ihre Gelegenheiten zum Ausleben absurder Rachephantasien, Nick Hein etwa hat sich schonmal einen „Spaß“ daraus gemacht, Verdächtige von in Militäranzügen gekleidet Kampfsportlern in der Öffentlichkeit mit Paintball-Gewehren zu beschießen.
„Pädojäger“ wie Nick Hein wehren sich zwar dagegen, mit den kriminellen Gewalttätern auf eine Stufe gestellt zu werden. Sie behaupten, was sie tun sei erlaubt, um auf frischer Tat ertappte Täter festhalten zu können, bis die Polizei eintrifft. Ob dies zutrifft, ist juristisch zumindest umstritten, wahrscheinlich handelt es sich um das, was sie tun schlicht um strafrechtlich relevante Nötigung. Wer sich als „Pädojäger“ betätigt, bewegt sich damit zumindest im rechtlichen Graubereich.
In mancher Hinsicht ist die Unterscheidung zwischen halb kriminellen und schwer kriminellen auch kaum mehr als kosmetischer Natur. Beide verbindet im Kern die gleichen Ansichten, das gleiche Vorgehen, die gleichen Rechtfertigungen für ihr Handeln. Beide haben das gleiche schwarz-weiß-Denken und den gleichen undifferenzierten, menschenverachtenden Blick auf das Thema Pädophile. Sie unterscheiden sich lediglich darin, wie weit sie bereit sind in der Konfrontation mit den Betroffenen zu gehen.
Britische Forscher erkannten in dem Trend der „Pädojäger“ schon 2020 Menschenrechtsverstöße, die gesellschaftlich nicht akzeptiert werden dürfen. Umso wichtiger ist es, auch die „Pädojäger“, die sich noch im Graubereich aufhalten, nicht zu verharmlosen oder isoliert zu betrachten. Die Normalisierung von „Pädojägern“, egal in welcher Form, unterstützt einen Trend, in extremer und brutaler Gewalt endet. Es handelt sich um eine Form von stochastischen Terrorismus: je mehr Gruppen in der Öffentlichkeit stehen, die etwa Hassbotschaften gegen Pädophile verbreiten, und je mehr Pädophile als Bedrohung für Kinder gezeichnet werden, desto wahrscheinlicher wird es, dass dadurch jemand zu realen Gewalttaten angestachelt wird. Auch das macht die (mehr oder weniger) legal handelnden „Pädojäger“-Gruppen so gefährlich, denn je mehr diese die Idee normalisieren, dass Pädophile zu jagendes „Freiwild“ sind, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich andere inspiriert fühlen, eigene Gruppen zu bilden, die mit brutaler Gewalt gegen vermeintliche Pädophile vorgehen.
Umso wichtiger wäre es also, „Pädojägern“ keine mediale Plattform zu geben und ihr Vorgehen nicht zu glorifizieren. Tatsächlich passiert aber oft das Gegenteil. Jüngstes Beispiel findet sich in der Abendschau des rbb und in einem Artikel des RedaktionsNetzwerk Deutschland, die den Mitgliedern von Marvins „Pädojäger“-Gruppe 404 ausführlich Gelegenheit gibt, ihr eigenes Vorgehen positiv darzustellen. Dabei fallen auch zahlreiche stigmatisierende Aussagen gegen Pädophile, die unkommentiert stehen gelassen werden. Zwar kommen auch kritische Stimmen zu Wort, etwa von Kein Täter Werden-Chef Prof. Klaus Beier. Der problematisiert an dem Vorgehen der „Pädojäger“-Gruppen aber nicht etwa, dass dadurch Übergriffe gegen pädophile Menschen normalisiert werden, sondern dass seiner Argumentation nach Pädophile dadurch noch krimineller werden, und behauptet darüber hinaus, dass Pädophile, wenn sie sich nicht in Therapie begehen „in der Regel“ kriminell werden würden.4 5 Es sollte offenkundig sein, dass solche Aussagen nicht unbedingt für mehr Empathie und weniger Gewaltbereitschaft gegen Pädophile Menschen sorgen.
