2013 war kein gutes Jahr für die Partei der Grünen. Mitten im Bundestagswahlkampf kamen Passagen wieder an die Öffentlichkeit, die Daniel Cohn-Bendit, einer der prominentesten Vertreter der Partei, vor Jahrzehnten in seiner Autobiografie Der große Basar geschrieben hatte. Dort beschrieb Cohn-Bendit, der vor seiner Zeit als Politiker in einem Kindergarten als Erzieher gearbeitet hatte, dass sich ihm immer wieder Kinder sexuell genähert hätten: „Mein ständiger Flirt mit den Kindern nahm erotische Züge an. […] Es ist mir mehrmals passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln.“ Cohn-Bendit tat dies später als Fiktion und „dumme Provokation“ ab, dennoch wurde damit losgetreten, was heute unter dem unglücklichen Namen Pädophilie-Debatte bei den Grünen bekannt ist. Investigative Journalist:innen schauten sich die Geschichte der Partei an und stießen in der Gründungszeit auf zahlreiche Texte und Debatten, in denen von Teilen der Partei die Abschaffung des Schutzalters gefordert wurde. Für ihre politischen Gegner war dies gefundenes Fressen (und ist es bis heute), wurde prompt im Wahlkampf instrumentalisiert und wird bis heute vor allem von den konservativen und rechten Parteien als Argument gegen die Grünen verwendet.
Medial fand die Partei sich jedenfalls kurz vor der wichtigen Wahl in einem GAU wieder. Nach anfänglichem Zögern entschloss man sich für die Flucht nach vorne und beauftragte das Göttinger für Demokratieforschung mit der Aufarbeitung des Einflusses von Pro-C Aktivistengruppen innerhalb der Geschichte der Grünen. Zwei Jahre später wird der Abschlussbericht unter dem Titel Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte veröffentlicht, ein 300 Seiten langes Dokument, in dem neun Aufsätze von insgesamt elf Wissenschaftler:innen gesammelt sind.
Fangen wir mit dem Problematischen an. Arbeiten, die sich mit der historischen Aufarbeitung von Pro-C Forderungen und Aktivist:innen (ja, es gab da durchaus auch einige Frauen) beschäftigen, sind leider fast immer stigmatisierend gegenüber Pädophilen. Beim Lesen entsteht oft der Eindruck, als verstehen sich die Autor:innen als Repräsentanten einer endlich aufgeklärten Gesellschaft, die nun verstanden hat wie gefährlich und schlecht Pädophilie ist, und jetzt nachvollziehen will, wie es sein konnte, dass es früher Menschen gab, die Pädophilie nicht als absolut inakzeptabel gesehen haben. Wie so oft wird in dem Kontext also nicht die Forderung nach der Legalisierung von Sex mit Kindern problematisiert, sondern Pädophilie an sich.
Auch der vorliegende Band fällt in diese Falle. So werden zum Beispiel Pro-C Haltungen als „pädophile Forderungen“ (S. 258) bezeichnet, und damit allen Pädophilen pauschal unterstellt, das Schutzalter abschaffen zu wollen. Ebenso werden Organisationen an den Pranger gestellt, die als „Pädophilie-Befürworter“ (S. 232) gesehen oder denen „Empathie […] für Pädophile“ vorgeworfen wird, die als schwer nachvollziehbar bezeichnet wird (S. 8). Durch diese Formulierungen trägt die Publikation dazu bei, Sympathie und Mitgefühl für pädophile Menschen oder auch einfach nur, ihnen zuzuhören, pauschal zu problematisieren, und zwar unabhängig von persönlicher Ideologie oder Verhalten. Die Haltung, es sei inakzeptabel oder sogar gefährlich, Menschen überhaupt zuzuhören, die zu einer Minderheit gehören, schlicht aufgrund ihrer Mitgliedschaft in dieser Minderheit ist eine Form von testimonialer Ungerechtigkeit, von der man in dem Band sehr viel finden kann. Dass es auch Anti-C Pädophile gibt, wird im gesamten Band nicht mit einem Wort erwähnt, obwohl man das zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung (11 Jahre nach Gründung der kurzlebigen Anti-C Selbsthilfegruppe Verantwortung für Kinder, 10 Jahre nach Öffnung des ersten Standorts von Kein Täter Werden, 9 Jahre nach Gründung der Webseite Schicksal und Herausforderung und 3 Jahre nach Start des Anti-C Online-Forums Virtuous Pedophiles) durchaus hätte wissen können.
Leider hören die Probleme in Bezug auf Stigmatisierung da nicht auf. Anzuerkennen ist zwar, dass im Einleitungstext von Stephan Klecha und Alexander Hensel schon auf Seite 11 auf die Differenzierung zwischen Pädophilie und Straftaten hingewiesen wird: „von Pädophilie zu unterscheiden ist dagegen der Begriff des sexuellen Missbrauchs“, heißt es da, und es wird betont, dass „viele Pädophile nie in ihrem Leben strafrechtlich oder klinisch in Erscheinung treten“. Wie so oft wurde diese Differenzierung aber scheinbar unmittelbar, nachdem sie aufgeschrieben wurde, wieder vergessen. Anders lässt es sich kaum erklären, dass auf Seite 149 von einer „Entkriminalisierung der Pädophilie“ geschrieben wird, und auf Seiten 9, 15, 148, 228 und 235 insgesamt fünfmal von einer „Legalisierung von Pädophilie“ die Rede ist, womit Pädophilie wieder grundsätzlich als eine Straftat bezeichnet wird. Dies offenbart eine fahrlässige Gleichgültigkeit der Autor:innen, für die es offenbar überhaupt keine Priorität war, fair und nicht-stigmatisierend über Pädophilie zu schreiben oder auch nur ihre eigenen Definitionen, die Klecha und Hensel selber als „für das Verständnis des Themenkomplexes essentiell“ bezeichnen, konsequent anzuwenden – für eine wissenschaftliche Arbeit eigentlich ein No-Go.
Man muss bereit sein, über diese stigmatisierenden und diskriminierende Aspekte hinwegzublicken, um einen Mehrwert aus der Lektüre dieses Bandes ziehen zu können – und ich kann jeden verstehen, der sich das nicht antun möchte. Es kann sich aber durchaus lohnen. Die Aufsätze darin beschränken sich nicht nur auf eine Betrachtung der Grünen, sondern ganz grundsätzlich mit der Geschichte der Pro-C-Bewegungen in Deutschland (und darüber hinaus). Daher auch der Untertitel: Eine bundesdeutsche Geschichte. Es wird schnell klar, warum die Wissenschaftler so vorgegangen sind. Die Strömungen innerhalb der Grünen, die sich für die Abschaffung des Schutzalters eingesetzt haben, waren keineswegs ein isoliertes Phänomen, sondern die Speerspitze einer größeren Bewegung und einer gesamtgesellschaftlichen Debatte, die über Jahrzehnte geführt wurde. Das berühmte Arbeitspapier der Grünen in NRW von 1985, in dem die Aufhebung des Schutzalters offen gefordert wurde, war keine plötzlich auftretende Anomalie, sondern der logische Höhepunkt einer langen Entwicklung, die tief mit der deutschen Geschichte verzahnt ist.
Diese Entwicklung wird in den Aufsätzen sehr ausführlich beschrieben. Große Teile des Bandes dürften dabei nur für Menschen interessant sein, die sich wirklich tief in das Thema einarbeiten wollen. So besteht ein zentrales Kapitel, das die einzelnen organisatorischen Verflechtungen und die Debatten zwischen Pro-C-Aktivist:innen und den Grünen beleuchtet im Wesentlichen aus einer langen Aneinanderreihung von Ereignissen, die einzeln in großen Details nacherzählt werden. Als Nachschlagwerk sehr gehaltvoll, als Bettlektüre eher langweilig.
Trotzdem enthält der Forschungsband auch einige spannende, interessante und oft überraschende Fakten. Das für mich mit Abstand spannendste Kapitel trägt den Titel „Von »Knabenliebhabern« und »Power-Pädos«“ und wurde von Alexander Hensel, Tobias Neef und Robert Pausch verfasst. Praktischerweise ist genau dieses Kapitel online kostenlos abrufbar. Bei dem Aufsatz handelt es sich um eine umfassende Beschreibung der Pro-C Bewegung in Westdeutschland, mit ihren durchaus zahlreichen Gruppen, Fürsprecher:innen und sehr unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen. Dabei werden teils sehr skurrile Begebenheiten erzählt, die heute weitestgehend vergessen sind. Jeder (der sich mit dem Thema beschäftigt) kennt wohl den Namen Helmut Kentler, aber wem sagt zum Beispiel Wilhart Schlegel noch etwas? Dabei war Schlegel in den 50ern und 60ern einer der ersten und populärsten Sexualwissenschaftler, der einiges an Ansehen genoss. Seine große Hypothese war, dass körperliche Merkmale etwas über den Charakter und die sexuellen Eigenschaften eines Menschen verraten würden. So vermaß er tausende Hand- und Beckenknochen von jugendlichen Jungen und kam anhand der Messergebnisse zu dem Schluss, dass jeder zweite Heranwachsende charakterlich von homosexuellen Kontakten zu erwachsenen Männern profitieren würde. Ein durchaus sehr angenehmes Ergebnis für Männer, die sexuelle Kontakte zu minderjährigen Jungs suchten, und mit denen Schlegel in regen Kontakt stand.