Noch mehr Raum gab der hessische Radiosender FHH der Gruppe um Marvin. Hier konnte er sogar ohne jegliche kritische Gegenrede seine Ansichten verbreiten und dabei jede Menge Hassrede gegen Pädophile äußern, die unkommentiert stehen gelassen wurde. Selbst, als Marvin zugibt, in der Vergangenheit strafbare Selbstjustiz praktiziert zu haben, wird dies nicht kritisch hinterfragt. Derartige unkritische Porträts über „Pädojäger“ findet man immer wieder.
Teils schlüpfen Medienschaffende aber auch selber in die Rolle eines „Pädojägers“. Das Vorgehen ist dabei im Grunde das Gleiche, wie bei allen anderen „Pädojägern“: Männer werden mit Profilen junger Mädchen online angelockt und am Ende zur Rede gestellt. Was 2007 noch selbst für das US-Trashfernsehen zu kontrovers war, ist inzwischen auch in eigentlich seriösen öffentlich-rechtlichen deutschen Medien akzeptabel geworden.
All dies legitimiert das Vorgehen solcher „Pädojäger“ und macht damit auch brutale Gewalt im Namen solcher Gruppen wahrscheinlicher. Doch selbst, wenn es um handfeste Gewalt- und Hasskriminalität geht, lassen sich verharmlosende Tendenzen feststellen.
Als die Taten der kriminellen Jugendgruppe in Tessin bekannt wurde, veröffentlichte der Schweizer einen Radiobeitrag anlässlich des Themas. In dem Radiobeitrag ging es aber nicht etwa um Jugendkriminalität, sondern um die Frage, ob die Schweiz hart genug „gegen Pädophile“ vorgehe. Inzwischen wurde der Titel zwar auf „Was tun gegen Pädokriminalität?“ geändert, in der Anmoderation wird aber immer noch die Frage gestellt, ob die Schweiz genug tue um „Kinder und Jugendliche vor Pädophilen zu schützen“. Auch in einem Artikel zu den Vorfällen schreibt der SRF ohne weitere Einordnung, der Gruppe sei es um die „Bekämpfung der Pädophilie“ gegangen, so als sei dies tatsächlich ein aufrechtes und valides Ziel und nicht die menschenverachtende Diskriminierung einer sexuellen Minderheit. Unter dem Beitrag finden sich viele Kommentare, die sich mit den kriminellen Jugendlichen solidarisieren und Hass gegen Pädophile verbreiten, für die sich die SRF-Redaktion am Ende der Diskussion abschließend herzlich bedankt.
Wenn Menschen Gewalttaten gegen andere Menschen begehen, weil sie diese für pädophil halten, ist das Hasskriminalität. Wenn Medien auf solche Gewalttaten damit reagieren, dass sie die Frage stellen, ob der Staat beim Schutz von Kindern vor Pädophilen versagt, übernehmen sie die Narrativen der Täter und machen im Sinne des stochastischen Terrorismus zukünftige Gewalttaten gegen (vermeintlich) Pädophile wahrscheinlicher.
Ich muss sagen, dieser verharmlosende Umgang mit Hasskriminalität gegen Pädophile macht mir Angst. Es zeigt, wie sehr Gewalt gegen (vermeintlich) Pädophile schon normalisiert und in der Mitte der Gesellschaft akzeptiert ist. In einer Studie aus 2014 gaben zwischen 14 und 28 % der Befragten an, dass Pädophile besser tot sein sollten, und seitdem ist die gesellschaftliche Brutalität gegenüber Pädophilen gefühlt nur schlimmer geworden. Heute wird in verschiedenen, teils rechtsextremen Gruppen offen zum Mord an Pädophilen aufgerufen und bei einigen dieser gewaltbereiten Menschen ganze Waffenarsenale gefunden, während die mediale Berichterstattung diese Gewalt zumindest indirekt legitimiert.
Man könnte vielleicht einwenden, ich müsse mir keine Sorgen machen, da es diesen Gruppen ja nicht wirklich um Pädophile geht, sondern um (vermeintliche) potenzielle Straftäter. Aber stimmt das wirklich? Alle „Pädojäger“-Gruppen scheinen den Unterschied zwischen Pädophilen und Straftätern entweder nicht zu kennen, oder sie kennen ihn und tragen dennoch einen starken Hass gegen Pädophile in sich. Es ist naiv zu glauben, alle „Pädojäger“-Gruppen würden tatsächlich Pädophile in Ruhe lassen, weil es ihnen nur um Täter gehe.
Wenn also Dutzende Gruppen aus dem Boden sprießen, die unverhohlen Jagd auf Pädophile machen, wenn Menschen Gewalttaten feiern und Medien plötzlich das Vokabular fehlt, Gewalt und Hasskriminalität als solche zu bezeichnen, solange es angeblich gegen Pädophile geht, stört dies mein Urvertrauen in die Gesellschaft. Damit meine ich das Urvertrauen, dass Gewalt und Hasskriminalität vielleicht nicht immer verhindert werden kann, aber zumindest mehrheitlich verurteilt wird, und man als Mitglied der Gesellschaft vor gewalttätigen Übergriffen so weit wie möglich geschützt wird. Das Problem ist auch dass wir als Pädophile weitestgehend isoliert leben. Es gibt keine pädophilen Vereine, die eine physische Präsenz haben, keine pädophilen Clubs oder Bars, keine pädophilen Demonstrationen oder Festivals, die das Erleben eines physischen Kollektivs möglich machen würden, das eine Chance hätte, sich auch gegen äußere Gewalt zu behaupten. Stattdessen leben wir auf unseren eigenen abgeschotteten Inseln, die nur locker über die Datenleitungen des Internets verbunden sind (wenn überhaupt). Wir sind darauf angewiesen, dass Medienschaffende von sich aus sich erbarmen, nach einem Hinweis die schlimmsten Verunglimpfungen gegen Pädophile aus einem Medienbeitrag zu entfernen, was meist erst Tage geschieht, nachdem die meisten den Beitrag eh schon konsumiert haben. Unser einziger Schutz vor Hasskriminalität ist, zu hoffen, dass gewaltbereite Akteure sich nicht für uns interessieren, oder nicht herausfinden können, wer wir sind.
Durch den Trend der „Pädojäger“ und ihrer Verharmlosung wird mir vor allem bewusst, wie verdammt vulnerabel wir eigentlich sind.
Noch heute lebt die Sendung heute in Form eines Internet-Memes weiter. ↩
Im Jahre 2010, als sie in den USA schon lange nicht mehr lief, strahlte RTL II einen kurzlebigen Ableger im deutschen Fernsehen mit dem Namen „Tatort Internet - Schützt endlich unter unsere Kinder“ aus, unter der Schirmherrschaft unter anderem von Julia von Weiler vom Kinderschutzverein Innocence in Danger. Auch dort gab es kurzzeitig Befürchtungen um einen der überführten Männer, der nach Ausstrahlung „seiner“ Folge für mehrere Tage verschwunden und als vermisst gemeldet worden. Der Gedanke, dass er sich das Leben genommen haben könnte war eine Weile durchaus realistisch, am Ende ist er aber wieder unverletzt aufgefunden worden. ↩
Zum Teil liegt das vermutlich daran, dass die erwachsenen Lockvögel im besten Falle noch halbwegs glaubhaft als Jugendliche, aber kaum mehr als Kinder durchgehen können, und zum Teil daran, die Menge der potenziellen Opfer möglichst groß zu halten. ↩
Clara Stockmann, ehemalige Pressesprecherin von Kein Täter Werden, hat das 2021 noch deutlich besser hingekriegt ↩
Der Vollständigkeit halber soll gesagt sein, dass an Beiers Aussage natürlich nichts dran ist. Beier, der höchstens Pädophile kennt, die in Therapie gehen, aber unmöglich die kennen kann, die sich nicht an Kein Täter Werden wenden, ist gar nicht in der Lage etwas über das Verhalten von Pädophilen zu sagen, die nicht in Therapie sind und einfach davon auszugehen, dass sich die Mehrheit nicht kontrollieren kann und kriminell wird ist erschreckend stigmatisierend. Andersherum gibt es bis heute keine unabhängige Evaluation, die bestätigt, dass Kein Täter Werden überhaupt etwas zur Prävention beiträgt während kritische Stimmen aus der Wissenschaft sogar die Frage aufwerfen, ob Kein Täter Werden nicht eher schädlich als nützlich sein kann. ↩