Ein paar Jahrzehnte später formte sich die Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie (DSAP), eine Art Zentralorgan für Pro-Cs in Deutschland. Die Gründungsgeschichte und die Aktivitäten der DSAP werden in dem Aufsatz ebenfalls ausführlich dargestellt. Dabei ist es aus heutiger Sicht schwer vorzustellen, wie viel Macht und Einfluss diese Organisation zeitweise innerhalb der BRD hatte. Bereits 1979 wurde die DSAP als gemeinnütziger eingetragener Verein anerkannt und hatte beste Verbindungen in die Politik. Zu den Mitgliedern gehörte neben unter anderem Helmut Kentler auch die FDP-Politikerin Dagmar Döring, es gab gute Kontakte zur Schwulenszene, gemeinsame Seminare mit der Humanistischen Union und Verbindungen zur Alternativen Liste. Auf einer politischen Veranstaltung wurde dem Verein 1980 von Vertretern der FDP sogar eine mögliche Abschaffung des Schutzalters in Aussicht gestellt, und eine Zeit lang schien das Ziel nicht so unrealistisch, wie man heute annehmen könnte. Gescheitert ist der Verein letzten Endes an inneren Streitigkeiten, so löste er sich 1983 in mehrere Splitterorganisationen auf, von denen heute nur noch die Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität existiert und keine mehr das gleiche Maß an politiscchen Einfluss erreichen konnte. Spannend ist dabei, dass einige ehemalige Pro-C-Aktivist:innen aus der DSAP ihre Irrwege durchaus erkannten, nach deren Niedergang ihre eigenen Haltungen kritisch reflektierten und somit das vielleicht erste dokumentierte Auftreten von Anti-C Pädophilen in der Geschichte bildeten. So wird in dem Aufsatz ein Aktivist aus einer alten Zeitschrift wie folgt zitiert:
Um Legitimationsprobleme abzuwehren, haben wir den Jüngeren zum gleichberechtigten Partner erklärt. So brauchten wir uns über das mit dem Altersunterschied gegebene strukturelle Gefälle keine Gedanken zu machen. […] Mit der Forderung nach Gleichberechtigung und gleichberechtigtem Sex haben wir uns gewissermaßen sogar das Wasser abgegraben, weil man uns an diesem Anspruch misst.
Dieses Zitat zeigt, wie ich finde, sehr gut, warum sich die Lektüre zumindest dieses Aufsatzes von Hensel, Neef und Pausch für Pädophile durchaus lohnt. Die gesellschaftliche Situation, in der wir heute leben, ist im Wesentlichen auch ein Resultat der Pro-C Bewegung. Dass Pädophile heute pauschal marginalisiert, als gefährlich erklärt und zum Schweigen gebracht werden, ist wesentlich die Folge von den Debatten um die Legalisierung von Sex mit Kindern, die über Jahrzehnte geführt wurden. Die daraus resultierende Ablehnung gegen Pädophile richtet sich in erster Linie eigentlich gegen Pro-C-Forderungen, sie trifft aber Anti-Cs mit gleicher Härte, da gesellschaftlich kaum zwischen Pro-C und Anti-C differenziert wird. Wir werden auch heute noch an diesem Anspruch und den Pro-C Forderungen gemessen. Die Entwicklungen der letzten Jahre und die allgemeine Verschlechterung der Lebenssituation pädophiler Menschen lässt sich am besten nicht als temporärer „Unfall“ verstehen, sondern ist eigentlich nur die Fortsetzung einer Entwicklung, die spätestens in den 80ern ihren Anfang genommen hat und Pädophilen unabhängig von ihren Überzeugungen und Handlungen immer mehr die Luft zum Atmen nimmt. Im Gesamtbild haben sich die gesellschaftlichen Ansichten lediglich von einem Extrem, der unkritischen Übernahme von Pro-C Ansichten zum anderen Extrem bewegt, dem undifferenzierten Verurteilen von allem, was mit Pädophilie auch nur entfernt zu tun hat. Ob wir es mögen oder nicht, die Geschichte der Pädophilenbewegungen ist zum Großteil eine Geschichte der Pro-C Bewegungen, und uns davon zu distanzieren reicht leider nicht aus, um von den historischen Implikationen dieser Feststellung betroffen zu werden.
Fazit: wenn man über die stigmatisierenden und teils unwissenschaftlichen Darstellungen in Bezug auf Pädophilie hinwegsehen kann, findet man in dem Buch eine stellenweise durchaus spannende Aufarbeitung der Pro-C-Bewegung, die sich nicht nur auf die Debatten bei den Grünen beschränkt, sondern gesamtgesellschaftliche Bewegungen unter die Lupe nimmt und dabei viel aus heutiger Sicht Unfassbares aufarbeitet. Für Pädophile empfiehlt sich in jedem Fall die Lektüre des Kapitels „Von »Knabenliebhabern« und »Power-Pädos«“, das einen komprimierten Überblick über die eigene Geschichte vermittelt. Schön wäre es dennoch, wenn zukünftige Aufarbeitungsbemühungen endlich einmal sauber zwischen Pädophilie, Missbrauch und Pro-C-Ideologien differenzieren würden.